Emma Kretschmer (1895-1960)Frauen in der Geschichte des Kindergartens

Manfred Berger

Am 21. Juni 1952 feierte man weltweit den 100. Todestag von Friedrich Fröbel. Dieses Ereignis war für Emma Kretschmer Anlass genug, sich auf "Fröbel im Alltag des Kindergartens" zu besinnen. Sie sah in ihm den wahren Meister der Kleinkinderpädagogik, dessen "tiefsinnige Gedankengänge" von der Nachwelt kaum verstanden wurden. Darum riet Emma Kretschmer der Kindergärtnerin, nicht "Fröbel aus den Quellen zu studieren". Vielmehr meinte sie:

"Lassen wir einmal all das beiseite, was wir von Fröbel wissen und zu wissen glauben, wie wir über ihn belehrt wurden - alles, und nehmen das, was Fröbel den Kindern gegeben hat, seine Spielkästchen, seine Beschäftigungen und gehen damit zu den Kindern. Nur dort kann für oder wider Fröbel entschieden werden. Wie oft habe ich es schon erlebt, daß diejenigen, welche diesen Weg gingen, mit Staunen entdeckt haben, wie kindnah Fröbel war, und entdeckt haben, was überhaupt zum richtigen Kindergarten gehört" (Kretschmer 1952, S. 94).

Neben den Fröbelschen "Gaben" und "Beschäftigungsmittel", die zum "richtigen Kindergarten" gehören, räumte Emma Kretschmer dem "Freispiel" hohen pädagogischen Wert ein. Diesbezüglich äußerte sie, sich in direkter Anrede an die junge Kindergärtnerin wendend:

"Ein Teil des Kindergartentages soll dem Kind selbst gehören. Es gilt, den Kindergartentag daraufhin zu überprüfen. Ist mit dem eben Gesagten das Freispiel gemeint? Ja, freilich, jedoch das Freispiel nicht einfach als Gammelzeit verstanden, sondern eben als derjenige Teil des Kindergartenalltages, welcher dem Kind selbst gehört. Und es ist damit nicht nur das Freispiel gemeint. Als Anmerkung gesagt: daß das Freispiel am Anfang des Tages liegt, ist natürlich und richtig. Doch läßt du nicht die kleinen Langschläfer aus dem Auge, welche stets am Schluß des Freispiels ankommen und daher diese Stunde, welche eine der wertvollsten und schönsten des Tages sein kann, nie miterleben? Nimm es nicht als unabänderlich hin, daß du diesen Kindern etwas schuldig bleibst" (Kretschmer 1952, S. 179).

Als aufmerksame Beobachterin erkannte Emma Kretschmer, dass die Fröbelschen Baukästen, insbesondere für die älteren Kinder, unvollständig sind. So entwickelte sie, in enger Anlehnung an die Fröbelschen Baukästen 3 bis 6, ihre "Kretschmer-Gaben", gefertigt aus Buchenholz. Sie fügte den 57 Bauklötzen noch 25 flache Brettchen in verschiedenen Größen hinzu. Die "Kretschmer-Gaben" wurden von den bekannten Dusyma-Werkstätten in Miedelsbach hergestellt und vertrieben. In ihrem Katalog aus dem Jahre 1965 warb Dusyma auf Seite 274 mit folgenden Worten:

"Erfahrungsgemäß bauen große Kindergartenkinder und Schulkinder damit gerne Hochhäuser, Autobahnen, Eisenbahnanlagen mit Brücken, Städte, Dörfer, Hafenanlagen, Schwimmbäder, Schiffe und andere moderne Bauwerke, zumal die Flachbrettchen es ausgezeichnet ermöglichen, auch die im heutigen Hochbau üblichen Spannbetondecken nachzuahmen. Die kleine Form der Säulen und Flachbrettchen ermöglicht, jedem Kind die begehrte, große Menge zu geben, die obendrein nur wenig Lärm macht. Die Raumnot in vielen Kindergärten, wo die Kinder nicht auf dem Fußboden spielen können, trug mit dazu bei, kleine Bauformen zu wählen, mit denen gruppenweise auf dem Tisch gespielt wird. Gegebenheit und Bedürfnis sind so von einer hervorragenden Pädagogin in feiner Weise miteinander vereint worden. Emma Kretschmer hat den Kindern damit ein dankbares Baumaterial gegeben, das sich auch in modernen Kindergärten, im Hort und in der Familie sehr bewährt hat."

Emma Kretschmer erblickte am 9. Juni 1895 in Oberbürden, Kreis Backnang, das Licht der Welt. Sie war das jüngste und fünfte Kind des Pfarrers Ernst Kretschmer und dessen Ehefrau Luise, geb. Bengel. Ihr älterer Bruder Ernst Kretschmer war Psychiater, der durch seine Einteilung des Menschen in bestimmte "Konstitutionstypen" berühmt wurde.

Nach ihrer Kindergärtnerinnen- und Jugendleiterinnenausbildung betätigte sich Emma Kretschmer bis 1929 als Erzieherin und Lehrerin in der Taubstummenanstalt Paulinenpflege in Winnenden. Am 1. Juli 1929 übernahm sie die Leitung des Seminarkindergartens der dem "Evangelischen Fröbelseminars" in Ulm-Söflingen angegliedert war. 1937 übertrug man ihr die Verantwortung für die Ausbildungsstätte, dessen Ziel und Aufgabe sie folgendermaßen beschrieb:

"Das Fröbelseminar in Ulm ist entstanden aus einem vielseitig fühlbar gewordenen Bedürfnis. Es bestand bisher auf evang. Seite in Württemberg einzig in Stuttgart die Möglichkeit, sich zur staatlich anerkannten Kindergärtnerin auszubilden. Unsere Töchter aber sollen alle jetzt ihren Beruf erlernen; da ist nun neben der Hauswirtschaft und Krankenpflege wohl kein anderer geeignet, wie der Kindergärtnerinnenberuf. Heiratete das junge Mädchen nachher, so hat sie diesen Beruf nicht umsonst erlernt; heiratet sie nicht, so hat sie nicht nur einen Lebensunterhalt, sondern auch einen wertvollen Lebensinhalt gefunden, der ihr mütterliches Gefühl befriedigt und sie voll ausfüllt. Auch für solche junge Mädchen, die nicht sofort den Beruf ausüben wollen, ist es heutzutage sehr erwünscht, dass sie sich mit Fragen der Kinderpflege und Erziehung gründlich beschäftigen, um im kleinen oder größeren Kreise an Fragen der Volkserziehung und Jugendfürsorge ratend und helfend mitarbeiten zu können. Das Seminar wird bestrebt sein, den abgehenden Schülerinnen Stellungen, möglichst ihrem Wunsch und ihrer Eigenart entsprechend, zu verschaffen, in Familien, Kindergarten oder Kinderheim".

Keine geringere als Sophie Scholl war von Mai 1940 bis Januar 1941 ihre Schülerin. Eine ehemalige Seminaristin erinnerte sich an folgende Situation:

"Sophie war in ihren politischen Ansichten schon damals sehr freimütig bis leichtsinnig. Bei den ministeriell verordneten Anhörungen der Hitlerreden im Radio las sie stets irgendwelche politisch nicht gerade erwünschte Bücher. Fräulein Kretschmer, die beliebte und kluge Leiterin des Fröbel-Seminars, machte daraus kein großes Aufsehen. Sie forderte Sophie nur auf, die Bücher beiseite zu legen. Doch Sophie las meistens weiter, und Fräulein Kretschmer übersah dezent dieses Verhalten. Eigentlich hätte die Schulleiterin das politisch ungeordnete Verhalten der Seminaristin bei der Gau-Verwaltung melden müssen. Doch das tat sie nicht, zumal Fräulein Kretschmer selbst keine Befürworterin des Nationalsozialismus war" (zit. n. Berger 1995, S. 113).

Als die Ausbildungsstätte im Jahre 1944 von den Nazis verboten wurde, ging Emma Kretschmer nach Karlsruhe. Dort übernahm sie die Leitung des Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnen-Seminars, ebenso die Kinderpflegerinnenschule des "Evangel. Diakonissenhauses Bethlehem. In Erinnerung an ihre Tätigkeit als Schulleiterin ist nachzulesen:

"Sechzehn Jahre, davon schwere Anfangsjahre noch im Krieg, in großer Raumenge ... und danach reiche, aber auch harte Arbeitsjahre in unseren wieder aufblühenden sozialpädagogischen Ausbildungsstätten, hat sie uns gedient. Sie hat aus reicher Erfahrung, in tiefer Liebe zu den Menschen und mit großer Geistes- und Tatkraft unser Erziehungswerk geleitet und unseren Schulen das Gepräge gegeben" (Evangel. Diakonissenhaus Bethlehem 1960, S. 10).

Emma Kretschmer starb am 20. September 1960 im Krankenhaus des Evangel. Diakonissenhauses in Karlsruhe.

Literatur

Berger, M.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch, Frankfurt 1995

ders.: Emma Kretschmer - Gedankengut Fröbels umsetzen, in: Spielmittel 1995/H. 3

Evangel. Diakonissenhaus Bethlehem Karlsruhe (Hrsg.): Zum Gedächtnis an Fräulein E. Kretschmer, Karlsruhe 1960

Kretschmer, E.: Fröbel im Alltag des Kindergartens, in: Evangelische Kinderpflege Jhg. 1952

dies.: Laßt uns unsern Kindern leben!, in: Evangelische Welt Jhg. 1952

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