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Zitiervorschlag

Zur Bedeutung des Freispiels - die IEA-Längsschnittstudie

Martin R. Textor

 

Das IEA Preprimary Project wurde in drei Phasen zwischen 1986 und 2006 durchgeführt. Es wurde von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) finanziert und von der High/Scope Educational Research Foundation koordiniert. Am IEA Preprimary Project beteiligten sich 15 Nationen. Erfasst wurden z.B. die Formen der Kindertagesbetreuung in dem jeweiligen Land, deren Charakteristika und Nutzung, die pädagogische Arbeit und besondere Eigenschaften der Fachkräfte sowie Daten über die betreuten Kinder und deren Familien. Dabei wurden in den teilnehmenden Ländern dieselben Erhebungsinstrumente eingesetzt.

An der dritten Phase beteiligten sich noch 10 der 15 Staaten, und zwar Finnland, Griechenland, Hongkong, Indonesien, Irland, Italien, Polen, Spanien, Thailand und die USA. Per Beobachtung und mit Hilfe von Fragebögen wurden Informationen über das Verhalten von mehr als 1.500 vierjährigen Kindern in der jeweiligen Kindertageseinrichtung, über die Einstellungen und das Verhalten der sie betreuenden Fachkräfte sowie über die Interaktionen zwischen den Erwachsenen und den Kindern gesammelt. Ferner wurden die kognitiven Fähigkeiten und die Sprachentwicklung der Kinder getestet, zunächst mit vier und später mit sieben Jahren.

Montie, Claxton und Lockhart (2007) von der High/Scope Educational Research Foundation fassen die Ergebnisse der Studie wie folgt zusammen: "Im Alter von sieben Jahren erreichten diejenigen Kinder,

  • deren Vorschullehrer/innen oder Betreuer/innen mehr Jahre an Bildung erfahren hatten, höhere Sprachwerte;
  • die mehr Gelegenheiten in der Kita hatten, ihre Aktivitäten selbst zu wählen anstatt ihre Zeit in persönlicher Betreuung (wie Händewaschen, Essen oder Ankleiden) und mit gemeinschaftlichen Beschäftigungen (wie Zeigen und Erzählen) zu verbringen, höhere Sprachwerte;
  • die mit vier Jahren weniger Zeit in Aktivitäten mit der ganzen Gruppe verbrachten, höhere kognitive Werte;
  • die in Kita-Räumen mit einer größeren Zahl und Vielfalt von Materialien waren, höhere kognitive Werte.

Mit anderen Worten, siebenjährige Kinder schnitten bei Sprachtests besser ab, wenn in ihren vorschulischen Einrichtungen die freie Wahl von Aktivitäten im Vordergrund stand und wenn ihre Erzieher/innen mehr Ausbildungsjahre absolviert hatten. Sie waren besser bei kognitiven Tests, wenn sie mehr Zeit in der Kita mit Aktivitäten in der Kleingruppe, für sich alleine oder mit ein oder zwei anderen Kindern verbracht hatten und wenn sie Zugang zu einer größeren Zahl und Vielfalt von Materialien hatten (...)" (S. 23).

Diese vier Ergebnisse wurden gleichermaßen in allen an der Studie teilnehmenden Ländern erzielt - trotz der großen kulturellen Unterschiede zwischen teilnehmenden Ländern wie z.B. Finnland, Polen, Indonesien oder den USA. Dies spricht für universal geltende Beziehungen zwischen bestimmten Charakteristika vorschulischer Betreuung auf der einen und der sprachlich-kognitiven Entwicklung auf der anderen Seite.

Aus den Forschungsergebnissen lassen sich laut Montie, Claxton und Lockhart (2007) folgende Konsequenzen für die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen ziehen:

  • Kinder sollten ihre Lernerfahrungen eigenaktiv und selbsttätig gestalten können, also viel Zeit für das Freispiel bzw. für selbstbildende Aktivitäten haben, die sie entweder alleine oder mit wenigen anderen Kindern durchführen. Sie können sich dann mit Materialien und Tätigkeiten beschäftigen, die ihren aktuellen Interessen, Lernwünschen und Entwicklungsbedürfnissen entsprechen, und dabei in dem ihrnen eigenen Tempo vorgehen.
  • Freispielphasen sollten relativ lang sein, sodass sich beispielsweise anspruchsvollere Rollenspiele oder komplexere Bautätigkeiten mit verschiedenen Materialien entwickeln können, die entsprechend viel Zeit benötigen (empfohlen werden 45 bis 60 Minuten). In solchen Situationen kommt es besonders oft zu kognitiv anregenden Interaktionen zwischen einzelnen Kindern, bei denen sie z.B. Rollen verteilen und diskutieren, Pläne schmieden, Probleme eigenständig lösen, mit Materialien experimentieren oder Spielregeln festlegen. Leistungen, Lernerfolge und ausgefallene Ideen der Kinder sollten von den Fachkräften entsprechend gewürdigt und verstärkt werden.
  • Insbesondere während der Freispielzeit ergeben sich viele Möglichkeiten für Erzieher/innen, sich als Spielpartner in das (Rollen-) Spiel einiger weniger Kinder einzubringen und es dann komplexer zu gestalten, sodass die Lernerfahrungen intensiviert werden (was voraussetzt, dass zunächst die Kinder bei ihrer Betätigung beobachtet wurden). Auch können die Fachkräfte mit (einzelnen) Kindern über deren jeweilige Aktivität interagieren und dabei die Sprachentwicklung fördern.
  • Aktivitäten mit der ganzen Gruppe (gemeinsame Spiele, Singen, Vorlesen, mathematisch-naturwissenschaftliche Beschäftigungen usw.) sollten im Kita-Alltag bei weitem weniger Raum einnehmen. Sie entsprechen zu wenig den jeweils aktuellen Interessen und dem individuellen Entwicklungsstand der einzelnen Kinder und stimulieren weniger das Lernen und die Kreativität als selbstbestimmte Betätigungen (mit wenigen anderen Kindern). Wenn sich Aktivitäten mit der ganzen Gruppe nicht vermeiden lassen, sollte jedes Kind möglichst die ganze Zeit aktiv sein (z.B. ein Instrument spielen, einen Ball haben, eine Rolle spielen).
  • Erzieher/innen sollten mit den Kindern mehr kognitiv anregende Gespräche führen und dabei einen größeren Wortschatz (mehr seltene Wörter) und einen komplexeren Satzbau verwenden, wie dies bei besser gebildeten Personen der Fall ist. Sie können in Spielsituationen Fragen aufwerfen und die Kinder zum Nachdenken, zum Experimentieren oder zum eigenständigen Suchen nach Problemlösungen anregen. Während sich die Kinder mit den neuen Herausforderungen befassen, sollten sich die Fachkräfte zurückhalten, die Kinder beobachten und nur bei Bedarf z.B. durch einige wenige Fragen und Anregungen Unterstützung bieten.
  • Für Kleinkinder besonders interessante Materialien sind solche, die viele Verwendungsmöglichkeiten zulassen. Dazu gehören Stoffreste, Bänder, Lederstücke, große Kartons, Plastikgefäße und -flaschen, Knöpfe, Perlen, Rohre, Schrauben usw. - Gegenstände, die im Familienhaushalt oder beim Heimwerken als "Müll" anfallen, und dementsprechend von Eltern kostenlos zur Verfügung gestellt werden können. Die Kreativität wird auch durch Naturmaterialien wie Zweige, Nüsse oder Tannenzapfen angeregt, die von den Kindern bei Ausflügen im Park oder im Wald gesammelt werden können.
  • Wartezeiten (z.B. vor dem Mittagessen, bis sich alle Kinder die Hände gewaschen haben; vor Ausflügen, bis alle auf dem Klo waren) sollten nutzbringend gestaltet werden, indem z.B. mit den Kindern gesungen wird oder Fingerspiele gemacht werden.
  • Eltern sollten über die Bedeutung des (Frei-) Spiels informiert werden.

Ferner machte das IEA Preprimary Project erneut deutlich, wie wichtig eine möglichst hohe Bildung bzw. eine lange Ausbildung von Erzieher/innen und anderen Fachkräften ist.

Anmerkung

Weitere Informationen und Literaturhinweise sind auf der Website http://www.highscope.org zu finden.

Literatur

Montie, J.E./Claxton, J./Lockhart, S.D.: A multinational study supports child-initiated learning. Using the findings in your chassroom. Young Children 2007, 62 (6), S. 22-26

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de