Margit Franz
Spielzeiten ermöglichen
Spielen braucht Zeit. Ein Verhalten, das derart interessiert, engagiert, fantasievoll und ernsthaft betrieben wird, kann nicht auf kleine Zeitfenster reduziert werden, in denen gerade nichts Wichtigeres auf dem Programm steht, nach dem Motto "Ihr dürft jetzt ein bisschen spielen!" und im Nebensatz gleich hinterher: "Aber räumt nicht so viel aus, das lohnt sich nämlich nicht mehr!" Im Klartext: Eigentlich könnt ihr es gleich bleiben lassen! - Im Gegensatz zu digitalen Medien kann das Spiel eines Kindes nicht per Mausklick unterbrochen, x-beliebig ein- und ausgeschaltet oder der Spielverlauf verändert werden. Wie entzaubernd sich Spielstörungen auswirken können, beschreibt anschaulich Josef Reding im "Gedicht vom Spinatesser": "Bevor Olaf Grunnholm die Brücke über den hellgrünen, reißenden Fluss Tra-Um vollenden kann, wird er verschleppt. Als er nach langer Zeit zu seiner Arbeit zurückkehren darf, hat er das Geheimnis vergessen; die Brücke wird nie mehr zu Ende gebaut. Olaf ist drei Jahre alt. Man hat ihn von seinen Bausteinen zum Spinatessen geholt. Es stehen viele halbfertige Brücken am hellgrünen, reißenden Fluss Tra-Um."
Spielzeit ist Bildungszeit!
"Spielzeiten haben im kindlichen Leben eine Schlüsselfunktion für die aktive Selbstgestaltung seiner Beziehungen zur Umwelt. Weil die Umwelt für das Kind eine vielgestaltige, überraschungsreiche und interessante Wirklichkeit darstellt, benötigt es sehr viel Zeit, sie kennen zu lernen, zu erleben, zu gestalten. [...] Das Spiel ist die jedem kindlichen Entwicklungsniveau natürlicherweise angemessene Form, den Wirklichkeitsbezug so zu gestalten, dass er für das Kind sinnerfüllt ist. Dies gilt für jeden Entwicklungsstand, für jedes Niveau der entwickelten Spielformen und für jede Zeit, während der Kinder spielen. Spielzeit ist aufgrund dessen eine höchst wertvolle Zeit, eine Zeit des Wohlbefindens, des Erlebens und Erkennens, die Entwicklungschancen schafft, individuelle Begabungen und Potentiale freisetzt" (Hans Mogel 2008, S. 119). Hat ein Kind nur wenig Zeit zum Spielen, kann es seine Beziehungen zur Welt nur begrenzt entwickeln. Für Erwachsene verbindet sich damit die Aufforderung, mit der Zeit der Kinder verantwortungsvoll umzugehen und sich dafür einzusetzen, dass Kinder zu ihrem Recht auf ihre Spiel-Frei-Zeit kommen.
Zeitverschwendung durch Spielen?
Solange Erwachsene jedoch vehement an der Meinung festhalten, dass beim Spielen wertvolle Lebenszeit verloren ginge und kostbare Bildungszeit vergeudet würde, solange nimmt das Kinderspiel nicht den Stellenwert ein, der ihm gebührt: Hauptsache Spielen! Wenn wir Kindern zu wenig Zeit zum Spielen gewähren, begrenzen wir nicht nur ihr Recht auf Spielen, sondern unterbinden auch das zu sein, was sie sind, nämlich Kinder. Wenn Kinder in ihrem Spiel immer wieder gestört oder vom Spielen sogar abgehalten werden, hat dies große Auswirkungen auf ihr Spielverhalten und die Qualität ihres Spiels.
Verändertes Spielverhalten?
In meinen Seminaren berichten Erzieherinnen von ihren Erfahrungen mit kindlichem Spielverhalten und beklagen die mangelnde Spielfähigkeit der Kinder:
- "Viele Kinder können überhaupt nicht mehr richtig spielen."
- "Manche Kinder stehen einfach nur rum, machen alles kaputt oder stören andere beim Spielen."
- "Ich beobachte, dass manche Kinder immer wieder neue Dinge anfangen und nichts zu Ende bekommen."
- "Viele Kinder langweilen sich, sie haben keine Idee, was sie spielen könnten. Am liebsten ist es ihnen, wenn ich mit ihnen spiele."
- "Einige Kinder fragen mich ständig: Was soll ich spielen?"
- "Die Zahl der Kinder, die bespielt werden wollen, nimmt immer mehr zu."
Nachgefragt, worin Erzieherinnen mögliche Ursachen einer mangelnden kindlichen Spielkompetenz sehen, kommen unmittelbar und nicht selten mit leicht vorwurfsvollem Unterton Aussagen wie diese:
- "Die Kinder werden von ihren Eltern ja total fremdbestimmt. Jeden Nachmittag steht etwas anderes auf dem Programm: Ballett, Flötenunterricht, Judo, Reiten, Turnen ..., kein Wunder also, dass die Kinder auch von uns Animation wollen."
- "Die Kinder sind zehn Stunden in unserer Kita - außer fernsehen, Abendessen und ins Bett gehen läuft unter der Woche nicht mehr viel."
- "Viele Kinder haben überhaupt keine freie Zeit mehr, sondern nur noch Freizeitstress."
- "Die Kinder hocken nur noch vor der Glotze, der Playstation, der Wii und dem Computer."
- "Die Eltern haben überhaupt keine Lust mehr, sich mit ihren Kindern -abzugeben oder einfach nur mal mit ihnen zu spielen ..."
Die Spielrealität in Kitas
So äußern Erzieherinnen ihre Not - doch wie sieht die Realität in den Kitas aus? Wie viel unverplante Zeit für das "Freispiel" ist vorhanden? Wie lange können Kinder ungestört spielen? Wie oft werden Kinder in ihren Spielprozessen unbedacht angesprochen, in ihrem Spielflow unterbrochen? - Noch immer setzen viele Kitas auf strukturierte Lernspiele und "spielerisches Lernen" mit Tisch-, Gesellschafts- und Computerspielen. Viel zu viel wache Lebenszeit hocken Kinder auf (meist zu hohen) Stühlen in beengten, akustisch und visuell reizüberfluteten, billig ausgeleuchteten und schlecht gelüfteten Innenräumen, während die Außengelände völlig ungenutzt bleiben. Nicht nur in Schulen, auch in Kitas werden Kinder nach Stundenplänen getaktet. Die Tagesabläufe in Krippen und Kitas sind minutiös durchorganisiert. Mahlzeiten, Pflegezeiten, Schlafzeiten, Morgen- und Abschlusskreise, Musikschule, Sprach- und Förderprogramme, Kurse, AGs, Projekte, Aktionen, Ausflüge, Feste inklusive Schichtwechsel bestimmen vielerorts den Alltag. Es gibt aber auch mutige Ausnahmen in der Kita-Landschaft, nämlich profilierte Einrichtungen, in denen Erzieherinnen auf einen gut gelebten Alltag und Spielen als Programm setzen. Diese Einrichtungen verdienen meinen höchsten Respekt, weil sie gegen den Mainstream schwimmen und sich nicht nur für die Verwirklichung von Kinderrechten einsetzen, sondern sie leben!
Praxistipp: Freie Spielzeit?
Überprüfen Sie entlang Ihres Tages- und Wochenablaufes, wie viel freie, ungestörte Zeit Kinder tatsächlich haben, wenn sie Ihre Kita besuchen. Durch wie viele zeitliche Einschnitte wird das selbstbestimmte Spielen der Kinder täglich (wöchentlich) unterbrochen? Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Ungestörte, freie Spielzeiten sind die beste Förderung!
Während Erzieherinnen manchen Eltern übertriebenen Aktionismus und Ehrgeiz vorwerfen, praktiziert ein überraschend hoher Anteil der Fachkräfte in ihren Kitas nichts anderes als genau das. Damit bestärken sie Eltern in ihren falschen Vorstellungen von frühkindlicher Förderung und optimaler Schulvorbereitung und sorgen dafür, dass das natürliche Förderprogramm "Spielen" zugunsten einer künstlichen "Förderitis" abgewertet wird. Wird das "Freispiel" nur noch als Pausen- und Lückenfüller gesehen, um die Zeiten zwischen den Angeboten "sinnvoll" zu füllen, um möglichst keinen Leerlauf entstehen zu lassen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn Kinder nicht mehr "richtig" - im Sinne von vertieft, hingebungsvoll, variantenreich, kreativ - spielen können. Spielen braucht nicht nur alle Zeit der Welt, sondern auch Ruhe, Muße, Gelassenheit, Wohlbefinden, Ermutigung, Wohlwollen, Anerkennung, Respekt, Wertschätzung, kurzum ein "entspanntes Feld" (siehe Merkmal 5: Entspanntes Feld, Seite 18).
Nachdenktext: Zauberworte: Zeit schenken
Mach es ganz in Ruhe.
Du hast alle Zeit der Welt.
Nimm dir die Zeit, die du brauchst.
Wir haben Zeit. Ich warte so lange, bis du soweit bist.
In der Ruhe liegt die Kraft.
Du brauchst dich nicht zu beeilen.
Morgen ist auch noch ein Tag.
Achtung spielende Kinder! Bitte nicht stören!
"Ich spiele am liebsten in der Puppenecke. Aber nur ohne Störung." sagt der vierjährige Lars. Das Spiel folgt dem "Rhythmus des subjektiven Erfahrungsprozesses" (Gerd E. Schäfer 2003, S. 84). Starre Zeitpläne und hektische Tagesabläufe reißen Kinder aus ihrem eigenen Rhythmus, während flexible Zeitpläne und gelassene Tagesabläufe Kinder darin unterstützen, ihren eignen Rhythmus zu finden. Wenn Kinder in ihrem Rhythmus ganz bei sich und ihrem Spiel sein können, gestaltet sich das Spiel als eine zeitliche Ordnung. Es hat "[...] Anfang und Ende, Höhepunkte und Phasen des Dahingleitens, der An- und Aufregung, der Entspannung, des Versunkenseins oder körperlichen Agierens, des Alleinsein oder Zusammenfindens mit anderen. Auf diese Weise finden Kinder ihre eigenen Zeitgestalten, ihren eigenen Rhythmus, Dinge zu tun" (Gerd E. Schäfer 2003, S. 84).
Zeiträume für das freie Spielen bewusst einplanen
"Spielzeit ist [...] eine höchst wertvolle Zeit, eine Zeit des Wohlbefindens, des Erlebens und Erkennens, die Entwicklungschancen schafft, individuelle Begabungen und Potentiale freisetzt" (Hans Mogel 2008, S. 119). Spielzeiten beeinflussen die kindliche (Spiel-) Entwicklung ebenso wie Spielräume und Spielmaterialien. Ob sich diese Einflüsse förderlich oder hinderlich auf das Spiel und die Spielkompetenzen von Kindern auswirken, darauf haben Erzieherinnen einen wesentlichen Einfluss. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass sich Kita-Teams auch über die Gestaltung der Zeiträume grundlegende Gedanken - ausgehend von den Bedürfnissen der Kinder - machen.
Impulsfragen zur Reflexion
- Wie viel Zeit gewähren wir Kindern für selbstbestimmtes Spielen?
- Wie viel Spielzeit haben Kinder, die zu unterschiedlichen Zeiten unsere Kita besuchen?
- Wie behutsam und verantwortungsvoll gehen wir mit der Spielzeit der Kinder um?
- Wie ermöglichen wir Kindern möglichst störungsfreie Spielzeiten?
- Wie sensibel sind wir dafür, Kinder möglichst wenig beim Spielen zu unterbrechen?
- Wie flexibel gestalten wir den Tagesablauf in unserer Kita?
Einladung zum Weiterlesen!
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem Buch "'Heute wieder nur gespielt' - und dabei viel gelernt! Den Stellenwert des kindlichen Spiels überzeugend darstellen" von Margit Franz. Es erscheint Anfang 2016 bei Don Bosco Medien GmbH in München, umfasst 208 Seiten und kostet 19,95 Euro.
Wenn Ihnen der Vorabdruck zusagt und Sie die weiteren Ausführungen der Autorin kennenlernen wollen: Hier können Sie das Buch gleich beim Verlag bestellen!