Gabriela Moser
Im Zentrum des Kindergartengeschehens stehen Bedürfnisse, Interessen und ganzheitliche Entwicklung jedes einzelnen Kindes. Eine Kindertageseinrichtung bietet Kindern einen Lebens- und Erfahrungsraum, in dem Kinder Erfahrungen mit sich selbst und der sozialen Umwelt tätigen, die für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit eine bedeutsame Rolle spielen.
Kinder lernen sich und soziale Umwelt durch das Spielen kennen, in dem primär das Beobachten, Entdecken, Ausprobieren, Nachahmen, Erproben und Experimentieren eine unabdingbare Funktion erfüllt. Somit wird im Spiel und durch das Spiel gelernt, ohne dass sich ein Kind dessen bewusst wird.
Dieser Prozess ist aus der neurobiologischen Sicht ein natürlicher Prozess, der für die psychische und körperliche Entfaltung des Kindes ein Grundbedürfnis darstellt. Hüther (2010) belegt durch die neurowissenschaftliche Forschung, dass die wesentlichen Lernerfahrungen über den eigenen Körper gemacht werden, und definiert das Lernen als eine ganzkörperliche Erfahrung. Jede Lernerfahrung ist dabei auch mit Gefühlen verknüpft. Wir können nur dann etwas lernen, wenn die sogenannten emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert werden. Diese Zentren schütten neuroplastische Botenstoffe aus, sodass Gelerntes auch im Gehirn verankert werden kann. Daraus resultiert, dass Spiel eine sehr erfolgreiche Lernform und Lernsituation darstellt, da beim Spiel eine emotionale Aktivierung vorausgesetzt wird. Die schönste Aktivierung, die wir kennen, heißt Begeisterung (vgl. Hüther 2010).
Die Unterrichtsgestaltung im Kindergarten orientiert sich an Fähigkeiten, Fertigkeiten und Voraussetzungen der Kinder und beinhaltet Spiel- und Handlungssituationen, die eng mit der Lebenswirklichkeit der Kinder zusammenhängen. Inhalte, die meistens von der Lehrperson ausgewählt werden, orientieren sich an Interessen der Kinder und ihren Entwicklungsvoraussetzungen. Somit wird der Kindergarten(halb)tag zu einem Spiel(lern)raum, in dem Aufbau des inneren Selbstkonzeptes, Neugier, Freude, Phantasie, Kreativität, Herausforderung und andere Eigenschaften und Werte im Mittelpunkt stehen.
Das Spiel und seine psychologische Funktion
Zahlreiche Autoren haben spieltheoretische Ansätze formuliert und das Spiel auf diversen Ebenen definiert. Der psychoanalytische Ansatz beschreibt Spiel als "bedeutsame Vermittlungsinstanz zwischen Unbewusstem und Bewusstem, Lust- und Realitätsprinzip...", der entwicklungspsychologische Ansatz stellt das Spiel dar als "lustvoll erlebte Tätigkeit, die dem individuellen Entwicklungsprozess unterliegt", und laut dem motivationspsychologischen Ansatz kommt Spiel "zustande durch Neugier und Erkundungsverhalten; es oszilliert während seines Verlaufs zwischen lustbetonter Spannungssuche und dem Bedürfnis nach Entspannung, wobei gerade ein mittleres Spannungsniveau für es charakteristisch ist" (Arregger/ Buchholzer 2002).
Spiel ist also eine Grundform, wie Kinder sich und ihre Umwelt wahrnehmen und begreifen und durch welches sie ihr inneres Selbstkonzept aufbauen und erweitern. Inneres Selbstkonzept beinhaltet Wissen und Wahrnehmung um das eigene Selbst. In Anlehnung an die Unterscheidung von verschiedenen Aspekten des Selbst wurde von Hermans und Kempen (1993) eine Konzeption des dialogischen Selbst entworfen. Dieses Selbst vermag kontinuierlich die erzählten Versionen zu verändern, indem es verschiedene Standpunkte entwickelt und auch die Sichtweisen anderer Personen einnimmt (Fahrenberg 2002, S. 279). Das Wissen (Kognition) um das eigene Selbst geschieht durch Informationen, die aufgrund von Erfahrungen interiorisiert werden, oder durch (Selbst-) Zuschreibung(en). Das Bewerten der eigenen Kognitionen nennen wir das Selbstwertgefühl.
Aus der entwicklungspsychologischen Perspektive ist die Kleinkindalter- und Vorschulalterphase die Phase, in der Kinder enorm viele Erfahrungen machen, und damit ein breites Kenntnisbild über das eigene Selbst aufbauen und erweitern. Das Selbstkonzept charakterisieren Überzeugungen, Eigenschaften, Vorlieben, Kenntnisse und Erfahrungen, die bei den Kindern über das Denken, Fühlen und Verhalten zu beobachten sind.
Die Handlungen des Spiels nehmen Elemente und Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung auf, machen diese in der Inszenierung und Aufführung des Spiels sichtbar, verändern diese und wirken auf sie zurück (vgl. Wulf 2014).
Das Selbstkonzept als stets wechselndes Konstrukt und seine Relation von Freispiel
In der präoperationalen Phase ist das Denken sehr stark von der Selbstwahrnehmung dominiert. Dadurch ist das Selbstkonzept bei Kindern in dieser Phase stets ein variables und wachsendes Konstrukt, welches von magischen Zuschreibungen und Eigenschaften geprägt ist. Kelly (1955) prägte den Begriff "persönliches Konstrukt". Persönliche Konstrukte bilden sich im Strom des Geschehens heraus, wenn ein Mensch, einem Wissenschaftler vergleichbar, systematische Erfahrungen bildet und diese auf künftige Ereignisse anzuwenden versucht. Persönliche Konstrukte sind deshalb keine festen Schemata oder Eigenschaften (Fahrenberg 2002, S. 278).
Das freie Spiel ermöglicht Kindern, die Selbstwahrnehmung in der sozialen Umwelt zu "testen" und zu erproben. Das freie Spiel findet statt, wenn sich ein Kind freiwillig entscheidet, wie mit was und mit wem er seine Selbstwahrnehmung in der sozialen Umwelt phantasievoll (aus)leben möchte. Die gedankliche Welt des Kindes, der Raum, die Zeit, die Gegenstände und gegebenenfalls die Spielfreunde variieren in der wechselseitigen Relation von der Fiktion bis in die reale Welt hinein, in der Erprobung der eigenen Superkräfte, von Wünschen und wahrgenommenen realen Handlungen. Erfahrungen, die Kinder im Freispiel machen, sind für den Aufbau und Entwicklung des inneren Selbstkonzeptes unverzichtbar.
Das Freispiel findet im Kindergarten in einer vorbereiteten Umgebung statt. Umweltreize wie Raum, Gelände, Materialien, Spielzeug, eigener Körper, Mitmenschen, Situationen, Problemstellungen und Phantasiegebilde (vgl. Dietrich et al. 2013, S. 17) wirken auf die Psyche des Kindes ein und werden zum Auslöser des Freispiels. Häufig entwickeln Kinder aus diesen Umweltreizen komplexe Rollenspiele und Konstruktionsspiele, bei denen eigenständig Problemsituationen gelöst sowie Grob- und Feinmotorik, Geduld und soziales Verhalten (Empathie, Kooperation, Kommunikation und Konfliktlösen) geübt und gefördert werden.
Eine vorbereitete Umgebung definieren wir als einen liebevoll gestalteten Raum, in dem bei den Kindern die Eigenaktivität, Neugier, Kreativität und Entdeckungslust geweckt werden soll. Nicht eine Fülle an Materialien ist entscheidend, sondern inspirierende Materialien, mit denen Kinder (neue) Erfahrungen machen können.
Kinder entdecken die Welt jeden Tag aufs Neue, mit all ihren Reizen, Wundern und Gefahren. Dabei sind Kinder noch in der Lage, alle Sinne einzusetzen, um sich die Welt zu Eigen zu machen (Hennig 2003, S. 10).
Literatur
Arregger, K./Buchholzer, A. (2002): Didaktische Prinzipien. Studienbuch für die Unterrichtsgestaltung. Aarau: Sauerländer
Dietrich, K./Ehni, H./Eichberg, H./Nagbol, S. (2013): Erkunden und Spielen lehren, fördern, lassen. Baltmansweiler: Schneider Verlag Hohengehren
Fahrenberg, J. (2002): Psychologische Interpretation. Bern: Verlag Hans Huber
Henning, M. (2003): Autogenes Training für Kinder. München: Knaur Ratgeberverlage
Hermans, H.J.M./Kempen, H.J.G. (1993): The dialogical self: Meaning as movement. San Diego: Academic Press
Hüther, G. ( 2010) Lernen mit Begeisterung. http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/23_2010_1/huether_lernen%20ist%20begeisterung.pdf
Kelly, G.A. (1955): The psychology of personal constructs. New York: Norton
Wulf, Ch. (2014): Spiel und Ritual. In: Schäfer, A./Thomson, Ch.: Spiel. Paderborn: Ferdinand Schöningh
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Gabriela Moser, PhD., gabriela.moser@fhnw.ch