Manfred Berger
Magdalena Gertraud erblickte als zweitälteste von vier Kindern des Oberlehrers für Mathematik Georg Kietz und seiner Ehefrau Anna Alwina, geb. Grüttner, am 31. März 1913 in Leipzig das Licht der Welt. In ihrer Geburtsstadt verlebte sie glückliche Kinder- und Jugendtage, wie ihrer Autobiographie zu entnehmen ist (vgl. Kietz, o.J.).
Von 1919 bis 1929 besuchte sie die "Richard-Wagner Schule" (V. Höhere Mädchenschule Leipzigs). Anschließend absolvierte sie das "Sozialpädagogische Frauenseminar, Abt. Fröbel-Frauenschule" und legte dort Ostern 1931 die staatliche Prüfung für Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen ab. Nach zweijähriger praktischer Arbeit in verschiedenen sozialen Einrichtungen ihrer Geburtsstadt nahm Gertraud Kietz an dem Jugendleiterinnen-Lehrkurs des "Sozialpädagogischen Frauenseminars" teil und bestand Ostern 1934 erfolgreich das Examen zur staatlich geprüften Jugendleiterin. Im Sommer 1935 begann sie sich privat auf das Abitur vorzubereiten, dass sie im Herbst 1936 nach dem Lehrplan eines Realgymnasiums vor dem Oberpräsidium in Magdeburg ablegte. Danach musste Gertraud Kietz ihren Reichsarbeitsdienst ableisten.
Vom Sommersemester 1937 bis zum Sommersemester 1941 studierte sie an den Universitäten in Breslau und Leipzig Psychologie, Philosophie und Volkskunde. Daneben besuchte die Studentin noch Vorlesungen und Seminare in Pädagogik, Rassenkunde, Literaturwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Psychopathologie. Am 17. Dezember 1942 promovierte sie in Leipzig; sie erhielt jedoch den Doktortitel erst September 1944. Das Thema ihrer Doktorarbeit lautete: "Der Ausdrucksgehalt des menschlichen Ganges". Die Dissertation wurde 1948 veröffentlicht.
Nach ihrer akademischen Ausbildung war Gertraud Kietz wissenschaftliche Assistentin am Psychologischen Institut der Universität München bei Prof. Philipp Lersch und unterrichtete zusätzlich Heilpädagogik am "Städt. Kindergärtnerinnen- und Jugendleiterinnenseminar der Landeshauptstadt München". Im Frühjahr 1946 ging sie für zwei Jahre als pädagogische Redakteurin zum "Otto Maier Verlag Ravensburg". Anschließend betätigte sie sich als Dozentin an der Lehrerbildungsanstalt in Weilburg/Lahn. Folgend übernahm Gertraud Kietz die Leitung der "Evangel. Sozialpädagogischen Ausbildungsstätten Münster". Ab 1962 war sie freiberuflich als Schriftstellerin und Referentin sowie als gerichtspsychologische Gutachterin tätig.
Als Mitte der 1960er Jahre die traditionelle Kindergartenpädagogik kritisiert wurde und dadurch bedingt u.a. die vorschulische Frühlesebewegung ausbrach, die in Deutschland durch Prof. Heinz-Rolf Lückert protegiert wurde, äußerte sich Gertraud Kietz in mehreren Beiträgen sehr kritisch über diese pädagogische "Modeströmung". Sie warf Lückert u.a. vor, dass er mit seiner "so aggressiv inszenierten Frühlesebewegung" die ganze Elternschaft nur verwirren würde und er ferner vor allem "die Kleinkinder allesamt preisgibt für unkontrollierte Experimente und Manipulationen, die sehr starke Eingriffe in ihre Entwicklung und personale Entfaltung bedeuten. Die Mittel zu solchen Experimenten und Manipulationen legt er unkontrollierbar in die Hände sämtlicher Eltern, Erzieher und Pflegepersonen. Zu diesen Mitteln gehören nicht nur Aufforderung und Anleitung zum Frühlesen, sondern auch sehr einschneidende und fragwürdige Methoden zur Behandlung und Verhütung von Leseschwierigkeiten, wie beispielsweise die stündliche Korrektur der Schlafhaltung des Kindes, das Erzwingen von Einhändigkeit durch Festbinden eines Armes in einer Schlinge, das Verbot des Singens, Musizierens und Musikhörens des Kindes in den Jahren des Sprach- und Lesetrainings. ... Keiner kann kontrollieren, wie viele Kleinkinder jetzt von ehrgeizigen, ungeduldigen und unverständigen Eltern quälenden körperlichen und seelischen Torturen ausgesetzt werden. Denn Lückert stellt ja nicht nur die Mittel zu solchen Eingriffen bereit, sondern er fordert ja die Eltern heraus zu deren Gebrauch durch das Druckmittel seiner Behauptung, dass Kinder, die nicht frühzeitig lesen lernen, lebenslänglich dumm blieben und nicht schulreif seien" (Kietz 1967, S. 459 f).
Einen besonderen Bekanntheitsgrad erlangte Gertraud Kietz durch ihre pädagogisch/ psychologische Auseinandersetzung mit dem Bauen des Kindes. Ihr 1950 im "Otto Maier Verlag Ravensburg" erschienenes Buch "Das Bauen des Kindes" entwickelte sich zu einem Bestseller. Es wurde mehrmals aufgelegt und erschien später noch im "Kösel -Verlag" (1967) sowie im "Deutscher Taschenbuch Verlag" (1974). In ihrer Publikation behandelte die Verfasserin ausführlich die gesamte Entwicklung des kindlichen Bauens vom ersten Greifen des Säuglings bis zu den komplizierten Bauwerken der Schulkinder und Jugendlichen. Ferner zeigte sie auf, warum die Kinder auf den verschiedenen Entwicklungsstufen gerade so und nicht anders bauen, d.h. welche Gesetze des kindlichen Seelenlebens dahinterstehen. Vor allem aber gab sie auch ganz praktische pädagogische Hilfen, wie Eltern und Erzieher sich verhalten sollten, wenn ihr Kind baut, und auf welche Weise sie es dabei am stärksten fördern können in seiner Entwicklung.
Nach den in ihrem Buch niedergelegten psychologisch-pädagogischen Erkenntnissen entwickelte die Pädagogin und Psychologin einen entsprechenden Baukasten, genannt "Dr.-Kietz-Baukasten" (der sich bis in die 1970er Jahre großer Beliebtheit in Kindergärten und Horten erfreute):
"Nichts an diesem Baukasten ist zufällig oder willkürlich. Jede kleinste Einzelheit hat ihren pädagogisch-didaktischen Sinn, obgleich der Kasten ganz einfach erscheint. Dass die Klötze gerade diese sechs Formen haben, keine anderen und auch keine mehr und keine weniger, hat seinen Grund, ebenso ihre Größe, ihre Oberflächenbeschaffenheit, ihr Gewicht, ihre Anzahl, ihre Anordnung im Kasten usw. Auch dass sie aus gutem Buchenholz und nicht aus Tanne oder gar aus Plastik sind, ist sehr wichtig, ebenso ihre Naturfarbe. Die weit verbreitete Meinung, für kleine Kinder müssten die Bauklötze bunt sein, hat sich bei den wissenschaftlichen Untersuchungen (an mehr als dreitausend Kindern; M.B.) als irrig erwiesen, als ein Fehler, der sich entwicklungshemmend auswirkt. ...
Darüber hinaus vermittelt das freie Spiel mit dem psychologisch richtigen Baumaterial des 'Dr.-Kietz-Baukasten' dem Kind auch eine Fülle von mathematischen Grunderfahrungen, z.B. über Mengen- und Größenverhältnisse, geometrische Formen, Gesetze der Statik usw. Gerade weil nicht alles hält, was das Kind zusammenfügt, fordern diese Klötze zum eigenen Problemlösen auf, da das Kind experimentieren und sein Denken anstrengen muss, wenn das Bauwerk halten soll. So wird das Kind in der vielfältigsten Weise gefördert und zur Konzentration gebracht.
Das Kind soll von klein auf dazu angeleitet werden, zum Bauen die Klötze nicht auszuschütten, sondern einzeln nacheinander aus dem Kasten herauszusuchen und nach Beendigung des Spiels sie immer in der gleichen Ordnung wieder einzuräumen. Dadurch prägen sich bestimmte mathematische Sachverhalte besonders nachhaltig ein. ...
Der 'Dr.-Kietz-Baukasten' ist also ein pädagogisch wertvolles Spielzeug und ein didaktisches Material zugleich" (Kietz 1969, S. 4 f.).
Mit zunehmendem Alter zog sich Gertraud Kietz beruflich wie privat immer mehr zurück. Am 14. Juli 1994 schrieb sie, die in einem Seniorenheim in Zwiesel lebte, an den Verfasser vorliegenden Beitrags: "Liege hier körperlich schwer behindert mit immer unerträglicheren Schmerzen, ganz einsam. Schreiben und Telefonieren sind schon unerhörte Anstrengungen. Besuche unerträglich." Von ihrem langjährigen Leiden wurde sie am 11. August 2001 erlöst.
Literatur
Kietz, G.: Der Ausdrucksgehalt des menschlichen Ganges, Leipzig 1948
Dies.: Das Bauen des Kindes. Eine Einführung für Eltern und Erzieher, Ravensburg 1950
Dies.: Das Bauen des Kindes, in: Evangelische Kinderpflege, 1950/H. 11
Dies.: Zur Frühlesepropaganda. Ein Angriff - keine Verteidigung, in: Unsere Jugend, 1967/H. 10
Dies.: Das ideale Spiel. Spiel und Arbeit des Kindes, in: Lebendige Familie, 1969/H. 11
Dies.: Bei uns daheim. Jugenderinnerungen aus der sächsischen Heimat, München o.J.