Kinder brauchen Traditionen

Aus: Unser Auftrag 1990, Nr. 7/8, S. 23-24 (gekürzte Fassung)

Ingeborg Becker-Textor und Martin Textor

Es ist nicht zu bestreiten, dass die Ausgestaltung des Familienalltags sowohl früher als auch heute überwiegend in der Hand der Frauen und Mütter liegt, dass Traditionen von ihnen weitergetragen und quasi "vererbt" werden. So obliegen zum Beispiel die Vorbereitung und Organisation von Familienfesten in der Regel noch der Frau. Durch die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit bleibt jedoch immer weniger Zeit, Traditionen und Rituale in der Familie zu pflegen. So verwundert es nicht, dass Kindergeburtstage im Schnellimbiss gefeiert werden oder das Weihnachtsfest zu einem bloßen Fest der Geschenke geworden ist.

Als Konsequenz der Veränderung der Bedeutung von Tradition und Brauchtum in der Familie wächst vor allem den Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen eine neue Bedeutung im Bereich der Fest- und Feiergestaltung zu. Bei einer ausgewogenen Sinn- und Werterziehung sowie ganz besonders im Bereich der religiösen Erziehung spielen Brauchtum, Traditionen und Rituale eine wichtige Rolle. Auch sind zum Beispiel Hilfen und Anregungen anzubieten, wie Feste und Feiern im Familienkreis neu belebt werden können. Dabei kann auf die Erlebnisse und Erfahrungen der älteren Generation zurückgegriffen werden. Kinder sind sehr daran interessiert, "wie es früher einmal war". So sind Fragen wie "Was hast Du an Deinem Geburtstag erlebt, als Du ein Kind warst?" keine Seltenheit. Kinder haben bereits ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein und ein engeres Verhältnis zur Überlieferung als wir Erwachsene wahrhaben wollen. Es ist sicher richtig, dass Kinder sich in unserer heutigen Welt zurechtfinden müssen. Das schließt jedoch nicht aus. dass auch die Vergangenheit mit ihren tradierten Überlieferungen erhalten bleiben muss und nicht durch neuzeitliche Errungenschaften und Trends verdrängt werden darf. Ist es nicht ein Auftrag der kirchlichen Erwachsenenbildung, den Wert der Fest- und Feiergestaltung durch modellhafte Beispiele und Anregungen wieder neu zu beleben? Könnten nicht verstärkt Angebote und Anregungen gegeben werden, wie zum Beispiel Feste und Feiern wieder in das Familienleben integriert werden können? Sollten nicht beispielsweise im Kindergarten Begegnungen zwischen Kindern und alten Menschen herbeigeführt werden, so dass erstere mehr über vergangene Zeiten lernen können?

Kinder brauchen Erfahrungen und Erlebnisse im Umgang mit Traditionen, denn dies gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Viel zu oft müssen sie nämlich heute in den verschiedensten Lebenslagen Verluste hinnehmen. Immer wieder erleben sie, dass das, was heute noch da war, sich morgen schon verändert hat. Das macht Angst. Nur wenn Kinder sich fest verwurzelt fühlen, können sie die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen. In der Auseinandersetzung mit dem soziokulturellen Wandel erfahren sie aber zugleich, dass Veränderungen "normal" und Teil des heutigen Lebens sind, so dass sie diese eher akzeptieren können.

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