Manfred Berger
Henny Schumacher war seinerzeit eine der wenigen politisch aktiv agierenden Kindergartenpädagoginnen, wobei sie ihre Vorstellungen sozialdemokratischer Pädagogik und Politik nicht innerhalb der Partei publizierte, "sondern in den Organen des Bundes Entschiedener Schulreformer (u. a. in der Fachzeitschrift "Die Neue Erziehung"; M. B.), in dem viele sozialdemokratische Lehrer und Lehrerinnen organisiert waren, aber auch liberale und kommunistische Mitglieder hatte" (Hoffmann 1994, S. 81). Henny Schumachers pädagogisches Interesse galt insbesondere der "sozialen Verbesserung" des "Proletarierkindes" zu der ihrer Ansicht nach der Kindergarten einen wesentlichen Beitrag leisten könnte. Dabei betrachtete sie den Kindergarten als eine Institution für alle Kinder, egal welcher "Bevölkerungsschicht" sie angehören. Diesbezüglich dekretierte Henny Schumacher:
"Der Kindergarten ist die grundlegende Organisation jeder Gemeinschaftserziehung. Was im Säuglings- und Kriechalter in sozialer Beziehung geleistet werden kann, geht über die passive Eingewöhnung des Kindes in den engsten Menschenkreis, der für es sorgt und von dem es abhängig ist, nicht hinaus ... Im 3. Lebensjahr reift das Kleinkind über diesen Lebenskreis hinaus, es sehnt sich nach gleichaltrigen Spielgefährten, es überschreitet, bildlich gesprochen, die Schwelle des Elternhauses und wählt sich nun aktiv seine Freunde unter den kleinen und großen Menschen. Hier liegt auch eine der Aufgaben, die die proletarische Mutter heute nicht erfüllen kann: die reibungslose, psychologisch verständnisvolle Einfügung des Kindes in die Gemeinschaft. Weil dem so ist, gehört das Kind von dieser Zeit an in den Kindergarten. Es braucht zu seiner sittlichen Entwicklung die Rückstrahlung des eigenen Verhaltens der gleichaltrigen Kameraden. Es braucht den geistigen Verkehr, den ihm nur Gleichaltrige zu geben vermögen. Es erscheint mir sicher, daß Friedrich Fröbel, der Gründer des Kindergartens, seine Schöpfung allen Kindern zugedacht hat ... Fröbel spricht niemals davon, daß der Kindergarten nur eine Ergänzung der Elternerziehung bei besonders verwahrlosten oder verzärtelten Kindern bedeuten solle. Im Gegenteil: er betont, daß in allen Bevölkerungsschichten die Kleinkinder unter einer mangelhaften, nicht entwickelnden Erziehung zu leiden haben, und daß nur die Gründe dazu sehr verschiedenartig sind" (Schumacher 1929a, S. 47).
Zugleich setzte sich Henny Schumacher für eine "Kindergartenpflicht" und der Verstaatlichung aller vorschulischen Einrichtungen ein. Sie glaubte an den Sieg des "obligatorischen Kindergartens" in einem "sozialisierten Staatswesen". Dazu vermerkte die Pädagogin:
"So muß der obligatorische Kindergarten kommen, und er wird kommen. Allerdings vorerst nur als eine Verpflichtung der Gemeinden zur Einrichtung und Unterhaltung von Kindergärten. Wenn der Staat, auch der heutige bürgerlich-kapitalistische Staat, sich noch selbst bejaht, muß er zu dieser Maßnahme greifen, auch wenn soziale Gemeinschaftserziehung gegen sein Prinzip ist. Er muß; sonst fehlen ihm in einem Menschenalter die Menschen der Arbeit. Denn schließlich sind auch im bürgerlich-kapitalistischen Staat die Menschen zur Erhaltung der Staatsmaschine und Wirtschaftsbetriebe notwendig. Zu einer generellen Verpflichtung der Eltern zur Inanspruchnahme der Kindergärten werden wir dagegen erst in einem sozialisierten Staatswesen kommen können" (zit. n. Hoffmann 1994, S. 83).
Neben ihren sozialistisch/politischen Argumentationen griff Henny Schumacher auch in die Fröbel-Montessori-Diskussion der 1920er Jahre ein. Energisch wandte sie sich beispielsweise gegen das "Montessori-Material zum Schreib-Lese-Unterricht", das die Pädagogin "aus dem Kindergarten ausgeschaltet sehen" möchte. "In diesem Alter", so ihre Ansicht, "soll das Kind erleben und Vorstellungen sammeln, aber möglichst wenig abstrakt arbeiten" (Schumacher 1923, S. 33). Die seinerzeit viel propagierte Montessori-Fröbel-Synthese lehnte Henny Schumacher strikt ab:
"Wir wollen nicht Fröbel durch Montessori ablösen. Fröbel hat das Wesen des Kleinkindes tiefer geschaut als M. Montessori. Auf seinen Gedanken ist daher aufzubauen... Also: fort mit einer Fröbel-Montessori-Synthese, sondern: vertiefte, wissenschaftliche Forschungsarbeit und ein intuitives Einfühlen in das Wesen des Kindes" (Schumacher 1927, S. 852 f.).
Was die Montessori-Pädagogik betraf, war die Pädagogin leider nicht frei von Vorurteilen, wie nachstehender Textauszug verdeutlicht:
"Die Gedanken der Montessori haben bei uns in Deutschland besonders in den aufgeklärten intellektuellen Kreisen Eingang gefunden. In Berlin beteiligte sich an den verschiedenen Montessorischen Ausbildungskursen ein hoher Prozentsatz jüdischer Schülerinnen aus diesen Kreisen, wahrscheinlich angezogen durch den Rationalismus der Erziehungsmethode, der ihrer eigenen Weltanschauung konform lief" (Schumacher 1929b, S. 703).
Wusste die mehr der Fröbel-Pädagogik zugeneigte Henny Schumacher, dass "auf bemerkenswerter Weise dieselbe Art von Kritik ... Jahrzehnte früher seitens konservativer und kirchlicher Kreise an der Fröbelpädagogik laut geworden war" (Konrad 1997, S. 180).
Henriette Friederike Schumacher, von frühester Kindheit an Henny gerufen, wurde am 16. Dezember 1882 als Zweitälteste einer größeren Kinderschar des promovierten Gymnasialprofessors Franz Schumacher und seiner Ehefrau Karoline Johanna Maria (geb. Lehmann) in Köln geboren. Das aufgeweckte und selbstbewusste Mädchen besuchte in Düren, wohin die Familie 1891 übersiedelte, die "Höhere Katholische Mädchenschule". Nach einigen Jahren des "Haustochterdaseins" ging sie nach Berlin. Dort absolvierte sie von 1905 bis 1907 am renommierten "Pestalozzi-Fröbel Haus" die Kindergärtnerinnenausbildung. Anschließend übernahm sie die Leitung eines Hortes in Düsseldorf. Diese Tätigkeit gab Henny Schumacher jedoch bald auf, zumal es wegen ihrer "pädagogischen Großzügigkeit" zu unüberbrückbaren Schwierigkeiten mit der Administration kam. Dem folgte eine Lehrerinnenausbildung in Bonn und einjährige Lehrtätigkeit an einem "Lyzeum" in Bonn und später in Hersfeld. Ab dem Jahre 1912 lehrte sie, mit einer kurzen Unterbrechung, am Berliner "Pestalozzi-Fröbel Haus". Wegen "sozialistischer Umtriebe" (Berger 1995, S. 169) wurde sie 1924 entlassen. Lili Droescher, langjährige Leiterin der Berliner Bildungsinstitution, schrieb im Jahre 1934 mit Bezug zur Todesanzeige Henny Schumachers in der "Vereinszeitung des Pestalozzi-Fröbel Hauses" (Nr. 190, Dezember 1934, S. 34):
"Frau Schumacher war aus innerer Überzeugung zur Kämpferin für das sozialistische Erziehungsprogramm geworden, ohne Schonung ihres Arbeitskreises und ihrer versagenden Kräfte, und hatte sich infolgedessen von den geistigen Grundlagen des Pestalozzi Fröbel Hauses I entfernt" (zit. n. Raesfeldt 1999, S. 95).
Nach ihrem "Rauswurf", wie Henny Schumacher in einem Brief an ihre Schwester Lina Schumacher, Professorin für Hauswirtschaft, formulierte, übersiedelte sie wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit nach Riezlern im Kleinwalsertal und widmete sich fortan ganz ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Nach längerer schwerer Krankheit starb Henny Schumacher am 1. November 1934 im Krankenhaus von Oberstdorf (Allgäu). Die Einäscherung fand wenige Tage später in aller Stille in Ulm statt (vgl. Raesfeldt 1999, S. 75 ff.).
Literatur
Berger, M.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch. Frankfurt 1995
Hoffmann, H.: Sozialdemokratische und kommunistische Kindergartenpolitik und -pädagogik in Deutschland. Eine historische Untersuchung zur Theorie und Realpolitik der KPD, SED, und SPD im Bereich institutionalisierter Früherziehung, Bochum 1994
Konrad, F.-M.: Kindergarten oder Kinderhaus? Montessori-Rezeption und pädagogischer Diskurs in Deutschland bis 1939, Freiburg 1997
Raesfeldt, S. v.: Sozialistische Besterbungen innerhalb der deutschen Kindergartenpädagogik (1919-1933). Eine historische Analyse, München 1999 (unveröffentl. Magisterarbeit)
Schumacher, H.: Der Kindergarten, in: Oestreich, P. (Hrsg.): Bausteine zur neuen Schule, München 1923
dies.: Fröbel und Montessori, in: Die Neue Erziehung 1927, S. 848 ff.
dies.: Die proletarische Frau und ihre Erziehungsaufgabe, Berlin 1929a
dies.: Arbeiterschaft, Kindergarten und Kinderhaus, in: Die Neue Erziehung 1929b, S. 702 ff.