Mary Lyschinska (1849-1937)Frauen in der Geschichte des Kindergartens

Manfred Berger

Besonderen Einfluss übte Mary Lyschinska auf die Kindergartenbewegung in Großbritannien aus. Durch zahlreiche Vorträge und Publikationen steigerte sie dort den Bekanntheitsgrad der Institution Kindergarten. Den Beruf der Kindergärtnerin, den seinerzeit insbesondere bürgerliche Frauen ergriffen, interpretierte sie ganz im Sinne Friedrich Fröbels und seiner Idee der "professionellen Mutterschaft":

"Das Eigenartige der Frauennatur sah Froebel gerade in der angeborenen Befähigung, in das Wesen des Kindes einzudringen, schon seine ersten, schwachen Lebensäusserungen zu pflegen und zu entwickeln. Diese Befähigung wollte er ausbilden, den mütterlichen Instinkt leiten, die liebende Mutter zur verständnisvollen Erzieherin ihres Kindes machen, damit aus dem ungleichmässigen Naturtriebe konsequentes Handeln sich entwickele, erleuchtet durch die Kenntnis des menschlichen Wesens und insbesondere durch liebevolles Verständnis kindlichen Werdens" (Lyschinska 1902, S. 130).

Ihre Kindergärtnerinnenausbildung absolvierte Mary Lyschinska in Deutschland und zwar 1877/78 am renommierten Berliner "Pestalozzi-Fröbel-Haus", das von Henriette Schrader-Breymann gegründet und geleitet wurde. Einer besonderen Würdigung bedarf ihr umfangreiches, zweibändiges "Memoirenwerk" über Henriette Schrader-Breymann, ihrer mütterlichen Freundin, das "durch ein reiches Brief- und Tagebuchmaterial ein ungemein lebendiges und eindrucksvolles Bild dieses Frauenlebens gibt" (Hoffmann o. J., S. 5). Damit hatte sie als erste die Entstehung und Geschichte des noch heute existierenden "Pestalozzi-Fröbel-Hauses" sowie die pädagogische Konzeption Schrader-Breymanns, die über Jahrzehnte hinweg Vorbildfunktion hatte, festgehalten. Über Henriette Schrader-Breymanns Wirken und pädagogische Konzeption vermerkte Mary Lyschinska an anderer Stelle:

"Der Schwerpunkt von Henriette Schraders Wirksamkeit liegt auf dem Gebiete der ausübenden Erziehung und des Unterrichtens; ihre Schöpfungen waren Menschen, ihre Schülerinnen, welche in den verschiedensten Stellungen, im öffentlichen, wie im Privatleben, sich ihrer Geisteskindschaft dankbar bewusst sind ... Sie setzte an, wo Froebel sein Werk gelassen; doch Kindergarten, Elementarklassen und Seminar (des "Pestalozzi-Fröbel-Hauses"; M.B.) sind in ihren Händen Neuschöpfungen geworden, fest ruhend auf Froebelschen Grundsätzen, aber zugleich in vollen Einklang gesetzt mit der neuen pädagogischen Wissenschaft und den modernen sozialen Anforderungen. Bei Henriette Schrader war der Ausspruch: Bei dem kleinen Kind 'vorwiegende Pflege des Gemütslebens und des Willens' kein sentimentaler Wunsch, sondern der Ausgangspunkt für eine neue Organisationsform und eine neue Beschäftigungsweise der Kinder im Erziehungshause. Hierbei citierte sie Pestalozzi, den sie als grossen Vorgänger Fröbels auf das Höchste verehrte, gern als Quelle ihres Schaffens ... Pestalozzis Einfluss auf Henriette Schrader hat besonders nach zwei Richtungen gewirkt: 1) Sie erfasste die häuslichen Verhältnisse, die Stoffe und Prozesse des Haushalts als Material für die leiblich-geistige Erziehung, des werdenden Menschen und hat damit den Gedanken Pestalozzis, der heilbringenden 'Wohnstubenkraft', einen modernen Ausdruck gegeben. Sie wollte die Erziehung von Anfang an auf die Einheit von körperlicher und geistiger Pflege aufbauen. 2) Pestalozzis grossartige Auffassung der Frau als Erziehungsfaktor im sozialen Leben, (wie er sie symbolisch in seiner 'Gertrud' darstellt,) hat Henriette Schrader ebenfalls zu schöpferischer Arbeit angeregt. Unter seinem Einfluss hat sie den Volkskindergarten zu einem Centrum wichtiger socialer Hilfsarbeit, zu einem natürlichen Mittelpunkt des Verkehrs zwischen den verschiedenen Ständen erhoben. Den bekannten Froebelschen Beschäftigungen weist sie einen kleineren Raum an ... und auf die logische Reihenfolge der Übungen im Falten, Flechten, Bauen u.s.w. legt sie weit weniger Gewicht im Kindergarten, als in den unteren Schulklassen. Als neues Bildungsmittel fügt sie die Beschäftigung mit den im Haushalt und in der Aussenwelt vorhandenen Gegenständen und Geschöpfen hinzu: die Teilnahme an der Fürsorge der Ordnung und Reinhaltung, die Pflege von Pflanzen und Tieren, Spaziergänge in der Natur. Die Wiedergabe solcher Erlebnisse in Wort und in bildlicher Gestalt, (wenn auch noch so unbeholfen), übt das Darstellungstalent. Skeptisch steht Henriette Schrader der Behauptung gegenüber, die Froebelschen 'Schönheitsformen' regen die Phantasie des Kindes an und seien die primitiven Äusserungen künstlerischen Schaffens" (Lyschinska 1902, S. 134 ff.).

Mary Josephine Lyschinski (die später das i durch ein a ersetzte) wurde am 11. November (laut Sterbeurkunde) 1849 oder (nach eigenen Angaben) 1850 in Edinburgh geboren. Ihr Vater, Adam Lyschinski (aus einem verarmten polnischen Adelsgeschlecht stammend), kam in den 30er Jahren als politischer Flüchtling aus Russisch-Polen nach Schottland. Er studierte Medizin und baute sich in Edinburgh eine gut gehende Praxis auf. Mary's Mutter, Josephine Lyschinski, war eine musikalisch hochbegabte Frau, die mit bedeutenden Musikern in Verbindung stand. Kein geringerer als Frèdèrik Copin verkehrte im Hause Lyschinski.

Um Mary eine gute Bildung zu ermöglichen, gaben die Eltern ihre Tochter in das von Henriette Breymann "geschaffene Schulheim im Dorfe Watzum, aus dem sich später das Breymannsche Institut, Haus 'Neu-Watzum', vor den Toren Wolfenbüttels entwickelte" (Breymann 1938, S. 21 f). Mary Lyschinska erinnerte sich:

"So trat ich im Jahre 1861 als 11jähriges Mädchen an der Hand meines Vaters auf den freundlichen, grünen Pfarrhof zu Watzum ... Ich habe in der Tat nie wieder ein Haus gesehen, wo fremde Kinder so aufgenommen und so vollständig mit dem Familienleben umgeben, ja verwoben wurden, wie in diesem Pfarrhause, so daß ich in meinem kindlichen Egoismus und meiner Unerfahrenheit diese Behandlung lange als selbstverständlich beanspruchte" (zit. n. Berger 1999, S. 83).

Nach ihrer Ausbildung am "Pestalozzi-Fröbel-Haus" übersiedelte sie nach London, "um Lehrer nach den Methoden Fröbels auszubilden" (Allen 1994, S. 23). Bis 1899 wirkte Mary Lyschinska in der Hauptstadt des englischen Königreiches, entsprechend ihrem großen Vorbild Henriette Schrader-Breymann. Wie diese versuchte sie die Gedanken Pestalozzis und Fröbels miteinander zu verbinden. Sie hob stets in Veröffentlichungen und ungezählten Vorträgen die Bedeutung des kindlichen Spiels, "das den Kleinen ein unberührtes Heiligtum" sein sollte, sowie die "heilbringende Wohnstubenkraft des Kindergartens" (Berger 1999, S. 85) hervor.

Nach Henriette Schrader-Breymanns Tod (25. August 1899 in Berlin) führte Mary Lyschinska dem verwitweten Ehemann den Haushalt. Nebenbei unterrichtete sie noch am "Pestalozzi-Fröbel-Haus". 1913, nach dem Tod von Karl Schrader, übersiedelte sie nach Wolfenbüttel. Dort lebte Mary Lyschinska bis zu ihrem Tode am 30. Juli 1937 im Kreise der Familie Breymann.

Literatur

Allen, A. T.: Öffentliche und private Mutterschaft: die internationale Kindergartenbewegung 1840-1914, in: Jacobi, J. (Hrsg.): Frauen zwischen Familie und Schule. Professionalisierungsstrategien bürgerlicher Frauen im internationalen Vergleich, Köln 1994

Berger, M.: Henriette Schrader-Breymann. Leben und Wirken einer Pionierin der Mädchenbildung und des Kindergartens, Frankfurt 1999

Breymann, B.: Mary J. Lyschinska, in: Jahresbericht des Vereins ehemaliger Schülerinnen von Neu-Watzum für das Schuljahr 1937/38, Wolfenbüttel 1938

Hoffmann, E. (Hrsg.): Henriette Schrader-Breymann, Langensalza o. J.

Lyschinska, M. J.: Der Kindergarten, in: Lange, H./Bäumer, G. (Hrsg.): Handbuch der Frauenbewegung. III. Teil. Der Stand der Frauenbildung in den Kulturländern, Berlin 1902

dies.: Henriette Schrader-Breymann. Ihr Leben aus Briefen und Tagebüchern zusammengestellt und erläutert. In zwei Bänden mit 5 Bildern, Berlin 1922

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