Manfred Berger
Zu den gänzlich vergessenen Frauen der Vorschulpädagogik gehört Hilde Nohl. Dabei war sie maßgebend und innovativ an der Entwicklung des Schulkindergartens beteiligt. Sie hatte lange Zeit als Schulkindergärtnerin in Berlin und nach dem Zweiten Weltkrieg in Göttingen gewirkt. Über die Entstehung des Schulkindergartens (Schkg.), "auch Vorklassen und Vorbereitungsklasse genannt", und seiner "Grundtypen" schrieb Hilde Nohl:
"Die ersten Schkg. wurden im Jahre 1907 von der Schulbehörde Berlin Charlottenburg eingerichtet. Vier Jahre später, im Jahre 1910, trat die erste Vorklasse des Pestalozzi-Fröbelhauses ins Leben. Beide Einrichtungen hatten dasselbe Ziel und arbeiteten an denselben Kindern; ihre Ausgestaltung und Handhabung aber waren verschieden. Die Charlottenburger Schulkindergärten wurden von Lehrerinnen geleitet, die in die Idee des Kindergartens Einblick bekommen hatten, die Vorklassen des Pestalozzi-Fröbelhauses wurden von Jugendleiterinnen geführt. Demzufolge können zwei Grundtypen unterschieden werden:
- Die schulmäßige Art, die in den zurückgestellten Kindern Schulkinder sieht, sie bewußt in den Schulrahmen eingliedern will und ausschließlich Klassenstunden erteilt.
- Die kindergartenmäßige Art, die versucht, durch Spiel und Arbeit in jedem Kind das nachzuholen und zu entwickeln, was in ihm ruht, einzeln, in kleineren oder größeren Gruppen, auch in der Gemeinschaft" (Nohl 1928, S. 137).
Ziel beider Grundtypen der Schulkindergartenarbeit ist jedoch das Gleiche. Dazu Hilde Nohl:
"Der Schkg. hat das Ziel die Kinder schulreif zu machen, ihnen das zu geben, was ein unter günstigen häuslichen Verhältnissen aufgewachsenes, normales sechsjähriges Kind beim Schuleintritt von selbst mitbringt. Demzufolge erwachsen seine Aufgaben aus den Mängeln und Schwächen der Kinder: bewußte körperliche Kräftigung, Beseitigung oder Reduzierung der organisch bedingten Gebrechen und Leiden, Erlernung des richtigen Sprechens, Förderung der geistigen und seelischen Kräfte" (Nohl 1928, S. 138).
1892 heiratete der seit zehn Jahren verwitwete Gymnasiallehrer und Altphilologe Hermann Nohl die sehr viel jüngere Elise Simon, "die ihm zu den drei Kindern aus erster Ehe (Herman, Johannes und Ella) noch die beiden Töchter Lotte und Hilde schenkte" (Blochmann 1969, S. 18). Hildes ältester Halbbruder war der bekannte Pädagoge Herman Nohl (1879-1960), der wie kein anderer seiner zeitgenössischen Fachkollegen die geisteswissenschaftliche Pädagogik, die moderne Schul- und Sozialpädagogik beeinflusst hatte. Er war es auch, der den "Namen Schulkindergarten in die pädagogische Literatur" (Zorell 1968, S. 57) einführte.
Hildegard Marie, von frühester Kindheit an Hilde gerufen, wurde am 31. Mai 1895 in Berlin geboren. Dort verlebte sie eine glückliche Kinder- und Jugendzeit. Neben der Pflege der Musik beschäftigte sich Hilde in ihrer Jugend mit Fragen der Literatur, Naturwissenschaften und Pädagogik, sicher dazu angeregt von ihrem Bruder Herman, zu dem sie zeitlebens ein inniges Verhältnis hatte. Nach der Absolvierung des Lyzeums und der Ausbildung zur Kindergärtnerin und Jugendleiterin übernahm sie die Leitung "eines Schulkindergartens in Berlin, dessen Arbeit bestimmt durch die Kindergartenpädagogik im Sinne Fröbels war. Die Kinder dieser Einrichtung wechselten nach deren Besuch entweder zur Normalschule oder zur Hilfsschule über. Auch für die letzteren, so betonte Hilde Nohl, sei der Besuch des Schulkindergartens von Nutzen, da ihnen nun ein zweimaliges Sitzenbleiben erspart bliebe und gleichzeitig die Normalschule von hemmenden Elementen befreit sei" (Brunner 1987, S. 29). 1925 veröffentlichte Hilde Nohl in der renommierten "Zeitschrift für Kinderforschung" einen ausführlichen Bericht über "Ziele und Wege des Schulkindergartens". Dieser wurde erneut Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts im Zuge der Diskussion um die Notwendigkeit von Schulkindergärten von ihrem Bruder in einem Sonderheft publiziert. Die Broschüre widmete Herman Nohl seiner Schwester, "die von frühauf bis heute unermüdlich für den Schulkindergarten gekämpft und gearbeitet hat" (Nohl, o. J., S. 5). Neben der unbestreitbar geistigen Förderung der Kinder, lag für Hilde Nohl einer der Hauptaufgaben des Schulkindergartens darin, "die Kinder nach jeder Richtung hin aufnahmefähig zu machen" (Nohl o. J., S. 40). Dabei legte sie besonderen Wert auf die Spielpflege als die fördernde Bildungsform:
"Die Kinder spielen was sie mögen, verschiedenartiges Spielzeug ihrem Alter und ihrer Neigung entsprechend steht ihnen zur Verfügung. Die Mädchen spielen in der Puppenecke, die Jungen mit Kaufladen oder Pferdestall. Hierdurch werden sie in die Verrichtung des täglichen Lebens eingeführt, z.B. lernen die Mädchen beim Anziehen der Puppen schleifen binden und Knöpfe zumachen. Daneben gibt die Leiterin den Kindern mannigfache Spiele und Beschäftigungen, die darauf angelegt sind, sie das im Spiel zu lehren und zu vertiefen, was sie sich in den Stunden erarbeitet haben: Farben, Formen und Zahlen. Die freie Wahlbeschäftigung läßt eine freiere Gruppierung der Kinder zu, kleine Spielgruppen entstehen, die Kinder zerstreuen sich in die verschiedenen Zimmer: während sich hier zwei Kinder in eine Ecke verzogen haben und gemeinsam ein Bilderbuch begucken, baut sich dort ein Kind einen bunten Stern. Andere scharen sich um ein Angelspiel: hier gilt es die roten Fische zu angeln und der Fischer ruft froh: 'Ich habe den roten Fisch'. Wieder andere spielen Farbdomino" (Nohl o. J., S. 41).
Während der Zeit der Nazi-Diktatur bemängelte Hilde Nohl den noch nicht verpflichtenden Besuch des Schulkindergartens und forderte seine Einordnung in den Schulaufbau. Ferner sollte der Schulkindergarten, ganz im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie, nur eine Einrichtung für "erbgesunde Kinder" sein:
"Wenn der Besuch des Schulkindergartens verpflichtend wäre, so würden ihm die von der Schule zurückgestellten schulpflichtigen Kinder ohne weitere Schwierigkeiten zugeführt. Der Schulkindergarten würde in festem Zusammenhang mit der betreffenden Volksschule als eine ihrer Klassen stehen... Die ungeklärte Lage des Schulkindergartens steht einer gedeihlichen Arbeit entgegen, weil keine Stelle für ihn ganz verantwortlich ist. Er bedarf also dringend der völligen Einordnung in den Schulaufbau, um das zu erreichen, was er seinem Ziele nach erreichen möchte: Schutz und Pflege dem erbgesunden, durch ungünstige Umwelt verkümmernden Kinde, Anleitung der unwissenden Eltern zur Hilfeleistung bei der Entwicklung der gehemmten Kinder" (Nohl 1935, S. 37).
Als sich 1944 die Bombenangriffe auf die Reichshauptstadt verstärkten und Hilde Nohls Wohnung in Schutt und Asche lag, übersiedelte sie zu ihrem Bruder Herman nach Göttingen. Nach 1945 bot ihr das Land Brandenburg die zentrale Leitung und den Ausbau von Schulkindergärten im Ministerium an. Hilde Nohl zog es aber vor in Göttingen zu bleiben. Dort übernahm sie im April 1946 die Leitung des städtischen Schulkindergartens an der "Pestalozzischule", dem sie bald eine sog. "Fröbelklasse" angliederte und in der sie selbst "unterrichtete".
In ihren Veröffentlichungen betonte Hilde Nohl stets die Notwendigkeit und Wichtigkeit der (Eltern-) Mütterberatung als wesentlichen Anteil am Gelingen der pädagogischen Arbeit des Schulkindergartens:
"Durch Hausbesuche, Mütterabende, gemeinsame Feste wird der enge Zusammenschluß zwischen Elternhaus und Schulkindergarten geknüpft, der doppelt wichtig ist, um die Eltern bereit zu machen, die im Schulkindergarten eingeschlagenen Erziehungswege am Nachmittag fortzuführen. Ich erwähne nur die Notwendigkeit, das Selbstvertrauen der Kinder nicht durch Mißachtung ihrer kleinen Sachen, die sie im Schulkindergarten gearbeitet haben und mit nach Haus nehmen, zu zerstören - oder unsere stotternden Kinder durch falsches Ermahnen in ihrer Verkrampfung immer wieder zurückzustoßen" (Nohl 1954, S. 110).
Ihre letzten Lebensjahre verlebte Hilde Nohl in einem Wohnstift. Sie starb im hohen Alter von 97 Jahren am 15. Dezember 1992 in Göttingen.
Literatur
Blochmann, E.: Herman Nohl in der pädagogischen Bewegung seiner Zeit. 1879-1960, Göttingen 1969
Brunner, S.: Der Schulkindergarten und seine Erziehungs- und Bildungsaufgaben in Vergangenheit und Gegenwart, Freising 1987 (unveröffentl. Diplomarbeit)
Klika, D.: Herman Nohl. Sein "Pädagogischer Bezug" in Theorie, Biographie und Handlungspraxis, Köln/ Weimar/ Wien 2000, S. 141 ff.
Nohl, H.: Ziele und Wege des Schulkindergartens, in: Zeitschrift für Kinderforschung 1925/H. 4
dies.: Aus der Arbeit an einem Berliner Schulkindergarten, in: Wegweiser für Schulverwaltung und Schulaufsicht, Langensalza 1927/H. 10
dies.: Der Schulkindergarten, in: Nohl, H./Pallat, L. (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik. Die Theorie der Schule und der Schulaufbau. Vierter Band, Langensalza 1928
dies.: Der Schulkindergarten in Berlin, in: Kindergarten 1935/H. 2
dies.: Ziele und Wege des Schulkindergartens, in: Nohl, H. (Hrsg.): Der Schulkindergarten. Sein Wesen und seine Arbeitsweise, Weinheim o. J.
Nohl, H. (Hrsg.): Der Schulkindergarten. Sein Wesen und seine Arbeitsweise, Weinheim o. J.
dies.: Der Schulkindergarten, in: Die Sammlung 1954/H. 2
Zorell, E.: Der Schulkindergarten, in: Brem, K. (Hrsg.): Pädagogische Psychologie der Bildungsinstitutionen. Bd. II Die Unterrichtsinstitutionen, München 1968