Peter Bünder
Durch die weitreichenden gesellschaftlichen Umbruchprozesse bedingt haben sich unter anderem auch die Zielvorstellungen und die damit verbundenen Aufgaben der Kindergartenpädagogik deutlich verändert. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der PISA- und IGLU-Studien entwickelte sich eine anhaltende bildungs- und familienpolitische Debatte, deren zentrales Ergebnis die Festschreibung eines Bildungsauftrages für die Kindertageseinrichtungen ist (vgl. Schäfer et al. 2010; Thole et al. 2008). Einrichtungen für Kinder wie Kindergärten, Kindertagesstätten und Krippen sollen nicht nur versorgen, betreuen und erziehen, sondern die Kinder mit aktivierenden Bildungsangeboten fördern, um sie angemessen auf eine erfolgreiche Teilhabe in der Gesellschaft vorzubereiten.
Ein Aspekt dieser Debatte ist - analog zu der Praxis in vielen anderen Ländern - der Ruf nach einer Hochschulausbildung für Erzieher/innen in Form eines Bachelor für Frühpädagogik (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2005). Gleichzeitig wird eine verstärkte, umfassendere Fort- und Weiterbildung für Beschäftigte in Kindertagesstätten als unverzichtbar angesehen. Für die Qualifizierung von Erzieher/innen werden Fort- und Weiterbildungen interessant, die eine hohe Praxisrelevanz aufweisen. Langjährige Erfahrungen zeigen, dass hier die Videoberatung nach der Marte Meo-Methode mit ihren eindringlichen und aussagekräftigen Filmen eine hohe Akzeptanz und Nachfrage erreicht.
Marte Meo-Methode - ein Überblick
Marte Meo wurde von der Holländerin Maria Aarts entwickelt. Der Name ist aus dem Lateinischen abgeleitet und bedeutet sinngemäß etwas "aus eigener Kraft" erreichen (vgl. Aarts 2008, S. 41). Etwas "aus eigener Kraft zu erreichen" ist Grundidee und zugleich Programm dieser einfachen, konkreten und praktischen Form der Unterstützung von Eltern in Fragen der Erziehung und des Zusammenlebens mit Kindern. Entwickelt wurde das Konzept im Grenzbereich zwischen stationärer Betreuung von Kindern mit Beeinträchtigungen der sozialen oder psychischen Entwicklung und der ambulanten Hilfe für deren Familien. Die Idee war, Eltern ähnliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, die sich auch die Fachkräfte angeeignet haben, um diese Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern.
Der Anspruch von Marte Meo ist, Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen von Kindern zu unterstützen, ihre Fähigkeiten im Umgang mit Kindern zu (re-) aktivieren und auszubauen. Durch die Realisierung förderlicher Interaktionen mit dem Kind sollen die Erwachsenen unterstützt und ermutigt werden, ihre eigenen Möglichkeiten zu nutzen, um die Entwicklung des Kindes anzuregen und zu begleiten.
Der Vorläufer von Marte Meo war das "Orion-Hometraining", welches von Maria Aarts und Harry Biemans zwischen 1978 und 1987 in Holland entwickelt wurde. Aus dem Orion-Hometraining entstanden später einerseits das "Video-Home-Training" (VHT), andererseits die Marte Meo-Methode (vgl. Bünder et al. 2010, S. 18 ff.).
Eltern erfahren mit Hilfe der Methode, wie genau sie ihr Kind unterstützen, fördern und leiten können. Sie sehen in der Beratung an den Videobildern aus ihrem Alltag, was sie genau tun können und wann sie besser etwas unterlassen. Im Zentrum der Beratung steht, wie sie dies mit einfachen aber verständlichen Worten ihrem Kind mitteilen können. In einer Marte Meo-Beratung erhalten Eltern konkrete Informationen über ihre Möglichkeiten, den Entwicklungsprozess ihrer Kinder zu unterstützen, sodass sie schrittweise ihre Erziehungsaufgaben und Probleme aus eigener Kraft lösen lernen.
Zentraler Bestandteil der Marte Meo-Arbeit ist eine detaillierte Interaktionsanalyse von Filmaufnahmen aus familiären Alltagssituationen (z.B. Mahlzeiten, Pflegetätigkeit, Spielsituationen, Zubettgeh-Situationen u.a.). Während die Eltern mit der Beraterin (1) gemeinsam die einzelnen Videosequenzen anschauen, wird der Alltag - sowohl die kompetenten als auch die problematischen Reaktionen der Eltern - sichtbar. Anspruch der Methode ist, die jeweilige Unterstützung und Anleitung für die einzelnen Eltern "maßgeschneidert" anzubieten, damit diese in die Lage kommen, ihre eigene Lösungen zu entwerfen (vgl. Øvreeide/ Hafstad 1996).
Grundlagen für die Entwicklung der Methode waren Beobachtungen von Eltern mit angemessen entwickelten sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit ihren normal entwickelten Säuglingen (vgl. Aarts 2008). Die Fragestellung war: "Was tun diese Eltern genau, dass man hinterher sagen kann, sie fördern und unterstützen ihr Kind in seiner Entwicklung?" Videoaufnahmen halfen, solches förderliche Elternverhalten genauer zu analysieren. Das Ergebnis der Auswertung des umfangreichen Filmmaterials war die Formulierung von fünf grundlegenden Elementen einer förderlichen Basiskommunikation, die als Bausteine so genannter "entwicklungsfördernder Dialoge" (Øvreeide/ Hafstad 1996, S. 18 ff.) zwischen Eltern und Kind angesehen werden. Diese grundlegenden Elemente sind:
- Eltern nehmen die Initiativen oder Signale ihres Kindes wahr.
- Eltern gehen auf die Initiativen oder Signale ihres Kindes ein im Sinne von: "Ich habe dich wahrgenommen!"
- Eltern benennen konsequent,
- die Initiativen oder Signale, die sie bei ihrem Kind wahrnehmen (sein Verhalten, seine Empfindungen, seine Absichten),
- was sie selbst tun oder tun werden,
- was in diesem Moment oder später geschehen wird,
- was das Kind tun kann, aber nicht, was es lassen soll.
- Eltern wechseln ab in ihrer Kommunikation.
- Eltern beziehen ihre Kinder aufeinander.
- Eine Person nach der anderen kommt dran (im Gespräch, beim Spiel, beim Essen).
- Komplexe Aufgaben werden "Schritt für Schritt" gelöst. Eine Handlung folgt der nächsten ("Jetzt essen wir gemeinsam, danach kannst du etwas draußen spielen").
- Eltern leiten und lenken die Kommunikation.
Sie sind verantwortlich für das Zusammenleben und die Kommunikation, geben durch sie Struktur und gestalten mit ihr die Atmosphäre des Augenblicks.
(vgl. Bünder et al. 2010, S. 65 ff.).
Gerahmt werden diese fünf Kommunikationselemente von zwei Meta-Elementen, welche in der Beratung die notwendige wertschätzende und fehlerfreundliche Atmosphäre sicherstellen sollen:
- Der angemessene Ton:
Mit den Eltern wird bei Bedarf erarbeitet, wie ein ruhiger, warmer Ton ihrem Kind Übersicht, Sicherheit und Klarheit vermittelt. Auch für den Konfliktfall müssen Eltern einen Ton bereithalten, der dem Inhalt und Anlass dieser Situation angemessen ist.
- Konstruktive Dialogtechnik:
Mit den Eltern wird daran gearbeitet, dass sie durch die Art ihrer Dialoge mit dem Kind ein Höchstmaß an Klarheit und Übereinstimmung erzielen.
(vgl. Bünder et al. 2010, S. 85).
Eine Entwicklungsförderung im Sinne der Marte Meo-Methode geschieht immer im alltäglichen Umgang zwischen Bezugsperson und Kind, wenn die oder der Erwachsene so mit einem Kind interagiert und kommuniziert, dass seine grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse befriedigt und es bei der Erfüllung seiner momentanen Entwicklungsaufgaben unterstützt wird. Entwicklungsbedürfnisse sind Ausdruck der inneren Dynamik eines jeden Menschen, von Beginn seines Lebens an wachsen und sich entwickeln zu wollen. Es sind die Bedürfnisse nach:
- Sicherheit und Versorgung, um Urvertrauen entwickeln zu können.
- Zugehörigkeit, um Bindung und Beziehung eingehen zu können.
- die Welt in Besitz zu nehmen, um selbständig zu werden.
- nach Kontakt und Interaktion, weil das Kind nur in der Beziehung, durch die Erfahrung, "gesehen" zu werden, sich selbst als Person wahrnimmt.
- nach Ermutigung, Bestätigung und Anerkennung, um seine Fähigkeiten und Fertigkeiten (Kompetenzen) entwickeln zu können.
- nach Kooperation, um sich durch Spiel, mit Spaß und Spannung zu einem sozialen Wesen zu entwickeln.
(vgl. Kellmer Pringle 1975).
Marte Meo in der Kindergartenpädagogik
Schon sehr früh stellte sich heraus, dass die Methode nicht nur in der Elternberatung, sondern auch für die Unterstützung und Beratung von Fachkräften in Kindertagesstätten hilfreich eingesetzt werden kann. Dabei wurden zwei Weisen entwickelt, die sich wechselseitig verstärken können. Zum einen kann Marte Meo auch in der Kindertagestätte für die Beratung von Eltern eingesetzt, zum anderen für die Aus- und Weiterbildung von Praktikant/innen und Berufsanfänger/innen sowie zur Qualitätssicherung im Team genutzt werden.
a) Ebene der Eltern
Spätestens seit den Arbeiten von John Bowlby (2001) und Mary Ainsworth (1978) ist bekannt, wie bedeutsam der Prozess des Aufbaus einer Bindungsrepräsentanz für das junge Kind ist. Nur einem "sicher gebundenen Kind" fällt es auch in der Einrichtung leicht, eine hinreichende Balance zwischen "sicherem Hafen" (Schutz) und Exploration (Erkundung) auszuloten und unbeschwert neue Erfahrungen zu sammeln. Wie notwendig ein Kind seine verlässlichen Bindungspersonen braucht und wie sehr diese "unsichtbaren Bindungen" bis ins Erwachsenenalter wirken, belegen die langjährigen Studien von Grossmann und Grossmann (2004).
Sofern Erzieher/innen in der Einrichtung Eltern erleben, deren intuitive elterlichen Fähigkeiten durch Mangel an Zuwendung in der eigenen Kindheit, massive Beeinträchtigungen der persönlichen Entwicklung oder durch aktuelle Krisen nicht ausreichend entwickelt werden konnten oder blockiert sind, kann es sehr hilfreich und entlastend sein, wenn diesen Eltern im Interesse des Kindes eine begleitende professionelle Unterstützung nach der Marte Meo-Methode angeboten werden kann.
Grundlage dieser Beratung sind auch hier Videoaufnahmen aus dem Alltag. Nach Möglichkeit können diese im Lebensfeld der Familie aufgenommen werden oder im Rahmen der Einrichtung. Fokus der Aufnahme ist immer die Interaktion zwischen den Erwachsenen und den Kindern. Die Aufnahmen werden im nächsten Schritt einer genauen Interaktionsanalyse hinsichtlich der Entwicklungsbedürfnisse des Kindes und der sichtbaren elterlichen Kompetenzen unterzogen. Dabei sind folgende Fragen handlungsleitend:
- Was können die Eltern (gut)?
Welche Elemente der förderlichen Basiskommunikation praktizieren sie bereits spontan?
- Welche Kommunikationselemente können und sollten sie im Interesse ihres Kindes erweitern oder entwickeln?
- Was muss gegebenenfalls von außen (vorübergehend) ergänzt werden?
Hier gilt das Postulat, dass die Kinder, um eine psycho-soziale Grundversorgung zu erhalten, nicht warten können, bis ihre Eltern ausreichende Fähigkeiten dafür entwickelt haben.
- Wie korrespondiert das, was wir sehen und analysieren, mit der Frage, dem Anliegen, der Problemsicht der Eltern?
Für das Beratungsgespräch, hier "Review" genannt, wird aus dem Bildmaterial des Films jeweils nur ein Arbeitsthema ausgewählt, welches nach Möglichkeit mit einem Anliegen der Eltern verknüpft sein soll, damit deren Motivation für die Beratung gestärkt wird.
In der Regel endet ein Beratungsgespräch mit der Formulierung einer Aufgabe oder Anregung, die die Eltern bis zur nächsten Filmaufnahme ausprobieren können. Diese nächste Aufnahme zeigt dann, ob die Aufgabe passend und für die Eltern leistbar war - d.h. welche Schritte sie im Hinblick auf die Weiterentwicklung ihrer elterlichen Kompetenzen gehen konnten. Schritt für Schritt werden so ihre elterlichen Fähigkeiten in dem für sie passenden Tempo und mit den für sie bedeutsamen Inhalten ausgebaut.
Durch die Betrachtung der Bilder und ihrer eigenen Fortschritte werden sich die Eltern selbst zum Modell. Sie beobachten sich selbst in dem, was sie tun und was ihnen gelingt, wo sie anwenden oder gebrauchen können, was ihnen bereits an anderer Stelle gelungen ist. Sie schauen sich quasi von außen zu, wie sie in der jeweiligen Filmsequenz auf ihre Kinder reagieren und worauf sie reagieren.
Durch die Beratung erhalten die Eltern einerseits Raum und Zeit, anzusprechen, was sie sehen, denken und fühlen, während sie sich selbst im Film zuschauen. Andererseits können ihnen anhand der Bilder konkrete Informationen über die Entwicklungsbedürfnisse ihrer Kinder und praktische Möglichkeiten der Entwicklungsförderung vermittelt werden. Diese Informationen werden nicht allgemein, sondern in einer einfachen Sprache spezifisch für die Eltern vermittelt, d.h. zugeschnitten auf ihr Verständnis und ihre Bedürfnisse und die ihrer Kinder! Die Arbeit nach der Marte Meo-Methode hat damit immer beides im Blick: die Förderung kindlicher Entwicklung und die begleitende Förderung elterlicher Kompetenzen.
Eine Marte Meo-Beratung unterstützt somit die Entwicklung von Kindern, indem sie den Eltern hilft, gute Eltern zu sein. Die Herausforderung für Erzieher/innen, die diese Kombination von niederschwelliger Beratungs- und Bildungsarbeit anbieten wollen, besteht darin, dass sie lernen müssen,
- die Anliegen, Fragen und Sorgen der Eltern wirklich ernst zu nehmen, auch wenn anderes vordringlicher erscheint.
- sich an das Denk- und Lerntempo der Eltern anzupassen, wenn sie möchten, dass auch sie lernen, sich an das Denk- und Lerntempo ihrer Kinder anzupassen.
- sich an die Sprache und das Verständnis der Klienten anzupassen, wenn sie möchten, dass die Eltern sich an das Verständnis und die Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Kinder anpassen.
- Informationen, wie das Zusammenleben mit den Kindern leichter und besser werden kann, nicht aus ideologischen Gründen vorzuenthalten (nach dem Motto "Die Eltern müssen selbst drauf kommen!"), sondern ihnen anhand der Videobilder praktische Möglichkeiten aufzeigen, die sie direkt in ihren Alltag umsetzen können.
- die Eltern auf der Basis einer wertschätzenden Beziehung zu fordern in dem Sinne, dass sie sie ermutigen, eine positive und förderliche Beziehung zu ihren Kindern einzugehen, damit die Kinder es besser haben können. Darüber bekommen die Eltern die Chance, auch sich selbst weiter zu entwickeln, um mehr und mehr das Gefühl eigener Selbstwirksamkeit zu erhalten.
- immer in den Blick zu nehmen, in welchem größeren sozialen Kontext, unter welchen sozialen und materiellen Bedingungen diese Familien leben und was sie bereits mit ihren begrenzten Möglichkeiten Tag für Tag bewältigen (ungünstige Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Schulden usw.).
(vgl. Sirringhaus-Bünder/ Bünder 2007, S. 145-146).
b) Ebene der Einrichtung
Im Laufe der Jahre haben viele Mitarbeiter/innen von Kindertagesstätten sich durch eine Weiterbildung in der Methode qualifiziert (2). In den Einrichtungen wird dabei auf verschiedenen Ebenen mit Marte Meo gearbeitet:
- gegenseitige kollegiale Beratung,
- Anleitung von Praktikanten
- Videointeraktionsanalysen in den Spielgruppen,
- Fortbildung für den Bereich Sprachförderung,
- Elternberatung.
Der Schwerpunkt der Marte Meo-Beratung liegt innerhalb der Teams zumeist auf einer kollegialen Beratung (3). Wechselseitig werden Filme von Alltagsszenen aus der Gruppe erstellt und daraus ausgewählte Sequenzen im Team vorgestellt und diskutiert. Damit wird der gemeinsame Blick auf die Ressourcen der Kinder gerichtet. Die vorliegenden Bilder helfen, den Blick zu objektivieren, sodass bloße Mutmaßungen und Interpretationen eher weniger Raum einnehmen können.
Speziell bei so genannten schwierigen Kindern und zum Zeitpunkt neuer Gruppenzusammenstellungen fällt es den Erzieher/innen durch die große Arbeitsbelastung manchmal schwer, jedes einzelne Kind mit seinen Entwicklungsbedürfnissen ausreichend wahrzunehmen. Besonders in diesen Zeiten bietet die Marte Meo-Beratung eine wertvolle Unterstützung.
Die Arbeit mit und in Kindergruppen ist auch für die Kindergartenpädagogik konstitutionell. In der pädagogischen Arbeit mit mehreren Kindern kann der Einsatz der Marte Meo-Methode für eine gelingende Unterstützung der Kinder von Vorteil sein. Anders als bei einer Eins-zu-eins-Betreuung eines Kindes, die sich durch die gewisse Exklusivität der Beziehung auszeichnet, muss eine pädagogische Fachkraft in einem Gruppensetting gegebenenfalls drei, vier oder mehr Kindern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und unterschiedlichen Bedürfnissen gleichzeitig gerecht werden. Es stellt sich die Aufgabe, sowohl mit dem einzelnen Kind als auch mit der Gruppe angemessen umzugehen.
Die Vorstellungen der Marte Meo-Methode hinsichtlich einer entwicklungsfördernden Kommunikation haben sich auch in Kontexten von Gruppen als hilfreich erwiesen. Da mehrere Kinder miteinander eine angenehme und förderliche Zeit verbringen sollen, stellen die Vorstellungen der Marte Meo-Methode einen Meta-Rahmen dar, der sich geschmeidig an die jeweilige inhaltliche und didaktische Ausrichtung der Gruppe anpassen kann. Im Zentrum steht nicht der jeweilige Inhalt, sondern eine förderliche Kommunikation, für die Marte Meo einsteht.
Für die Kinder in einer Gruppe ist eine gelingende Kooperation das Bindemittel, welches die Gruppe zusammenhält. Von daher ist die Erzieherin oder der Erzieher gut beraten, diesen Kooperationsaspekten ausreichend Beachtung zu schenken, das heißt dafür aktiv in eine Modellposition zu gehen. Das Kooperationsverhalten von Kindern in Gruppen zu unterstützen bedeutet konkret:
- Initiativen des Kindes wahrnehmen, sie einen Moment aufmerksam verfolgen, bis ihre Bedeutung klar ist - dabei unbedingt auf nonverbale Signale beachten!
- Erkennen, worauf das jeweilige Kind seine Aufmerksamkeit (Fokus) gerichtet hat.
- Durch Benennen, kongruente Mimik und Gestik die Aufmerksamkeit des Kindes auf das richten, was es jetzt gemeinsam mit anderen tun kann/soll.
- Schritt für Schritt benennen, Beteiligte dabei aufeinander beziehen, abwechseln zwischen Personen und Dingen (zum Beispiel beim Spiel) und zwischen Aktionsmoment und Kontaktmoment.
- Erwünschtes Verhalten groß machen und angemessen loben, das heißt mehr und positiv anerkennend auf erwünschtes als auf unerwünschtes Verhalten reagieren.
- Arbeitsergebnisse präsentieren, positives Endsignal nicht vergessen!
(vgl. Bünder et al. 2010, S. 276).
Eine besondere Unterstützung bietet Marte Meo für die Anleitung von Praktikant/innen und Berufsanfänger/innen. In Einrichtungen, die mit der Marte Meo-Methode arbeiten, werden diese regelmäßig zu vereinbarten Zeiten in ihren jeweiligen Aktivitäten mit Kindern gefilmt. In einem anschließenden Review wird gemeinsam herausgearbeitet, welche Aspekte im Umgang mit den Kindern förderlich und welche gegebenenfalls verbesserungsbedürftig sind. Für die Ausbildungskräfte und jungen Kolleg/innen wird die wertschätzende Rückmeldung so zu einem sehr nachdrücklichen Ereignis, weil die Einsicht über die Videobilder eine präzisere Nachbereitung und Weiterentwicklung möglich macht.
In einigen Familienzentren in Nordrhein-Westfalen werden für Kinder unter drei Jahren, die noch keinen Regelplatz erhalten können, Spielgruppen mit und ohne Eltern angeboten. Im Evangelischen Familienzentrum Jakobus in Hamm werden in diesen Spielgruppen mit entsprechender schriftlicher Zustimmung der Eltern die Kinder ebenfalls in gewissen Abständen gefilmt. Das gewonnene Filmmaterial wird im Hinblick auf das Spielverhalten und die dem zugrunde liegenden Entwicklungsbedürfnisse analysiert. Die Ideen aus der Video-Interaktionsanalyse werden zum einen genutzt, um das Raum- und Spielangebot zu optimieren, und zum anderen, um im Einzelfall die Eltern zu beraten.
In einer anderen Einrichtung in Hamm, der Evangelischen Kindertagestätte Uphof, wird Marte Meo speziell für den Bereich der Sprachförderung von deutschen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund eingesetzt. In Kombination mit dem Projekt "Hören, Lauschen, Lernen" (Küspert/ Schneider 2006) und dem Förderprogramm "Sismik - Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkinder in Kindertageseinrichtungen" (Ulich/ Mayr 2003) unterstützt die Marte Meo-Methode den ganzheitlichen Bildungsansatz der Einrichtung. Filme von Sprachfördereinheiten im Gruppenalltag werden aufgenommen und daraufhin analysiert, inwieweit die entwicklungsfördernden Kommunikationselemente der Marte Meo-Methode gekonnt genutzt wurden.
Ausblick
Marte Meo hilft nicht immer. Die Grenzen des Angebotes können klar umrissen werden. Voraussetzung für den Erfolg und eine positive Wirkung der beschriebenen Methode in der Einrichtung ist, dass die Eltern der Kinder ein mindestens rudimentäres Interesse an einer gelingenden kindlichen Entwicklung zeigen und bereit sind, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür einzusetzen. Wo Eltern durch ihre Biografie bedingt so eingeschränkt oder aktuell durch eigene körperliche, psychische oder wirtschaftliche Probleme so sehr belastet sind, dass sie keine Kraft und keinen Mut aufbringen können, ihren Blick auf die notwendige Unterstützung ihrer Kinder zu richten, kommt auch eine Marte Meo-Methode an ihre Grenzen.
Die erforderliche Motivation von Eltern kann gegebenenfalls in Einzel- oder Gruppenangeboten verstärkt werden; ein Minimum an freiwilligem Engagement ist aber unverzichtbar. Wenn Belastungen von Eltern ihre eigenen Kräfte übersteigen, benötigen sie zunächst andere Hilfe und Unterstützung, gegebenenfalls spezielle therapeutische Angebote. Da die Befriedigung der Entwicklungsbedürfnisse von Kindern aber nicht warten kann, ist es unabdingbar zu prüfen, ob der Rechtsanspruch des Kindes auf Entwicklung und Erziehung nicht vorübergehend mehr kompensatorisch sichergestellt werden muss. Weil Marte Meo kein "Allheilmittel" ist, sondern nur eine bewährte spezielle Beratungsform, die hilft, klarer und wirksamer mit Kindern zu kommunizieren, ersetzt sie keine therapeutischen Angebote oder praktische Hilfen zur Bewältigung des Familienalltags. Marte Meo bietet eine fruchtbare Ergänzung dort, wo es gelingt, durch Unterstützung die Eltern für die persönliche Förderung ihrer Kinder zu gewinnen und zu qualifizieren.
An Grenzen stößt eine Marte Meo-Beratung auch, wenn sich in der Einrichtung Kolleg/innen der Methode gegenüber - aus welchen Gründen auch immer - nicht öffnen wollen oder können. Analog zu der Arbeit mit Eltern gilt auch hier, dass die Freiwilligkeit gewahrt werden muss.
Kritisch muss angemerkt werden, dass eine Bildungsarbeit in einer Kindertageseinrichtung in Verbindung mit einer niederschwelligen Eltern- und Familienbildung politisch nicht nur gewollt, sondern auch angemessen finanziert werden muss. Bei aller Begeisterung für die Vorteile und sichtbaren Resultate der Marte Meo-Methode haben die Fach- und vor allem Leitungskräfte der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein neues Angebot nur im Rahmen der übrigen fachlichen, organisatorischen und administrativen Belange etabliert werden kann. Eine ausgeweitete Beratungszeit für Eltern beispielsweise wäre sehr wünschenswert, ist aber häufig im Personal- und Finanzierungskonzept der Einrichtung nicht vorgesehen.
Im Hinblick auf die notwendige Finanzierung des "Bildungsauftrages" besteht nach meinen Erfahrungen eine große "Glaubwürdigkeitslücke" zwischen den hehren Worten und den nicht ausreichenden (materiellen) Zuwendungen der politisch Verantwortlichen. Will man tatsächlich eine familienfreundliche Kindergartenpädagogik und Elternbildung auf hohem Niveau entwickeln, müssen verstärkt finanzielle und personelle Ressourcen bereitgestellt werden. Die in diesen neoliberalen Zeiten auch in politischen Kreisen verbreitete "Geiz ist geil-Ideologie" ist - nimmt man den Gedanken einer notwendigen Nachhaltigkeit auf - letztlich einfach nur dumm.
Anmerkungen
- In diesem Artikel wird weitgehend die weibliche Form verwendet. Frauen stellen - wie insgesamt in der Sozialen Arbeit - auch in der Frühpädagogik den allergrößten Teil der Beschäftigten. Dies gilt analog auch die Arbeit mit der Marte Meo-Methode. Männer sind aber gleichermaßen angesprochen.
- Einen Überblick über zertifizierte Fachkräfte nach der Marte Meo-Methode bietet die Internetseite des Internationalen Marte Meo-Netzwerkes in Holland unter www.martemeo.com.
- Kollegiale Beratung oder auch Intervision ist ein feststehender Begriff in der Sozialen Arbeit mit verschiedenen Facetten: Zum einen ist es ein regelgeleitetes Beratungsverfahren (exemplarisch: Hendriksen 2000), zum anderen ein Synonym für einen fallbezogenen kollegialen Austausch. Kollegiale Beratung findet in Kindertagestätten häufig in Bezug auf ein bestimmtes Kind oder eine bestimmte Gruppe statt.
Literatur
Aarts, M.: Marte Meo. Ein Handbuch. Harderwijk: Aarts Productions, 2. Aufl. 2008
Ainsworth, M.D. et al.: Patterns of Attachment. Hillsdale, NY: Erlbaum 1978
Bowlby, J.: Frühe Bindung und kindliche Entwicklung (Original 1953). München: Reinhardt, 4. Aufl. 2001
Bünder, P./Sirringhaus-Bünder, A./Helfer, A.: Lehrbuch der Marte-Meo-Methode. Entwicklungsförderung mit Videounterstützung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Aufl. 2010
Grossmann, K./Grossmann, K.E.: Bindungen. Das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2004
Hawellek, C.: Das Mikroskop des Therapeuten. Zeitschrift "Systema" 1995, Nr. 1, Seite 6-28
Hendiksen, J.: Intervision. Kollegiale Beratung in Sozialer Arbeit und Schule. Weinheim: Beltz 2000
Kellmer-Pringle, M.: The Needs of Children. London: Hutchinson 1975
Küspert, P./Schneider, W.: Hören, Lauschen, Lernen. Sprachspiele für Kinder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 5. Aufl. 2006
Øvreeide, H./Hafstad, R.: The Marte meo Method and Developmental Supportive Dialogues. Harderwijk: Aarts Productions 1996
Schäfer, G.E./Staege, R./Meiners, K. (Hg.): Kinderwelten - Bildungswelten. Unterwegs zur Frühpädagogik. Berlin: Cornelsen 2010
Sirringhaus-Bünder, A./Bünder, P.: Niederschwellige Elternbildung und Erziehungspartnerschaft. Ein Beitrag im Rahmen der Marte Meo-Videoberatung. Zeitschrift "jugendhilfe", 2007, 45 (3), S. 139-148
Thole, W./Roßbach, H.-G./Fölling-Albers, M./Tippelt, R. (Hg.): Bildung und Kindheit. Pädagogik der Frühen Kindheit in Wissenschaft und Lehre. Opladen: Barbara Budrich 2008
Ulich, M./Mayr, T.: Sismik. Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen. Freiburg: Herder 2003