Manfred Berger
Als Experten für die Erforschung der Geschichte des Kindergartens und der Sozialarbeit sowie der anliegenden Bezugswissenschaften befragen wir Manfred Berger. Als Kindergärtner, Erzieher, Sozialarbeiter, Heilpädagoge, Erziehungswissenschaftler und Autor hat er sich in zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen der Geschichte des Kindergartens gewidmet. Weiterhin gründete er 1993 das Ida-Seele-Archiv zur Erforschung der Geschichte des Kindergartens.
Was sind Ihrer Meinung die wichtigsten Meilensteine in der Geschichte der Entwicklung Kindergartens? Könnten Sie hierfür einige ausgewählte Beispiele nennen?
Der erste Meilenstein ist die „Erfindung“ des Kindergartens durch Friedrich Fröbel, die ja kein Zufall war, sondern den Bedürfnissen der Zeit entsprach. Der öffentlichen Kleinkinderbetreuung, in Form des Kindergartens, wurde erstmals Sozialisations- und Bildungsfunktionen zugesprochen. Die vorangegangenen Betreuungsformen – Bewahranstalten, Kleinkinderschulen, Kinderasyle etc. –waren überwiegend Aufsichts- und Drillanstalten. Und so war der Kindergarten regelrecht eine pädagogische Revolution. Die Entdeckung der anthropologisch-pädagogischen Bedeutung des Spiels für die Entwicklung des Kindes ist Fröbels grundlegender Beitrag zur frühkindlichen Erziehung. Seine Ansichten wurden richtungsweisend für die Idee und Gestaltung des Kindergartens und seiner Spielpädagogik.
Der zweite Meilenstein: „Mutter-, Spiel- und Koselieder“. Mit seinem Familienbuch hatte Fröbel als erster Pädagoge eine Pädagogik der frühesten Kindheit entworfen und damit klar gemacht, wie wichtig und bedeutsam für das Kind vom ersten Tag an die seelische und geistige Zuwendung der Erwachsenen ist.
Einen weiteren Meilenstein setzte wiederum Friedrich Fröbel, indem er eine professionelle Ausbildung der Kindergärtnergärtnerinnen forderte. Im Jahre 1849 rief er in (seit 1907 Bad) Liebenstein die „Anstalt für allseitige Lebenseinigung durch entwickelnd-erziehende Menschenbildung“ ins Leben, die erste Ausbildungsstätte für Kleinkindpädagogik.
Der vierte Meilenstein steht in der Weimarer Republik. In dieser Zeit öffnete sich der Kindergarten für andere Konzeptionen: Montessori- und Waldorfkindergärten entstanden. Psychoanalytische Erkenntnisse sowie fröbelsche/montessorianische Verknüpfungen wurden in der Praxis umgesetzt.
Der fünfte Meilenstein: Mitte der 1960er Jahre. Die konservative Kleinkindpädagogik der Nachkriegszeit erhielt neuen Aufschwung. Der Kindergarten wurde wieder als bedeutsame Erziehungs- und Bildungsinstitution und nicht mehr als Not- und Bewahranstalt gesehen. 1970 wurden in der BRD die Kindergärten in den Gesamtbildungsplan aufgenommen und fachpolitisch als erste Stufe des Bildungswesens aufgewertet. Demgegenüber hatte der DDR-Kindergarten schon längst den Status einer Bildungseinrichtung. Im Zuge der Neuorientierung entstanden unterschiedliche pädagogische Konzepte, deren Vielfalt das heutige Kindergartenwesen prägt (Montessori, Waldorf, Situationsansatz, Reggio, Offene Arbeit Kindergarten, Wald-/Naturpädagogik etc.).
Wie hat sich durch die Begründung des Kindergartens durch Friedrich Fröbel die öffentliche Kleinkinderziehung bzw. Kleinpädagogik Ihrer Meinung nach verändert?
Den Kindergarten wie ihn Friedrich Fröbel begründete, gibt es in dieser Form nicht mehr, allein was das Alter der aufzunehmenden Kinder betrifft. Diesbezüglich erfolgte der gravierendste Einschnitt, wie ich meine, mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Frauen aus den neuen Bundesländern waren gewohnt, dass ihre Kinder in Krippen „gut“ aufgehoben waren. Infolge stellten auch die Mütter aus den alten Bundesländern sehr viel massivere Forderungen nach dem Ausbau von Krippenplätzen, auch weil für sie die eigene Erwerbstätigkeit neben der Kindererziehungsphase fester Bestandteil ihrer Lebensperspektive wurde. Und so wandelte sich der Kindergarten zur Kita. Allein schon dieses pädagogisch inhaltsleere Akronym deutet auf eine Veränderung der öffentlichen Kleinkindpädagogik im Sinne Friedrich Fröbels hin.
Wodurch hebt sich die Fröbel-Pädagogik Ihrer Meinung nach von anderen pädagogischen Konzepten ab?
Hebt sich die Fröbel-Pädagogik wirklich noch von anderen pädagogischen Konzepten ab? Welche Konzepte sind damit konkret gemeint? Montessori? Waldorf? Waldkindergarten? Situationsansatz? Ko-Konstruktive Ansatz?... M. E. sind die Unterschiede nicht mehr allzu gravierend. Alle in der BRD praktizierenden Konzepte basieren auf einem demokratischen Weltbild, für sie ist jedes Kind einmalig, eine individuelle Persönlichkeit, die zu achten und zu fördern ist. Alle anerkennen das Spiel als des Kindes ureigenste Lebensäußerung und Form des kindlichen Lernens. Alle Konzepte stellen das Kind in den Mittelpunkt ihrer pädagogischen Überlegungen. Alle Konzepte fördern die Eigenaktivität des Kindes, begreifen das Kind als aktives Individuum in der Gemeinschaft. Sie sehen im Kind den Akteur seiner Entwicklung und betrachten es als ein handelndes (schaffendes), als ein empfindendes (fühlendes) und erkennendes (denkendes) Wesen. Alle Konzepte greifen auf vielfältige Weise die kindliche Naturverbundenheit auf und gehen von einem ganzheitlichen Bildungsverständnis aus, bspw. durch aktive Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, mit Musik und Gesang. Was der ein oder anderen Konzeption fehlen mag, ist die tiefsinnige philosophische Basis, mit der der „Vater“ des Kindergartens seine Kleinkinderpädagogik untermauerte.
Nach Verbreitung der Montessori-Pädagogik geriet diese immer wieder ins „Kreuzfeuer der Kritik“, gerade hinsichtlich einer adäquaten „kleinkindpädagogischen Konzeption“ im Vergleich mit der Fröbelpädagogik, wie Sie im Artikel Geschichte des Kindergartens (2020) schreiben. Könnten Sie uns erläutern, warum es in dieser Diskussion ging?
In der Anfangszeit wirkte Montessoris medizinisch-pädagogische Sichtweise reduktionistisch, spielfeindlich und zu einseitig intellektualistisch. Durch Vergleiche der beiden Konzepte stellte man in den 1920er Jahren fest, dass das Montessori-Material eher die intellektuelle Entwicklung der Kinder förderte, nach der sie auch verlangten, während ihre emotionalen Bedürfnisse eher mit den Fröbelschen Spiel- und Beschäftigungsmaterialien befriedigt werden konnten. Dabei wurde allgemein übersehen, dass die italienische Medizinerin und Pädagogin durchaus Elemente der Fröbel-Pädagogik in ihre stark medizinisch-heilpädagogisch orientierte Konzeption aufgenommen hatte. Beispielsweise die Einbeziehung der Naturbegegnung und Gartenpflege, die „Arbeitserziehung“ mit ihren oft belächelten „Bastelarbeiten“, Elemente der rhythmisch-musikalischen Erziehung, als auch die innere und äußere Gestaltung des Kindergartens. Dieser Streit ist längst überholt, wie die heute bestehenden „Praxis-Mischungen“ in vielen vorschulischen Einrichtungen bezeugen. Übrigens, schon Käthe Stern unternahm in den 1920er Jahren den Versuch einer Synthese der Montessori- und Fröbelpädagogik, „von beiden das Beste, beider Einseitigkeiten überwindend“, wie sie resümierte.
Abschließend möchten wir Sie noch fragen, welche Anforderungen die Kita der Zukunft erfüllen sollte!
Wer kann schon in die Zukunft schauen und vor allem die Entwicklung eines so sensiblen Gebildes wie einer Erziehungs- und Bildungsinstitution, die der Kindergarten, die Kita, ist, voraussagen. Sicher wird die Vorschuleinrichtung eine familienunterstützende Institution zur Betreuung, Bildung und Erziehung der Jüngsten bleiben, zumal vermutlich der Funktionsverlust der Familie voranschreitet. Ferner wird die öffentliche Kleinkinderpädagogik fundamentale Lernprozesse und Lebenserfahrungen sichern, sich den rasanten Veränderungen der Zeit, technologischer, kultureller, gesellschaftlicher, ökonomischer Art, stellen. Er wird sicher eine unverzichtbare Sozialisation- und Bildungseinrichtung für all jene Menschen, die im Erziehungsprozess stehen, als Zuerziehende oder als Erziehende, bleiben. Er wird mehr denn je in Zukunft der sich rasch wandelnden Gesellschaft stellen und nach „neuen“ pädagogischen Konzepten „Ausschau“ halten müssen, nach frühpädagogischen Methoden, die um im Sinne von Mater Margarete Schörl zu sprechen, nicht „dem Zeitgeist hinterherlaufen, sondern ihn prägen“.
Der Kindergarten von heute ist nicht der Kindergarten von morgen. Der Kindergarten der Gegenwart ist nicht mehr der Kindergarten der Vergangenheit.