Norbert Huppertz
Vorbemerkung
Kinder verbringen heute einen großen Teil ihres Lebens mit pädagogischen Fachkräften in öffentlichen Einrichtungen. Das bedeutet, dass die Erziehungs- und Bildungsverantwortung für das Kind geteilt wird zwischen Eltern einerseits sowie den Erzieherinnen und Erziehern in Krippe, Kindergarten, Schule und Hort andererseits. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer guten und methodisch reflektierten Zusammenarbeit der Professionals mit den Eltern der Kinder. Eine der zahlreichen Formen dieser Zusammenarbeit ist das sog. Tür-Angel-Gespräch. Dieses soll in der vorliegenden Abhandlung erörtert werden.
Meine Überlegungen ergeben sich nach einer etwa 50-jährigen Erfahrung und Reflexion zur Elternarbeit, über die wir überhaupt verfügen. Natürlich hat es in den etwa 150 Jahren seit der Gründung des Kindergartens durch Friedrich Fröbel (1772-1852) auch immer Eltern und eine Art Zusammenarbeit mit ihnen gegeben, eine fundierende, wissenschafts- und forschungsbasierte Theoriebildung indessen erfolgte erst etwa seit den 1970er-Jahren – in erster Linie beginnend durch meine Publikation „Elternarbeit vom Kindergarten aus“ (Aufl. ca. 100.000 Exemplare).
Wie allgemein bekannt, haben sich die Formen und Methoden der Zusammenarbeit zwischen den Erziehungspartnern – besonders in den letzten zwei Jahrzehnten – ziemlich verändert. Wie es ebenfalls oft heißt, seien auch „die Eltern“ „heute total anders“. Das wäre eine interessante Frage für die Kooperationsforschung. Zu den evidenten Veränderungen gehört vor allem die digitalisierte Elternarbeit. Kindergärten und Krippen haben heute ihre Konzeptionsschrift im Internet stehen, und mit sowie zwischen Eltern wird selbstverständlich elektronisch kommuniziert. Dass eine Pandemie unsere Kindergärten und Kitas voll umfänglich trifft und besonders mit Blick auf Eltern und Familien vor enorme Herausforderungen stellt, erfahren alle Betroffenen zur Genüge. Das alles bedeutet aber nicht, dass die Grundpfeiler und Elemente einer gelingenden Elternarbeit nicht prinzipiell die gleichen geblieben seien: Das Wesen der hier in Rede stehenden Erziehungspartnerschaft mit Blick auf das Kind und dessen Wohlergehen hat sich seit Fröbel nicht verändert und wird gleichbleiben. Geändert haben sich manche Umstände.
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Allgemeine Betrachtung
„Zwischen Tür und Angel“ ist eine gängige und allgemein verbreitete Redewendung der deutschen Sprache. Andere Sprachen verwenden dafür eher Umschreibungen. Die „Angel“ ist in dieser bildlichen Redewendung nicht die Angel zum Fischen, sondern das Scharnier, mit dessen Hilfe eine Tür befestigt ist und bewegt werden kann. Damit wird deutlich, dass mit „zwischen Tür und Angel“ etwas gemeint ist, das wohl eher klein und kurz ist; denn zwischen die Tür selbst und ihrer Halterung (die Angel) passt nicht viel. Eine Tür soll ja „gut schließen“. So erklärt sich auch der besonders in der Pädagogik geläufige Begriff „Tür-Angel-Gespräch“, z.B. zwischen Eltern und Erzieherin – anscheinend wohl kurz und bündig gemeint. Aber: Achtung! Es geht um wesentlich mehr, wie man hier sehen wird.
„Zwischen Tür und Angel“ wird sprachlich z.B. bei „open thesaurus“, in Verbindung gesehen mit „flüchtig“, „im Vorübergehen“, „en passant“ etc. (vgl. openthesaurus.de, Artikel „Zwischen Tür und Angel“). Das werde mit zwischen Tür und Angel assoziiert und seien entsprechende Synonyme, so dieser Thesaurus. Aber einige dieser Aspekte sollten in der pädagogischen Begegnung zwischen Tür und Angel eher vermieden werden, z.B. flüchtig und oberflächlich; so möge die Erzieherin einer Mutter oder einem Vater beim Bringen oder Holen ihres Kindes doch wohl nicht begegnen. Allerdings wird auch niemand zwischen Tür und Angel ein vertieftes Beratungsgespräch erwarten dürfen. Da liegt nun aber auch die gewisse Problematik, deretwegen es sich lohnt, dieser Form der Elternarbeit mehr und tiefere Reflexion zu widmen, als dies wohl gewöhnlich geschieht.
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Die Eigenart der Rolle der pädagogischen Fachkraft
Eine Erzieherin im Kindergarten ist eben nicht nur „Erzieherin“ der Kinder, sondern – und darum geht es bei der hier zu besprechenden Form der Zusammenarbeit – sie ist auch Erziehungspartnerin der Eltern der Kinder bzw. deren Sorgeberechtigten. Und demgemäß wird sie ihre Rolle verstehen und ausfüllen. Die pädagogischen Fachkräfte müssen prinzipiell ihre Rolle als verantwortliche Erziehungspartner der Eltern bedenken und verwirklichen. Eltern sind nicht ihre „Kunden“, und deshalb hat auch die Begegnung der Erziehungspartner zwischen Tür und Angel einen völlig anderen Stellenwert als der Kontakt der Verkäuferin mit ihren wirklichen „Kunden“ an der Kasse, wenngleich beide freundlich gegenüber dem anderen sein sollen.
Ein Kind von Eltern am Morgen in seine Obhut zu nehmen und dafür Sorge zu tragen, kann in seinem Grad an Verantwortung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Phänomen der Erziehungspartnerschaft lebt von der zwischenmenschlichen Beziehung der beteiligten Erwachsenen einerseits und dem pädagogischen Bezug zum Kinde andererseits, und zwar sowohl seitens der Eltern zu ihrem Kind als auch seitens der pädagogischen Fachkraft zu eben diesem Kind. Alles das macht deutlich, dass es um etwas ganz Außergewöhnliches geht, und nicht um etwa ein flüchtiges geschäftliches Geschehen, wie sonst oft im Leben. Genau das muss auch bedacht werden mit Blick auf das Tür-Angel-Gespräch in der Pädagogik. Dabei ist zu sehen, dass um so mehr Sensibilität an den Tag zu legen ist, je nach Alter des Kindes, um das es geht: Beim Krippenkind und Kindergartenkind sind die Erwartungen wesentlich anders, als bei Kindern im späteren Alter, z.B. in Hort oder Schule, wenngleich auch dort die persönliche Begegnung der Erziehungspartner von großer Bedeutung ist.
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Definition und Zielsetzung
Natürlich glaubt man zu verstehen und zu wissen, um was es sich handelt beim Tür-Angel-Gespräch und insofern mag vielleicht ein Definitionsversuch überflüssig erscheinen. Nun haben wir aber ja gerade dieses Problem, ja geradezu als eine Art „Krankheit“ in der Pädagogik, dass vielfach die wesensmäßigen Grundfragen nicht gestellt werden, z.B. „Was ist eigentlich und an sich Erziehung?“, „Was ist Bildung?“ etc. Deshalb fehlt oft gleichsam das Fundament, und somit entsteht evtl. Chaos in der praktischen Arbeit. Hier geht es um Fragen „Was ist vom Wesen der Sache her Elternarbeit?“, „Was ist Begegnung?“, „Was ist Betreuung ‚an sich’ und ‚überhaupt’“? usw.
Behilflich bei einer solchen phänomenologischen Annäherung sind die sog. W-Fragen, die auch bei einer Reflexion der Tür-Angel-Begegnung zu stellen sind. (Ob das Wort „Tür-Angel-Gespräch“ überhaupt sinnvoll ist und das Wesen der pädagogischen Sache überhaupt treffen kann, mag einmal dahingestellt sein; verbinden wir doch den Begriff „Gespräch“ herkömmlich damit, dass es sich um eine vertiefte Face-to-Face-Kommunikation handelt, z.B. beim echten Beratungsgespräch.
Exkurs
Bevor eine theoretische Analyse erfolgt, soll ein Fall aus der wirklichen Praxis zeigen, um was es geht: Eine Mutter hat ihr Kind im Kindergarten angemeldet und bringt es während der ersten Tage und Wochen täglich in die Einrichtung. Dem Kind scheint es dort trotz erfolgter Eingewöhnung nicht gut zu gehen – und der Mutter noch viel weniger. Die Mutter hat den stillen Wunsch zu erfahren, was mit ihrem Kind im Kindergarten „denn eigentlich ist“. Sie beklagt in ihrem Freundeskreis – nicht gegenüber dem Kindergarten –, dass sie zu wenig Informationen erhalte vom Kindergarten, obwohl sie doch täglich die Erzieherin sehe. Sie hat aber nicht den Mut, diese anzusprechen. Eines Tages verweigert das Kind den Gang zum Kindergarten. „Hätte die mich doch nur ein einziges Mal angesprochen“, so die Aussage der betreffenden Mutter, wobei mit „die“ die Erzieherin ihres Kindes gemeint war. Pädagogische Fachkräfte werden gleich sagen, dass die Zusammenarbeit mit Eltern doch wechselseitig erfolgen müsse. Das schien aber bei dieser schüchternen Mutter nicht der Fall zu sein. Deshalb sei auch hier angemerkt, was ich seit Anfang der 1970er-Jahre vertrete: „Elternarbeit vom Kindergarten aus“. Gemeint ist sinngemäß mit diesem Titel: Der Kindergarten, also die Professionellen, sollten die Initiative ergreifen und gegenüber den Eltern pro-aktiv tätig werden, nicht aber abwarten bis „etwas passiert ist“, gleichsam „das Kind in den Brunnen gefallen ist“. Sonst ist eine große Chance vertan. Die zentrale Botschaft dieses Beispiels: Die Tür-Angel-Begegnung kann sehr bedeutsam sein und sollte nicht unterschätzt werden.
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Das Tür-Angel-Gespräch gibt es selbstverständlich auch außerhalb der praktischen Pädagogik in Alltagsbegegnungen. Folgende definitorische Annäherung kann für das pädagogische Tür-Angel-Gespräch zugrunde gelegt werden: Beim pädagogischen Tür-Angel-Gespräch begegnen einander normalerweise zwei Personen (manchmal mehr), wobei die eine der anderen ihr eigenes Kind in deren Obhut überantwortet, also Verantwortung überträgt; bei diesem Vorgang kann sprachliche Kommunikation erfolgen über Inhalte, die mehr oder weniger Relevanz haben können – je nach gegebener Lage oder Befindlichkeit der beteiligten Personen, vor allem auch des Kindes. Die Überantwortung des Kindes geschieht meistens zu Beginn des Tages. Die Begegnung ist von kurzer Dauer und kann täglich erfolgen. Im Regelfall gehört die aufnehmende Person einer öffentlichen Einrichtung an; hier in erster Linie die sog. Kita, also Krippe oder Kindergarten.
- Tür-Angel-Gespräch und heutige Elternarbeit
4.1 Warum und wozu Elternarbeit? – Funktionen
Mit dieser Frage berührt man einen grundsätzlichen Punkt, den es aber zu berücksichtigen gilt, wenn wir fundiert über das Tür-Angel-Gespräch sprechen wollen. Ich unterscheide in meiner Theorie von Elternarbeit begrifflich zwischen:
- Funktionen,
- Formen,
- Methoden.
Um dieses zu verdeutlichen, gebe ich je ein Beispiel:
Eine Funktion ist z. B. die wechselseitige Beratung zwischen professionellen Erzieherinnen und Erziehern einerseits sowie Eltern (oder sonstigen rechtlich befugten Personen) andererseits.
Eine Form der Elternarbeit ist z.B. der Elternabend.
Eine Frage der Methodik ist es, wie z.B. am Elternabend vorgegangen wird, etwa ob Eltern einbezogen und aktiviert werden, etwa durch aktivierende Gruppen- bzw. Partnerarbeit, oder ob sie nur einen „Vortrag hören“.
Um eine Technik handelt es sich, wenn die Erzieherin beispielsweise in einem Beratungsgespräch das aktive Zuhören praktiziert, um etwa Eltern in ihrem Anliegen wirklich zu verstehen (Zum Verständnis und zur Vertiefung verweise ich auf meine Publikation „Aktivierende Methoden der Elternarbeit in Kindergarten und Krippe“, PAIS-Verlag Oberried 2015).
Um das Tür-Angel-Gespräch fundiert bedenken und einordnen zu können, bedarf es einer knappen Erwähnung der Funktionen. Bei den Funktionen unterscheide ich begrifflich:
- Integrieren,
- Beraten,
- Informieren,
- Mitarbeiten und Mit-Sprechen (Das ist eine Rangfolge; a.a.O., S. 6).
Integrieren: Eltern sollten sich mit und in „ihrer“ Einrichtung wohlfühlen. Dann geht auch ihr Kind gerne dorthin.
Beraten: Das meint eine wechselseitige dialogische Begegnung auf Augenhöhe. Dieses Verständnis von Beraten setzt eine gute Beziehung voraus und gibt sich nie lehrmeisterlich. Informieren: Wichtige Themen dabei sind die Lage und Befindlichkeit des Kindes, u.a. in der Familie; Vertraulichkeit muss dabei selbstverständlich sein, auf beiden Seiten.
Mitarbeiten: Wenn Eltern sich bei Festen und Aktionen beteiligen, dann tun sie das lieber, wenn sie auch bei Fragen der Mitentscheidung Gehör finden.
Mitsprache: Dabei geht es um einen argumentativen Austausch im echten Sinne, nicht in erster Linie um mehrheitliche Kampfabstimmungen.
Das Tür-Angel-Gespräch kann mehreren dieser Funktionen dienen, wobei diese sowieso lediglich durch eine theoretische Analyse zustande kommen – sich allerdings sehr wohl auch in der Praxis, etwa in Krippe, Kindergarten und Schule, zeigen. In erster Linie, aber nicht ausschließlich, werden beim Tür-Angel-Gespräch wohl die ersten beiden Funktionen bedient, nämlich Informieren und Integrieren.
4.2 Tür-Angel-Gespräch als Form der Elternarbeit und die Annahme des Kindes
Über Jahrzehnte hinweg habe ich Formen und Methoden der Elternarbeit des Kindergartens kreiert und gesammelt. Die Summe ergab deren etwa 45, angefangen vom intensiven Aufnahmegespräch über den Elternabend, die Elternzeitung, die schriftliche Befragung usw. usw. Eine dieser Formen, und zwar nicht eben die unwichtigste, wie in dieser Abhandlung deutlich wird, ist das Tür-Angel-Gespräch – vor allem im Elementarbereich. (Zu den 45 Formen vgl. a.a.O., S. 10 ff.). Die 45 Formen ergeben eine umfassende Praxistheorie der Zusammenarbeit mit Eltern in pädagogischen Einrichtungen. Man kann die Formen in verschiedene Gruppen einteilen, z.B. funktionale versus intentionale.
Eine intentionale Form ist z.B. das organisierte Elterntreffen bzw. der Elternabend: Denn der Elternabend wird gezielt geplant und vorbereitet, z.B. zu einem bestimmten Thema (etwa: Wie soll das Sommerfest gestaltet werden?). Es sind dies die „inszenierten“ Formen. Daneben haben wir aber auch die Kontakte zwischen professionellen Erziehern und Eltern, die sich gleichsam „ergeben“, z. B. beim Bringen und Holen des Kindes (Auf die „Annahme des Kindes“ ist noch einzugehen). Aber auch bei anderen an sich eher flüchtigen Begegnungen kann es zu Kommunikationen kommen.
Was soll die Erzieherin machen, wenn ihr beim Einkaufen die Mutter eines „ihrer Kinder“ über den Weg läuft und sie wegen ihres Kindes in irgendeinem Problemzusammenhang anspricht? Knigge hätte gesagt, das wäre von der Mutter aus, weil die Erzieherin hier nicht in ihrer eigentlichen, beruflichen Rolle sei, nicht gemäß „dem Anstand“. Nur hilft das hier nicht. Die Erzieherin muss professionell damit umgehen und bei Gelegenheit einen Gesprächstermin vereinbaren (das meine ich mit funktionaler Elternarbeit).
Das Tür-Angel-Gespräch hat ebenfalls viel von solcher Funktionalität, muss jedoch in seinem Wesen von der „Annahme des Kindes“ her betrachtet werden; aus dieser Sicht ergibt es sich eher funktional.
Annahme des Kindes
Eltern werden heute im Kindergartendiskurs nicht selten als „Kunden“ bezeichnet und betrachtet. Ich halte dieses für fatal. Denn: Wenn Eltern die „Kunden“ sind, werden die Kinder bald zur „Ware“; aus keinem anderen Grunde als um das Wohl des Kindes willen, geraten dessen Eltern und die pädagogischen Fachkräfte überhaupt zueinander. Eltern sind Erziehungspartner mit dem gemeinsamen Ziel des gelingenden Lebens des betreffenden Kindes – und deshalb dürfen sie nicht zu „Kunden“ degradiert werden. (Im Übrigen verbietet sich eine solche Terminologie schon aus elternrechtlichen Gründen.) Der Wechsel eines Kindes, besonders eines kleinen Kindes, aus der Obhut und Betreuung einer Person in die Obhut und Betreuung einer anderen Person ist in einer guten Pädagogik ein ureigenes Phänomen.
Das darf auf keiner der beiden Seiten übersehen werden. Bei der Annahme des Kindes, etwa aus dem Blickwinkel z.B. der pädagogischen Fachkraft in der Einrichtung, lassen sich durchaus Aspekte aus dem Leben von Erwachsenen bei besonders herzlichen Begegnungen der freundschaftlichen Begrüßung oder Verabschiedung in Betracht ziehen. Es muss in unserer Kultur nicht erwartet werden, dass die Erzieherin bzw. der Erzieher jedes Kind am Morgen beim sog. Bringen umarmt; aber jedem Kind (s)einen freundlichen Blick, ein Lächeln, ein paar freundliche Sätze (ein „Sprachgeschenk“ in meiner Terminologie), evtl. einen Händedruck (zu normalen Zeiten), zukommen zu lassen, halte ich für möglich und eine schöne Sitte.
Trug ich doch diesen Gedanken mehrfach in Erzieherfortbildungen vor und musste einmal vernehmen: „Gut, Herr Professor! Sie müssten aber unseren Betrieb einmal erleben. Bei vielen unserer Eltern ist es so: Sie machen das Törchen zum Kindergarten auf, lassen das Kind rein, und verschwunden sind sie.“ Meine Reaktion darauf und mein Kommentar dazu als engagierter Elternarbeitsvertreter ist leicht vorstellbar: Wie ebenso, dass Elternarbeit vom Kindergarten aus, also pro-aktiv von den Professionals her, nicht aber von den Eltern her dort der Entwicklung bedarf. Oft genug gibt es beim Qualitätsstand noch Luft nach oben.
In jedem Fall bedarf es für eine moderne, hochwertige Kindergartenarbeit einer fundierten und reflektierten Kultur der Annahme des Kindes, und zwar je jünger das Kind ist, umso dringlicher. Das alles gehört wesentlich zum Phänomen der Tür-Angel-Begegnung.
Nicht zuletzt muss in diesem Zusammenhang auch erinnert werden an den besonders wichtigen Punkt des „pädagogischen Verhältnisses“. Alle klassische Pädagogik – und der Autor zählt sich dazu, beginnt mit diesem ureigensten Topos ihres Metiers, weil es sich dabei mit um das Wichtigste in der gesamten pädagogischen Arbeit handelt: Das Verhältnis (auch die Beziehung oder der Bezug, die Relation genannt) zwischen dem Kind einerseits und der verantwortlichen Person andererseits: dieser Bezug ist die Basis allen erzieherischen und bildnerischen, aber auch betreuerischen Geschehens und Erfolges, wie Misserfolges.
4.3 Ziele und Themen des Tür-Angel-Gespräches
Das Tür-Angel-Gespräch, so dürfte deutlich geworden sein, ergibt sich im Rahmen der Annahme des Kindes, ist aber deshalb keineswegs gleichsam als eine Art „Nebenprodukt“ anzusehen. Die Kontakte dabei können je nach Gegebenheit sehr unterschiedlich sein. Manche Eltern mögen und brauchen sie eben völlig anders als andere. Pädagogische Fachkräfte, nicht zuletzt die Leitungskräfte, können dabei sehr unterschiedlich vorgehen. Allerdings gilt immer das Prinzip der Ansprechbereitschaft. Die Fachkräfte werden oft genug die Ambivalenz dieser (meist morgendlichen) Situation erleben: einerseits für die Kinder da sein (Annahme und Begrüßung, Aufsicht, Anregung usw.), andererseits Ansprachebereitschaft gegenüber den Eltern – ohne sich von einer betreffenden Mutter zum Beispiel in Beschlag nehmen zu lassen. Das ist wahrlich wohl täglich eine ziemliche Herausforderung.
Ich zähle das in meiner Pädagogiktheorie zu den sog. natürlichen Dialektiken, um welche zu wissen und die anzunehmen es gilt. Sie gehören essenziell zu diesem pädagogischen Beruf. Wer darum nicht weiß und sie auch insofern nicht in Überzeugung annehmen kann, tut sich schwerer. (In einem Kindergarten, den ich kennenlernte, stand die Leiterin, allerdings war sie freigestellt -, jeden Morgen und jeden Mittag oder Nachmittag für alle „Bringenden“ bzw. „Holenden“ sichtbar bereit für Ansprache und Auskunft. Ein Ausnahmefall und, so wird man sagen, ein Luxus. Dennoch kann es der Anregung dienen.)
Die Tür-Angel-Begegnung ist eine wichtige Möglichkeit der Beziehungsgrundlegung. Von ihrer Qualität hängt wesentlich die Güte der Beziehung der Eltern zu „ihrer“ Einrichtung ab. Sie prägt nicht nur die Atmosphäre, sondern auch das Image der Einrichtung. Von der Atmosphäre sowie der Beziehung der Erziehungspartner hängen sehr stark auch die Beziehung zum Kind und dessen gelingendes Leben in der Zeit seines Kindergartenbesuches ab. Das können Jahre sein – Jahre der sensiblen Phasen im Leben dieses Kindes, z.B. der Sprachentwicklung, des Erwerbs der Beziehungsfähigkeit etc.
Ein anderes Ziel der Tür-Angel-Begegnung kann die Vereinbarung eines Besprechungs- oder Beratungstermins sein. Vor einigen Jahren führte ich eine schriftliche Untersuchung zur Elternarbeit durch, unter anderem zu der Frage, was die Themen der Eltern bei der Begegnung mit der Erzieherin seien. Grob zusammengefasst besagten die Antworten, dass Eltern sich – wie nicht anders zu erwarten – in der Hauptsache für ihr Kind und dessen Wohlbefinden in der Gruppe interessieren, viele allerdings auch für dessen Leistungen mit Blick auf die Schule. „Sie wollen jetzt schon Leistungen sehen. Fehlverhalten der Kinder lassen Eltern nicht gelten. Man darf nichts Negatives über ihre Kinder sagen. Sie werden dann sofort frostig, abweisend und uneinsichtig.“ So in meiner Befragung eine Erzieherin wörtlich über „die Eltern“. Das Bild, das pädagogische Fachkräfte von „den Eltern“ haben, vor allem aber ihre eigene Professionalität, nicht zuletzt die kommunikative Kompetenz und der Kommunikationsstil, prägen die gesamte Qualität der Elternarbeit und somit auch die Qualität der Tür-Angel-Begegnung (vgl. auch „Worüber Eltern mit der Erzieherin sprechen“ in Huppertz, Elternarbeit vom Kindergarten aus, Freiburg, 20. Aufl. S. 137 ff.).
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Problempunkte
So sehr nun hier für das Nutzen und die Chancen der Tür-Angel-Begegnung, insbesondere in Krippe und Kindergarten, eingetreten wird, für die Schule entfällt diese Form fast vollständig, u.a. insofern bei Lehrern und Lehrerinnen eine Begegnung mit Eltern vor oder nach dem Unterricht (oder etwa in der Pause) zu den unbeliebtesten Formen der Kooperation mit Eltern gehört, wie meine empirischen Untersuchungen bei der Lehrerschaft zeigten (vgl. Huppertz, Wie Eltern und Lehrer zusammenarbeiten, Freiburg 1979, S. 63 ff.) – so muss doch auch auf gewisse Problempunkte hingewiesen werden, die sich in der Praxis ergeben:
- Prinzip der Gleichbehandlung. Eltern wollen gesehen und beachtet werden. Die Beziehung der Erzieherin bzw. des Erziehers ist nicht die gleiche zu allen Eltern. Die pädagogische Fachkraft läuft nun Gefahr, den ihr besonders Sympathischen mehr Interesse und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen als den anderen. Das darf sie aber nicht. (Ich erinnere an das Beispiel der sog. schüchternen Mutter.)
- Prinzip der Diskretion. Es muss nicht betont werden, dass eine noch so kurze Besprechung von Problemen, die es im Zusammenhang mit einem Kind gibt, nicht im Beisein anderer Eltern zu geschehen hat. Alles „Kritische“, das es evtl. zu besprechen gibt, gehört ausschließlich diskret vor die Betroffenen selbst.
- Prinzip der Ambivalenz. Es war schon die Rede davon, dass die Tür-Angel-Situation immer etwas von einer Dialektik aufweist, welche es anzunehmen gilt. Wir können auch von Ambiguität oder Ambivalenz sprechen; gleichsam „zwei Seelen in einer Brust“, nämlich: Sich dem Kind zuwenden, und evtl. der Mutter oder dem Vater, die dringend eine (wenigstens) kurze Zuwendung benötigen – eine Kunst, die man können kann.
Im Zweifelsfall hat das Kind Vorrang. Alles Geschehen ereignet sich zunächst um seines Wohles willen.
Literatur
Huppertz, N. (2015): Aktivierende Methoden der Elternarbeit in Kindergarten und Krippe. Oberried: PAIS-Verlag
Huppertz, N. (1992): Elternarbeit vom Kindergarten aus. Didaktische und methodische Möglichkeiten in der Sozialpädagogik. (20. Aufl.), Freiburg
Huppertz, N. (1980): Elternmitsprache im Kindergarten. Eine Aufgabe für Eltern, Erzieher, Träger. Freiburg 1980
Huppertz, N. (1980): Gemeinsam erziehen – Eltern und Kindergarten. S. 89-100 In: Raab, P.: Was die Familie zusammenhält. Freiburg 1980
Huppertz, N. (1980): Zusammenarbeit von Kindergarten und Grundschule. Freiburg 1980
Huppertz, N. (m. Rumpf, J.) (1983): Kooperation zwischen Kindergarten und Schule. Beiträge zur Theoriebildung. München
Huppertz, N. (1979): Wie Lehrer und Eltern zusammenarbeiten. Ein methodischer Leitfaden für Kooperation und Kommunikation in der Schule, Freiburg
Huppertz, N. (1988): Die Wirklichkeit der Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus. Beiträge zur Theoriebildung, München 1988
Angaben zum Autor
Prof. Dr. Norbert Huppertz; Professor (emer.) für Erziehungswissenschaft (Allgemeine Pädagogik, Sozialpädagogik, Schwerpunkt Elementarpädagogik) an der Pädagogischen Hochschule Freiburg (University of Education); Studium der Pädagogik, Philosophie und Klassischen Philologie an der Universität Freiburg; Enkelschüler von Edmund Husserl; zahlreiche Publikationen zur Allgemeinen Pädagogik, Autor des ersten Buches „Elternarbeit vom Kindergarten aus“; wissenschaftliche Begleitung von zahlreichen Forschungs- und Entwicklungsprojekten (Näheres siehe Homepage: 111.wibeor-baden.de/huppertz und Eintrag Norbert Huppertz in Wikipedia)