Manfred Berger
Käthe Stern gehörte zu den deutschen Montessori-Pädagoginnen der ersten Stunde (vgl. Berger 2001, S. 88 ff.). Sie plädierte für eine Erweiterung des "Montessori-Systems", diesbezüglich u.a. die neuesten Erkenntnisse der Kinderpsychologie (z. B. von David und Rosa Katz, Hildegard Hetzer, Martha Muchow, Charlotte Bühler) als auch einzelne Aspekte der Fröbel-Pädagogik berücksichtigend. Ihre Theorie sowie pädagogischen Erkenntnisse wurden von den "ergebenen" Montessori-Anhänger/innen aufs heftigste angegriffen. Man warf ihr vor, "sie stünde in unausgesprochenem Gegensatz zur Gedankenwelt Frau Dr. Montessoris" (Leiser 2000, S. 12).
Beredtes Beispiel dafür ist die Kritik zu ihrem Vortrag "Zur Frage der schöpferischen Phantasie bei vorschulpflichtigen Kindern", den sie 1932 auf dem "Kongress für Kleinkind-Erziehung", initiiert vom "Bund Entschiedener Schulreformer", gehalten hatte. Darüber berichtete die Fröbel-Pädagogin Elfriede Strnad in einem ausführlichen Bericht: "Das 'Montessori-Fröbel-Problem', das uns viele Jahre hindurch beschäftigt hat, kam eigentlich nur in dem Vortrag von Käthe Stern zur Sprache... Ihre Ausführungen fanden in Fröbelkreisen lebhaftes Interesse. Im Montessori-Lager wurde ihr vorgeworfen, dass sie sich Schülerin Maria Montessoris nenne, obwohl sie sich sehr weit von ihr entfernt habe" (zit. n. Leiser 2000, S. 14).
In dem von ihr entwickelten Konzept, dem sog. "Erweiterten Montessori-System", hatte sich Käthe Stern eine Synthese aus der Pädagogik Friedrich Fröbels, der ihrer Ansicht nach viele seiner pädagogischen Überlegungen intuitiv richtig erahnte, und Maria Montessoris vorgestellt, "von beiden das Beste, beider Einseitigkeiten überwindend" (Konrad 1997, S. 237). Dazu konstatierte sie: "Wir mußten uns dort von Montessori trennen, wo die eigene psychologische Beobachtung oder die Ergebnisse der entwicklungspsychologischen Forschung zum Ausbau zwangen. Da nun die heutige Psychologie in vielen Punkten bestätigt, was Fröbel intuitiv erfaßt hatte, so ist allein dadurch unsere Verbindung zu Fröbel gegeben... Fröbel hat mit genialem Blick die charakteristischen Züge der kindlichen Entwicklung erkannt, und nur dort können wir ihm folgen, wo er anstatt 'nachzugehen und zu behüten' den Kindergarten ganz auf die primitive Denkart des Kindes zuschneidet und das 'Phantasiespiel' organisiert. Montessori wieder betont allzu sehr, daß die 'Phantasie' ein Übergangsstadium kennzeichnet, und um der nächst höheren Stufe willen - die in der Tat jedes Kind erklimmt - unterdrückt sie die primitiven Äußerungen. Dadurch droht tatsächlich die Gefahr, daß das Kind sich wie ein kleiner, zielstrebiger Erwachsener verhält, der ebenso wie er den Finger nicht mehr in den Mund steckt - auch zu 'groß' ist, um Schaffner zu spielen... In unserem Kinderhause sehen wir das Kind mit Fröbels Augen und freuen uns an seinem Spiel. Wir helfen ihm aber vorwärts mit Montessoris klar durchdachten 'Entfaltungsmitteln' und erleben seine Fortentwicklung zur Leistung" (Stern 1933, S. 94 ff.).
Käthe Stern erblickte am 6. Januar 1894 in Breslau als zweites von vier Kindern des Humanmediziners Oskar Brieger und dessen Ehefrau Hedwig, geb. Lion, das Licht der Welt. Die gut situierten und assimilierten jüdischen Eltern ließen ihre Tochter gleich nach der Geburt evangelisch-lutherisch taufen. Käthe besuchte eine Privatschule und anschließend ein Real-Gymnasium. Nachdem sie 1912 das Abitur abgelegt hatte, studierte die junge Frau Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität ihrer Heimatstadt: "So etwas kam damals selten vor - die bloße Vorstellung, daß eine Frau eine berufliche Laufbahn anstrebte, war immer noch suspekt. Doch die Erwartungen, die ihr Vater in sie setzte, hatten sie mit sanftem Druck dazu gebracht, diesen Weg einzuschlagen" (Stern 2007, S. 47).
1918 schloss Käthe Brieger das Studium mit der Promotion in Physik ab. Ihre Dissertation, die auf den Experimenten des Physikers und Nobelpreisträgers Max von Laue basierte, lautete: "Reflexionsmessungen im Ultrarotem. Ein Beispiel zur Konstitution der Kristallhydrate". Die wissenschaftliche Arbeit wurde in Auszügen unter dem Titel "Zum optischen Verhalten des Kristallwassers" in der Fachzeitschrift "In Annalen der Physik" (Brieger 1918, S. 287 ff.) veröffentlicht.
Doch die promovierte Physikerin entschloss sich gegen eine naturwissenschaftliche Laufbahn; viel lieber wollte sie pädagogisch tätig werden. Diesbezüglich schrieb sie an ihren späteren Ehemann: "Eine Arbeit zu haben, wo es sich nicht um Apparate sondern um Menschen handelt, noch dazu um Kinder, denen man helfen kann, wo es - wie ich hoffe - keine Klippen gibt, an denen meine Begabung in Gefahr kommt zu scheitern, wo es also auch kein Balancieren über Abgründe von Unkenntnissen gibt - eine solche Arbeit ist aber für mich keine Arbeit sondern nur Freude" (zit. n. Stern 2007, S. 56).
Im April 1919 heiratete Käthe Brieger den Humanmediziner Rudolf Stern. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: 1920 wurde Tochter Toni und fünf Jahre später Sohn Fritz geboren.
1921 übersiedelte die dreiköpfige Familie nach Berlin. Dort unterrichtete Käthe Stern drei- bis sechsjährige Kinder in "Rhythmischer Gymnastik", mit der sie sich kurz befasst hatte, und folgte ihrer Neigung zur Kindererziehung. Dabei stieß sie auf die Montessori-Pädagogik, die sich insbesondere durch die Initiative von Clara Grunwald in Deutschland zu etablieren begann (vgl. Berger 2000, S. 24 ff.; Grunwald 1995, S. 77 ff.). Vom 11. April bis zum 29. September 1923 absolvierte Käthe Stern in Berlin den ersten Montessori-Kurs auf deutschem Boden. Dieser wurde von Clara Grunwald sowie Elsa Ochs, beide ausgebildete Montessori-Pädagoginnen (vgl. Berger 2001, S. 88 ff.), geleitet.
Unmittelbar nach ihrer Ausbildung eröffnete die Montessori-Pädagogin mit der entsprechenden Genehmigung "ihren eigenen Montessori-Kindergarten in Berlin" (Stern 2007, S. 83): "Damit begann, was zu einer richtigen Pädagogenlaufbahn werden sollte; praktischer als Montessori, nicht so theoretisch wie eine akademische Psychologin, kam ihr... eine unschätzbare Gabe zugute: Kinder vertrauten ihr augenblicklich" (Stern 2007, S. 83).
Nur wenige Wochen leitete Käthe Stern die private vorschulische Einrichtung, denn die berufliche Karriere Rudolf Sterns führte die Familie zurück nach Breslau. In der Heimatstadt angekommen, gründete sie sogleich ein privates "Montessori-Kinderhaus", wo sie ihr "Erweitertes Montessori-System" entwickelte und erprobte. Spiel und Materialarbeit standen im Focus des neuen Konzepts, für das die Kinderhaus-Leiterin selbst Materialien entwickelte, mit denen die Kinder "frei" spielen und gestalten durften: "Die Frage heißt gar nicht Montessori-Material oder die üblichen Spielbetätigungen, sondern wir fragen: bedeutet es nicht einen Fortschritt, in das mit allen Spielen und freien Formungen erfüllte Leben des kleinen Kindes auch für eine kurze tägliche Zeitspanne das Montessori-Material einzubauen, das für seine Entwicklung wie für seine Freudigkeit einen wertvollen Beitrag zu liefern vermag?" (Stern 1932, S. 37).
Zusätzlich zu ihrer umfassenden Tätigkeit im Kinderhaus erteilte Käthe Stern Werkunterricht in den unteren Klassen verschiedener Volksschulen, "um eine reguläre Zulassung zum Lehramt zu erwerben" (Stern 2007, S. 88). Februar 1926 legte sie erfolgreich die Lehrerinnenprüfung ab.
Ende der zwanziger Jahre gründete sie noch einen Kinderklub sowie eine Nachmittagsgruppe für Schulkinder, deren Eltern berufstätig waren und sich deshalb wünschten, dass ihre Kinder dort unterrichtet wurden: "Auch hier lag der Schwerpunkt darauf, daß die Kinder selbst Dinge entdeckten, durch besondere Spiele, bei denen sie alle möglichen Fertigkeiten erlernten. Die Kinder sollten sich unter möglichst weitgehender Freiheit und selbsterlernter Disziplin entwickeln; die auf Rousseau und Pestalozzi zurückgehenden Grundsätze standen im Widerspruch zur herkömmlichen deutschen Methode des Auswendiglernens. Es gab nur eine Strafe von hintergründiger Strenge: die zeitweilige Verbannung in einen anderen Raum" (Stern 2007, S. 96).
Ferner engagierte sich die Montessori-Pädagogin in der "Deutschen Montessori-Gesellschaft e.V. ", die in Konkurrenz zu dem 1930 von Maria Montessori gegründeten "Verein Montessori-Pädagogik Deutschland e.V." stand. Außerdem verfasste sie, neben mehreren Beiträgen für pädagogisch-psychologische Fachzeitschriften, zwei umfangreiche Monographien: "Methodik der täglichen Kinderhauspraxis" (1932) und "Wille, Phantasie und Werkgestaltung in einem erweiterten Montessori-System" (1933). Bedingt durch die Machtergreifung der Nazis fanden letztgenannte Publikationen, in denen die Verfasserin ausführlich über ihre achtjährige Praxis im Breslauer "Montessori-Kinderhaus" berichtete und ihre gewonnen Erkenntnisse theoretisch reflektierte, keine Beachtung mehr, "wie sie auch das Kinderhaus aufgeben musste" (Wasmuth 2011, S. 333). Doch Käthe Stern blieb nicht untätig, sie arbeitete zuhause "an neuem Material für den Rechenunterricht" (Stern 2007, S. 125).
Ferner erhielt sie Einladungen für Vorträge, vor allem in das deutschsprachige Ausland. Beispielsweise referierte sie 1935 auf der Berner Oktobertagung der Kindergärtnerinnen über das Phantasiespiel der Kinder im "Erweiterten Montessori-System". Die Referentin untermalte die Ausführungen mit ca. 50 Lichtbildern aus dem Breslauer Kinderhaus. Ihr Fazit, die Montessori- und Fröbelpädagogik berücksichtigend: "Die Montessori-Zeichenschablonen, die vielfach abgelehnt werden, da anstelle von Häusern, Tieren, Menschen usw. geometrische Figuren gemalt werden, führen die Kinder zu Leistungen, die von schöpferischer Gestaltungskraft sprechen. Auch hier stehen wir auf dem Standpunkt, dass man den Trieb zur ornamentalen Gestaltung (Montessori-Kinderhaus) ebenso pflegen muss, wie das darstellende Schaffen (Fröbel-Kindergarten), mit dem das Kind uns seine Auffassung der es umgebenden Dinge offenbart... Es darf nicht wundernehmen, dass zwischen dem 'erweiterten Montessori-System' und dem neu gestalteten Fröbel-Kindergarten die krassen Unterschiede wegfallen" (zit. n. Baumann 2007, S. 167).
Nachdem das Leben in Deutschland immer unerträglicher wurde, emigrierte 1938 (noch im letzten Moment) die Familie Stern in die USA. In der neuen Heimat gab Käthe Stern Privatunterricht und arbeitete mit dem Gestaltpsychologen Max Wertheimer zusammen, der von ihrem Material für den Rechenunterricht fasziniert war und dem auch Albert Einstein attestierte, dass es "Hand und Fuß" habe (Stern 2007, S. 209). Schließlich verfasste sie, in Zusammenarbeit mit ihrer Tochter und Margaret Bassett, ihrer späteren Schwiegertochter, mehrere Bücher über ihre "neue Methode" des Rechenunterrichts, die in einem von ihr unterstützten privaten Kindergarten in Manhattan erprobt wurde und zur täglichen Praxis gehörte.
Über Käthe Sterns Verdienste für das amerikanische Bildungswesen schrieb ihr Sohn in seiner Autobiographie rückblickend: "Die Bücher und das Rechenmaterial meiner Mutter haben im amerikanischen Bildungswesen erheblichen Niederschlag gefunden. Rückblickend erkenne ich, daß die Methode, 'Structural Arithmetic' genannt, eines von vielen Beispielen dafür war, wie deutsche Ideen sich in den Vereinigten Staaten weiterentwickelt und positive Wirkung entfaltet haben, als eine Transplantation, in der Einsichten und Vorzüge aus beiden Ländern zusammenflossen. Der mit sehr bescheidenen Mitteln aufgebaute Kindergarten lockte eine Gruppe begeisterter Eltern an, die einige außergewöhnliche Kinder mitbrachten; ich erinnere mich noch an Johnny LaFrage und an Doon, die Tochter der Photographin Diana Arbus. Meine Mutter hatte eine neue Karriere in Amerika begonnen" (Stern 2007, S. 219 f.).
Am 8. Januar 1973 starb Käthe Stern in New York. Ihr Tod wurde in Deutschland von der pädagogischen Fachwelt nicht wahrgenommen - aus welchen Gründen auch immer. Unbeachtet blieb auch Jahrzehnte lang ihre Variation der reinen Montessori-Pädagogik, mit der sich zuerst Fanz-Michael Konrad (1997, S. 226 ff.) und in jüngster Zeit Helge Wasmuth (2011, S. 333 ff.) ausführlicher auseinandersetzten. Beide Wissenschaftler sind sich darin einig, dass Käthe Sterns "Erweiterte Montessori-System" "als Realisation der pädagogischen Position der liberalen... Montessoribewegung angesehen werden (kann; M. B.)" (Konrad 1997, S. 228).
Literatur
Baumann, H.: Hundert Jahre Montessori-Pädagogik 1907-2007. Eine Chronik der Montessori-Pädagogik in der Schweiz. Bern, Stuttgart, Wien 2007
Berger, M.: Clara Grunwald. Wegbereiterin der Montessori-Pädagogik. Frankfurt/Main 2000
Berger, M.: Jüdische Förderinnen der Pädagogik Maria Montessoris - Ein Beitrag zur Geschichte der Montessori-Pädagogik im deutschsprachigen Raum (Deutschland und Österreich) unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Werk vier ausgewählter Frauen jüdischer Herkunft. Das Kind 2001, Heft 29/30, S. 88 ff.
Brieger, K.: Zum optischen Verhalten des Kristallwassers. Annalen der Physik 1918, Heft 20, S. 287 ff.
Grunwald, C.: Bericht über die Montessori-Bewegung in Deutschland. In: Holtz, A. (Hrsg.): Das Kind ist der Mittelpunkt. Ulm, Münster 1995, S. 77 ff.
Konrad, F.-M.: Kindergarten oder Kinderhaus? Montessori-Rezeption und pädagogischer Diskurs in Deutschland bis 1939. Freiburg 1997
Leiser, M.: Käthe Stern - Ihr Leben und (unkonformes) Wirken für die Montessori-Pädagogik in Deutschland. München 2000 (unveröffentl. Diplomarbeit)
Stern, F.: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2007
Stern, K.: Beobachtungen des Spontanverhaltens vorschulpflichtiger Kinder über lange Zeitintervalle im Montessori-Kinderhause. Psychologische Forschung 1930, S. 79 ff.
Stern K.: Zur Frage der schöpferischen Phantasie bei vorschulpflichtigen Kindern. In: Oestreich, P. (Hrsg.): Das Kleinkind, seine Not und seine Erziehung. Jena 1932, S. 130 ff.
Stern, K.: Sprachlicher Egozentrismus und Gemeinschaftsgefühle im Kinderhaus. Erziehung zur Gegenwart 1932, S. 28 ff.
Stern, K.: Methodik der täglichen Kinderhauspraxis. Psychologische und pädagogische Erfahrungen mit einem erweiterten Montessori-System. Leipzig 1932
Stern, K.: Wille, Phantasie und Werkgestaltung in einem erweiterten Montessori-System. Leipzig 1933
Stern, K.: Children Discover Arithmetic. New York 1949
Troxel, R.D.: Stern, Catherine Brieger. In: Sicherman, B./Green C.H. (Hrsg.): Notable American Women. The Modern Period, Bd. 4. Radcliffe College 1980, S. 659 f.
Wasmuth, H.: Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen. Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland bis 1945. Bad Heilbrunn 2011