Manfred Berger
Elisabeth Zorell hatte sich nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur am "geistigen Aufbau" der Bundesrepublik Deutschland engagiert und "legte mit die Grundlagen für eine neue Sozialpädagogik, insbesondere für eine bildungsorientierte Kleinkindererziehung, die der Gesamtpersönlichkeit des Kindes gerecht werden sollte" (Verein zu Förderung der Sozialpädagogischen Ausbildung 1981, S. 10). Sie trat 1948 dem neugegründeten "Pestalozzi-Fröbel-Verband" bei. 40 Jahre später erinnerte sie sich an die Gründungsversammlung mit folgenden Worten:
"Schon der Schauplatz des Geschehens, die Universität Göttingen, interessierte mich ... Alle fühlten sich bei den Vorträgen und Gesprächen in der Hochstimmung einer lange ersehnten Wiederbegegnung. Ich genoß das alles sozusagen als lichtvolle Momente der Aufnahme in eine 'Gelehrtenrepublik', in der sich alle einig waren in der Absage an die Zeit der geistigen 'Vermummung' und der Unfreiheit. Wir befanden uns alle in der Erwartung einer neuen Epoche, in der verlorengegangener Glaube an Wahrheiten wieder Wurzeln schlagen und sich neu beleben könne. Diese Stimmung des Aufbruchs mit Pestalozzi und Fröbel, die uns in eine Zukunft der pädagogischen Arbeit mit dem Kind und für das Kind führen sollte, sie einte alle und alles. In dem neu erwachten Fachverband, den wir nun 'Pestalozzi-Fröbel-Verband' nannten, waren wir im Denken und Tun vereint: Kindergärten, Jugendforschung, Ausbildung und Beruf, Wissenschaft und Praxis, alles unter einem Dach" (zit. n. Kettnaker 1998, S. 138).
Elisabeth Zorell wurde am 1. März 1896 als ältestes von drei Mädchen der Eheleute Specht in München geboren. Der Vater war Amtmann bei der Post, die Mutter "bayerisch königliche Putzmacherin". Bedingt durch den Beruf der Mutter lernte die kleine Elisabeth mehrere Prinzessinnen des Hauses Wittelsbach kennen, die sie mit "ausrangierten Spielgegenständen des königl. Hofes" (Berger 1995, S. 200) versorgten.
Gegen den Willen des Vaters, jedoch mit Unterstützung der Mutter, konnte sie ihren Berufswunsch Kinder zu unterrichten durchsetzen. Mit 19 Jahren absolvierte sie das Lehrerinnenseminar in München und lehrte anschließend dort in verschiedenen Volksschulen. Nachdem Elisabeth Specht das Abitur nachgeholt hatte, studierte sie Deutsch, Geschichte, Geographie und Pädagogik an der Münchner Universität. Bedingt durch ihre Heirat übersiedelte sie zu ihrem Mann nach Hamburg. Dort setzte Elisabeth Zorell das Studium bei William Stern und Martha Muchow (die ihr Interesse für den Kindergarten und seinem Begründer weckte) fort, zugleich unterrichtete sie an einem privaten Mädchengymnasium.
Nach der Scheidung (1933), Verhaftung durch die Nazis (1935) und weiteren Schwierigkeiten kehrte Elisabeth Zorell 1937 wieder nach München zurück. Sie unterrichtete zunächst an Volksschulen, dann ab 1938 als Dozentin am Kindergärtnerinnen- und Jugendleiterinnenseminar der Stadt München. 1944 übernahm sie die Leitung der sozialen Ausbildungsstätte und immatrikulierte sich noch an der Münchner Universität. Sie promovierte bei Philipp Lersch zum Thema "Die weibliche Entwicklung nach Leistung und Charakter". Als Schuldirektorin konnte sie bereits 1946 die Errichtung eines Schulkindergartens als Lehr- und Praxisstätte durchsetzen. Auch die Gründung von drei Seminarkindergärten (1954-1958) war mit ihr Verdienst. Im Jahre 1948 wurde der sozialpädagogischen Ausbildungsstätte noch ein Werklehrerinnenseminar angegliedert. Bis 1961 war Elisabeth Zorell Schuldirektorin. Zum Abschied charakterisierte sie ihr Nachfolger mit folgenden Worten:
"Sie, Frau Zorell, waren eine aufrechte Demokratin, nicht sozialliberal wie es heute Mode ist, sondern umgekehrt, liberal und dann sozial. Die Freiheit des Denkens stand an 1. Stelle, gefolgt von einer sozialen Gesinnung. Sie waren eine Demokratin, die ihre föderativen Rechte verteidigte" (zit. n. Berger 1996a, S. 131).
Stets trat Elisabeth Zorell mit Vorträgen und Publikationen an die Öffentlichkeit. Ihr besonderes Interesse galt der Kindergartenpädagogik. Sie betonte den "sozialpädagogischen Auftrag" des Kindergartens, "der die im Elternhaus angebahnte Erziehung des Kindes zur Selbständigkeit in einem Raum der Ordnung sinnvoll" weiterführen sollte. Gerade für die heutigen Kinder war für sie der Kindergarten mehr denn je eine unentbehrliche Einrichtung. Diesbezüglich formulierte Elisabeth Zorell:
"Weit häufiger als in der Zeit Fröbels, des vorausschauenden pädagogischen Denkers, ist es heute vielen Kindern verwehrt 'Kind' zu sein, d.h. durch Spielen und durch Zuschauen und einfaches Mittun den Zugang zur Erwachsenenwelt in der häuslichen Umwelt zu erobern. Fröbel hat als erster die nun durch die Wissenschaft vielfach bestätigte Erkenntnis ausgesprochen und in seinen Schriften immer wieder verkündet: wahres Kindsein ist die wichtigste Quelle des Menschseins. Wer nicht richtig Kind sein durfte, nicht unbeschwert spielen, entdecken, die einfachsten Verrichtungen der Lebenssorge, nämlich kochen, nähen, heizen in der elementaren Form erleben kann, der wird in unserer technischen Umwelt, wo die Zusammenhänge verborgen sind und die größten Wirkungen durch das Bedienen eines Druckknopfes erzielt werden können, scheinreif. Er läuft Gefahr, daß die urmenschlichen Kräfte des Probierens, des Suchens und Findens und des Helfens, die den kulturellen Aufstieg der Menschheit begründeten, bei ihm verkümmern. Der Kindergarten ist nun die beste - und bald die einzige - Möglichkeit, der gefährlichen Frühreife, die die schöpferischen Kräfte lähmt, einen Widerstand entgegenzusetzen, weil er
a) dem Kind eine geeignete Spiel- und Beschäftigungswelt schafft, wie sie kaum eine Familie heute geben kann; aber auch weil er
b) dem Kind zu einer von seiner Entwicklung gemäßen Lösung von der mütterlichen Welt hilft und ihm Freiheit schenkt für die Befriedigung seiner Interessen in einer kindgemäßen Umwelt; weil er
c) dem Kind vor der Schule einen Raum bietet, in dem Tätigsein und Liebe noch verbunden und Leistungen, die einer späteren Zeit vorbehalten sind, noch nicht verlangt sind" (Zorell 1971, S. 49 f).
Auch in die Diskussion zum Für und Wider des Schulkindergartens griff Elisabeth Zorell ein. Trotz der Orientierung des Schulkindergartens auf das Ziel "Schulreife" hin, sollte er ihrer Ansicht nach nicht mit schulmäßigem Material die Aufgaben- und Leistungsbereitschaft der Kinder herausfordern, sondern vielmehr von einer zu frühen Verschulung und Frühreife warnen und "Ruhe und Schutz geben ... für eine nachzuholende verspätete Kindergartenreife" (Zorell 1968, S. 61). Ein Besuch des Schulkindergartens sollte erreichen, "daß das Kind durch Selbsttätigkeit zu größerer Selbständigkeit kommt", ferner die "seelische und körperliche Entwicklung des Kindes gefördert und der Gesichtskreis erweitert werden, ohne daß der Frohsinn und die kindliche Ursprünglichkeit verloren gehen. In ausreichendem Maße muß der Schulkindergarten dem Kinde Gelegenheit zur freien Entfaltung seiner Kräfte geben, bei vorsichtiger Lenkung und bei sorgsamer Auswahl von geeignetem Material" (Zorell 1968, S. 66).
Hochbetagt im Alter von 97 Jahren starb Elisabeth Zorell am 20. April 1993 in Regensburg, wo sie noch kurz vor ihrem Tode in ein Seniorenstift übergesiedelt war.
Literatur
Berger, M.: Frauen in der Geschichte des Kindergartens. Ein Handbuch, Frankfurt 1995
ders.: Zum 100. Geburtstag von Elisabeth Zorell, in: Unsere Jugend 1996a/H. 3
ders.: Elisabeth Zorell: Kindsein zulassen, in: Kinderzeit 1996/H. 1
Kettnaker, B.: Der Pestalozzi-Fröbel-Verband und die Vorschulpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland: 1948-1989, in: Pestalozzi-Fröbel-Verband (Hrsg.): Die Geschichte des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes. Ein Beitrag zur Entwicklung der Kleinkind- und Sozialpädagogik in Deutschland, Freiburg 1998
Verein zur Förderung der Sozialpädagogischen Ausbildung e.V. (Hrsg.): Erzieher in Bogenhausen. Vom Kindergärtnerinnenseminar zu den Sozialpädagogischen Fachschulen, München 1981
Zorell, E.: Bemerkungen zum Begriff Schulkindergarten, in: Pädagogische Welt 1963/H. 2
dies.: Der Schulkindergarten, in: Brehm, K. (Hrsg.): Pädagogische Psychologie der Bildungsinstitutionen. Bd. II, München 1968
dies.: Erziehungskunde, Bad Heilbrunn 1971