Constanze Anna Strodthoff
Einleitung
Häufig werden Eltern als Experten für ihre Kinder bezeichnet, doch werden sie in Elterngesprächen auch so behandelt? Dieser Artikel hinterfragt die Rollenverteilung der Eltern und Fachkräfte in Elterngesprächen und stellt erstmals das Expertenmodell vor. Intuitiv geführte Entwicklungsgespräche werden häufig nach dem folgenden Schema geführt: Nach der Begrüßung werden die Eltern gefragt, wie es ihnen und dem Kind zurzeit geht, die Fachkraft berichtet von ihren Beobachtungen und nutzt dazu in der Regel ihre Bildungsdokumentation. Hin und wieder werden die Eltern gefragt, ob die Beobachtungen von dem kindlichen Verhalten zuhause abweichen.
Selbstverständlich stellen Beobachtungen über die kindliche Entwicklung im institutionellen Alltag ein unverzichtbares Thema in Elterngesprächen dar, allerdings sollte kritisch hinterfragt werden, inwieweit die elterliche Rolle eine passive, zuhörende und validierende Rolle darstellt. Auch Kuhn, Machold, Schulz (2018) und Cloos (2018) beschreiben eine Asymmetrie in Elterngesprächen, durch eine ungleiche Rollenverteilung: die passive Eltern-Rolle und die aktive, professionelle Fachkraft-Rolle. Eine Haltungsänderung könnte dieser ungleichen Verteilung entgegenwirken. Eltern werden als Experten für ihre Kinder, Familiendynamiken und Biografien bezeichnet (Dusolt, 2013; Klein & Vogt, 2008). Fachkräfte hingegen nehmen die Rolle als Experten für die Bildung, Erziehung und Betreuung (Klein & Vogt, 2008) und das pädagogische Wissen (Dusolt, 2013) ein. Diese Bezeichnungen greift das Expertenmodell auf und schlägt eine Haltungsänderung auf zwei Stufen vor:
A) In Elterngesprächen Eltern als Experten für ihre Kinder und ihr privates Lebensumfeld und Fachkräfte als Experten für den institutionellen Kontext zu sehen.
B) Die Expertenschaft der Eltern auch in schwierigen Situationen aufrecht zu erhalten und sie dazu zu befähigen, eigene Probleme eigenverantwortlich lösen zu können nach dem Motto: Der Experte des Problems ist gleichzeitig der Experte der Lösung.
1. Welches Potenzial liegt in Elterngesprächen?
Studien zeigen Hinweise dafür, dass qualitativ hochwertige Elterngespräche zu einer entwicklungsfördernden häuslichen Lernumgebung beitragen (u.a. Epstein, 2001; Mitchell, Wylie & Carr, 2008; Siraj, Howard, Kingston, Neilsen-Hewett, Melhuish et al. 2019; Sylva, Melhuish, Sammons, Siraj-Blatchford & Taggart, 2004) und sie sich positiv auf die kindliche Entwicklung auswirken können (Blok, Fukkink, Gebhardt & Leseman, 2005; Brooks-Gunn & Markman, 2005; Sylva et al., 2004). Zudem schätzen Eltern die Beobachtungen der Fachkräfte als wichtig für ihr eigenes Handeln ein (Krey, 2015). Das Interesse an einer gemeinsamen Orientierung und an dem Austausch von Informationen (Michl & Geier, 2019) kann als grundlegende Basis für die Zusammenarbeit gesehen werden. Auch die gesetzlichen Verankerungen spiegeln die Relevanz von Elterngesprächen wider: Eltern sollen bei der Erziehung unterstützt und beraten werden (§1. Abs. 3 SGB VIII), die Zusammenarbeit soll die Kontinuität des Erziehungsprozesses sichern (§22a Abs.2 SGB VIII) und an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientiert sein (§22a Abs.3 SGB VIII).
2. Wie werden Elterngespräche aus der wissenschaftlichen Perspektive eingeschätzt?
Über Jahre hinweg wurde bemängelt, dass die Zusammenarbeit mit Eltern als belastend empfunden wird (u.a. Dippelhofer-Stiem & Kahle, 1995; Fröhlich-Gildhoff & Weltzien, 2014; Thiersch, 2008). Gründe für dieses Belastungsempfinden können zum einen daran liegen, dass Fachkräfte sich häufig als nur unzureichend ausgebildet für die wachsenden Anforderungen der Elternarbeit und -gespräche fühlen (Fröhlich-Gildhoff & Weltzien, 2014; Lindner, 2013; Viernickel, Nentwig-Gesemann et al., 2013).
Bereits vor 20 Jahren monierten Rückert, Minsel und Schnabel (2000) Kommunikations- und (adressatengerechte) Aufbereitungsprobleme durch eine fehlende dialogorientierte Kommunikation in Elterngesprächen. Zudem tragen Missverständnisse in der Kommunikation häufig zu einem erhöhten Belastungserleben bei (Dippelhofer-Stiem & Kahle, 1995). Zum anderen zeigte Rißmann (2013) bereits vor 10 Jahren, dass Eltern sich eine stärkere Beteiligung am Bildungsdokumentationsprozess wünschen. Eine Asymmetrie in Elterngesprächen (passive Eltern-Rolle, professionelle Fachkraft-Rolle) wird von Kuhn, Machold & Schulz (2018) und Cloos (2018) bemängelt. Kritisch hinterfragt werden kann, ob Eltern selbst eine passive, zuhörende, Beobachtungen validierende Rolle einnehmen oder ob im gegebenen Gesprächsrahmen lediglich eine passive Rolle erwünscht ist.
Möglicherweise liegen die Gründe für diese Stagnationen, einerseits fehlende Gesprächs- und Elternberatungskompetenzen und andererseits asymmetrische Gesprächsrollen, bei den steigenden Anforderungen (siehe Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020; Cloos et al., 2020), Flüchtlingszuwanderung und Inklusion (Autorengruppe Fachkräftebarometer, 2019) sowie bei der heterogenen Elternschaft als auch ihrem Beratungsbedarf (Fröhlich-Gildhoff & Weltzien, 2014) und den schlechten Rahmenbedingungen (siehe u.a. Klemm & Anbuhl, 2018; Thinschmidt, Gruhne & Hoesl, 2008; Viernickel, Nentwig-Gesemann et al., 2013).
3. Eine Haltungsänderung durch das Expertenmodell als Perspektive?
Zahlreiche Studien zeigen, dass belastende Erwartungshaltungen zwischen Fachkräften und Eltern existierten (Gutknecht, 2015; Helbig, Wieners & Kallert, 2004; Honig et al., 2004; Joos & Betz, 2004; Schreiber, 2004). Positive und negative Erwartungshaltungen zwischen Fachkräften und Eltern können die Zusammenarbeit maßgeblich beeinflussen (z.B. Göbel-Reinhardt & Lundbeck, 2014). Möglicherweise kann das Expertenkonzept ein Ansatz sein, der zeitnah zu mehr Offenheit und gegenseitig wertschätzenden Haltungen führen kann.
Im Elbe-KiTa-Projekt konnten Hinweise gezeigt werden, a) dass Zusammenhänge zwischen der Haltung gegenüber Elterngesprächen und der Selbstwirksamkeit sowie der Sicherheit im elterlichen Umgang bestehen und, b) dass selbstwirksame Fachkräfte sich sicherer im elterlichen Umgang fühlen (Strodthoff, 2022). Daher ist anzunehmen, dass eine positive Haltungsveränderung gegenüber Eltern zu positiven gemeinsamen Gesprächserfahrungen und somit zu selbstwirksameren Fachkräften und langfristig zu mehr Sicherheit im elterlichen Umgang führen können. Auf Basis dieser Annahme und der bemängelten Asymmetrie in Elterngesprächen (Kuhn, Machold, Schulz, 2018; Cloos, 2018) ist es an der Zeit, sich nicht nur kritisch zu äußern, sondern lösungsorientiert ein leicht verständliches und gut umsetzbares Konzept für Elterngespräche in der Praxis vorzuschlagen.
4. Was ist das Expertenmodell?
A) Eltern, Experten des privaten & Fachkräfte, Experten des institutionellen Kontexts
Das Expertenmodell schlägt durch die Ernennung zweier Experten
- Fachkräfte, als Experten der institutionellen Lern- und Entwicklungsumgebung
- Eltern, als Experten der häuslichen bzw. privaten Lern- und Entwicklungsumgebung eine Haltung vor, die es ermöglichen soll, Eltern noch aktiver in den Austausch über die Entwicklung, pädagogische Ziele und Handlungsmöglichkeiten einzubinden.
Dieses Modell beruht auf den Erkenntnissen des Elbe-KiTa Projektes (Strodthoff, 2022), dem systemischen- lösungsorientierten (De Shazer, 1985), dem personenzentrierten Ansatz (Rogers, 1951, 1959) und dem Gmünder Modell (Aich & Behr, 2015).
Wie kann das Expertenmodell in einem Elterngespräch angewandt werden?
Im Folgenden wird ein Gesprächsleitfaden vorgestellt, der darauf ausgelegt ist, Eltern bewusst immer wieder als aktive Experten ins Gespräch einzubeziehen.
a) Ein gelungener Gesprächseinstieg legt das Fundament für ein lösungs- und zielorientiertes Gespräch und sollte keinesfalls mit Smalltalk verwechselt werden. Er kann dazu genutzt werden, sich aufeinander einzustellen, Ängste und Aufgeregtheit zu reduzieren (Radatz, 2011), eine wertschätzende und offene Gesprächsatmosphäre zu entwickeln, über die Rahmenbedingungen des Gesprächs zu informieren und die elterliche Expertenrolle anzusprechen: „Sie sind als Eltern die Experten für ihr Kind, für seine Biografie, seine Vorlieben und Abneigungen, sein Verhalten, seine Entwicklung und seine Beziehungen im Familienalltag.“
Für die Gesprächsvorbereitung kann es hilfreich sein zu wissen mit welchen Themen/Erwartungen/Ängsten/Nöten die Eltern ins Gespräch kommen. Diese können im Vorhinein durch ein Einladungsschreiben erfragt werden (Lindemann, Günster-Schöning, Lahrkamp & Siller, 2021).
b) Fragen nach den Gesprächserwartungen und -zielen sind wichtig für den aktiven Einbezug der Eltern. Es ist schwer, eine Vertrautheit im Gespräch entstehen zu lassen, wenn man die Erwartungen des anderen nicht kennt. Man kann seinen Gesprächspartner besser aktiv ins Gespräch einbeziehen, wenn seine Erwartungen im Gespräch berücksichtigt werden, sonst nimmt er wahrscheinlich eine passive Rolle ein. Die Frage ist, was erhoffen sich die Beteiligten von dem Gespräch (z.B.: einen Austausch, Informationen und Unterstützung). Nach dem Erwartungsaustausch können die Themen gemeinsam sortiert und ein Gesprächsleitfaden erstellt werden.
c) Der Beobachtungsaustausch kann dazu genutzt werden, Situationen in den jeweiligen Kontexten wertfrei miteinander zu vergleichen: „Wie verhält und entwickelt sich das Kind in der KiTa und im privaten Kontext? Gibt es Unterschiede? Welche Effekte hat sein Verhalten (Lindemann et al., 2021)?“
d) Vor der pädagogischen Analyse war der Austausch eher von beschreibender Art, erst an dieser Stelle werden die Beobachtungen zu einem Bild des aktuellen Entwicklungsstandes zusammengefügt und das Verhalten hinterfragt. „Was hat das Kind in seiner Entwicklung bereits geschafft?“, „In welchen Bereichen gibt es noch Lern-/ Entwicklungschancen?“, „Warum verhält es sich in bestimmten Situationen so?“, „Welche Bedürfnisse könnten hinter dem Verhalten stehen?“ Das Hinterfragen von Verhaltensmustern kann dabei helfen, ein Verhalten als Ist-Zustand (nicht als permanent) und somit als eine Möglichkeit zur Entwicklung/zum Lernen (Hohmann & Wedewardt, 2021) zu sehen.
e) Konkrete Zielvereinbarungen für das Kind im privaten und institutionellen Kontext können dabei helfen, ein lösungsorientiertes Denken anzuregen, eine Orientierung im Alltag zu bieten und pädagogische Handlungsweisen abzuleiten.
f) Pädagogische Handlungsmöglichkeiten können als Wege zu den Zielen gesehen werden und beschreiben, wie ein Ziel erreicht werden kann. Durch die Elbe-KiTa Studie konnte gezeigt werden, dass praktikable und gut umsetzbare Gesprächsinhalte wichtig für Eltern sind (Strodthoff, 2022). Es scheint daher sinnvoll, Handlungsmöglichkeiten für die jeweiligen Kontexte (Zuhause und KiTa) auszutauschen und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten, Perspektiven und Ansatzpunkte zu beleuchten. Ziel ist es, dass beide Parteien von dem Wissen des jeweils anderen Experten profitieren können. Ein stichpunktartiges Brainstorming (Lindemann et al., 2021) oder eine Mind-Map können hilfreich sein und langfristig beiden Parteien als Orientierung und Motivationsstütze dienen.
g) Zum Gesprächsausstieg können die Ziele und Handlungsoptionen zusammengefasst werden und eine Rückmeldung zum Gespräch erfragt werden, um dieses Feedback für die Gesprächsreflexion nutzen zu können (Lindemann et al., 2021). Beim nächsten Gesprächstermin können sich beide Parteien über ihre Erfahrungen austauschen, um die Ziele und Handlungsweisen zu reflektieren.
Zusammenfassend können 1.) das gemeinsame Erschaffen eines Bildes vom aktuellen Entwicklungsstand des Kindes in seinen unterschiedlichen Lebensräumen sowie 2.) der Austausch über Ziele als auch 3.) das gemeinsame Überlegen von pädagogischen Handlungsmöglichkeiten, 4.) das jeweilige Ausprobieren in den Lebenskontexten und 5.) erneut ins Gespräch darüber Kommen als Ziele für ein Elterngespräch nach dem Expertenmodell bezeichnet werden.
B) Der Experte des Problems ist gleichzeitig der Experte der Lösung
Sobald Eltern in Elterngesprächen eine aktivere Rolle einnehmen, entstehen häufiger private Themen als Gesprächsinhalte. Bei sehr einnehmender, schwieriger Thematik entwickeln sich wahrscheinlich Entwicklungsgespräche zu Problemgesprächen. Aich, Behr & Kuhn (2017) schätzen die Beratung und die Konfliktlösung neben der Gesprächsführung, als zentrale Elemente für die Zusammenarbeit mit Eltern ein.
Die Experten-Idee kann auf die Haltung gegenüber den „mitgebrachten Problemen“ der Eltern, übertragen werden: Der Experte des Problems ist gleichzeitig der Experte der Lösung. Während der Problemschilderung können Fachkräfte, darüber nachdenken (Meta-Ebene), wer der Experte des Problems ist:
- Tritt das Problem im privaten Kontext auf? Familien/Eltern sind die Experten
- Tritt das Problem im institutionellen Kontext auf? Fachkräfte sind die Experten
- Tritt das Problem in der KiTa und zu Hause auf? Beide Parteien sind die Experten
In Situationen in denen Eltern ihre Sorgen, Ängste und Nöte ansprechen, reagieren Fachkräften häufig intuitiv. Möglicherweise nehmen sie eine übermotivierte oder dominante Haltung ein in der sie Eltern als hilflos, ratsuchend oder auch unfähig sehen und sich selbst als wissend, handlungsfähig und helfend wahrnehmen (Aich & Behr, 2015). In solchen Situationen werden häufig „gut gemeinte Ratschläge“ gegeben (Gührs & Nowak, 2013). Fraglich ist allerdings, ob diese zur Familie und der Situation passen und langfristig umgesetzt werden (können).
Zusätzlich verstärkt werden solche Situationen durch Eltern, die ein negatives Selbstkonzept offenbaren und Beschämung, Verunsicherung oder Hilflosigkeit zeigen. Dann werden Fachkräfte buchstäblich dazu eingeladen, helfend und intuitiv „gute Ratschläge“ zu geben (Aich & Behr, 2015). Diese passen jedoch häufig nicht zur familiären Situation und können aufgrund zu hoher Belastungen oder fehlender Praktikabilität meist nicht (dauerhaft) umgesetzt werden. In der systemischen Beratung werden Ratschläge gänzlich vermieden.
Kleine, gemeinsam erarbeitete Lösungsschritte werden zielführender, als fertige Lösungswege eingeschätzt (Radatz, 2011; Aich & Behr 2015), außerdem können mitfühlendes Zuhören, und geeignete Gesprächs- und Fragetechniken Wertschätzung zeigen und der erste Schritt zu einer offenen Gesprächsatmosphäre sein (Radatz, 2011).
„Hilf Eltern, es selbst zu tun“
Fachkräfte versuchen alltäglich jedes Kind so anzunehmen wie es ist. Sie begleiten es bei seiner Entwicklung und unterstützen es dabei seine Entwicklungsschritte alleine zu schaffen. Wie wäre es diese Haltung auch auf Eltern, ihre Wege und Handlungsweisen zu übertragen? Die Familien werden dabei unterstützt, selbstständig eine angemessene Entwicklungsumgebung für ihre Kinder zu gestalten. Eltern können selbst ihre Herausforderungen lösen, denn sie sind in den meisten Fällen gesund und fähig zur Problemlösung (Radatz, 2011). Sie sind die Experten für ihren Familienalltag. Die Familie entscheidet für sich selbst, welchen Weg sie gehen möchte. Meist wird in Elterngesprächen durch geeignete Gesprächs- und Fragetechniken deutlich, dass sie ihr Problem bereits erkannt hat, es genau beschreiben können und bereits verschiedene Lösungsmöglichkeiten ausprobiert hat.
Eine Stärkung des Selbstwertgefühls der Eltern kann einen positiven Einfluss auf die kindliche Entwicklung ausüben (Coleman & Karraker, 2003). Es konnte beispielsweise gezeigt werden, dass selbstwirksame Eltern häufiger Unterstützungsstrategien nutzen, während Eltern mit einem geringen Selbstwirksamkeitsgefühl weniger engagiert im Alltag mit ihren Kindern sind (Ardelt & Eccles, 2001). Ein Ziel des Expertenkonzepts ist, dass unsichere Eltern gemeinsam mit Fachkräften, gleichberechtigt als Experten, Beobachtungen austauschen, Ziele entwickeln und unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten in Betracht ziehen und somit die Eltern durch den pädagogischen Diskurs langfristig ein stärkeres Selbstwertgefühl entwickeln. Die Bedürfnisse hinter dem kindlichen Verhalten zu ergründen und mit einem bedürfnisorientierten Blick handeln zu können, kann für Eltern eine neue Herangehensweise an Probleme sein und möglicherweise vor oder anstatt der Erziehungsberatung ein erster Schritt sein, der niederschwellig und präventiv wirken kann.
Zusammenfassend sind die Ziele 1.) dass der Experte des Problems, zu jeder Zeit des Gesprächs, der Experte bleibt und der Gesprächspartner ihm die entsprechende Selbstverantwortung überlässt, 2.) „gut gemeinte Ratschläge“ zugunsten einer fragenden und für die Ideen des Gesprächspartners offenen, wertschätzenden und akzeptzierenden Gesprächshaltung zurückgestellt werden und 3.) Strategien für den Umgang mit herausfordernden Situationen gefunden werden, damit eine lösungsorientierte Richtung eingeschlagen werden kann.
5. Welche Vorteile könnte eine Haltungsänderung mit sich bringen?
1. Es könnte ein ganzheitlicheres Bild vom Entwicklungsstand entstehen, wenn neben dem institutionellen der private Kontext mehr Berücksichtigung finden würde.
2. Ziele und Handlungsmöglichkeiten könnten jeweils an beide Kontexte angepasst werden und gewinnen an Transparenz.
3. Pädagogische Haltungen können auf einer wertschätzenden und offenen Ebene hinterfragt und diskutiert werden.
4. Der pädagogische Diskurs könnte in die Familien getragen werden. Ein Protokoll könnte als Erinnerungsstütze und Orientierung im Alltag dienen und ermöglichen, die Inhalte nach dem Gespräch weiterzugeben, sodass Eltern die Handlungsmöglichkeiten gemeinsam ausprobieren und weiterentwickeln können.
5. Unsichere oder auch stark belastete Eltern könnten davon profitieren, gemeinsam mit den Fachkräften Stärken, Ressourcen, Lösungen und Unterstützungsmöglichkeiten zu sammeln und auf ihre Praktikabilität zu überprüfen. Es kann angenommen werden, dass Eltern, die als Experten gesehen werden, sich als selbstwirksam erleben können und dies ihr Selbstvertrauen stärken kann.
6. Der Austausch kann für Eltern neue Perspektiven, Orientierung und Herangehensweisen eröffnen. Sie können dabei unterstützt werden, ein eigenes pädagogisches Bewusstsein zu entwickeln und verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auszuprobieren. Zusammenfassend ist anzunehmen, dass beide Parteien von einer Haltungsänderung profitieren können und der gemeinsame Erziehungsauftrag noch besser umgesetzt werden kann.
7. Wie kann das Expertenmodell in der Praxis umgesetzt werden? Eine Gegenüberstellung der Entwicklungs- und Verhaltensbeobachtungen kann zu einem ganzheitlichen aktuellen Bild vom kindlichen Entwicklungsstand führen, denn Kinder verhalten sich in unterschiedlichen Lebensräumen anders und können jeweils verschiedene Rollen einnehmen.
Eine Umsetzung von Expertengesprächen setzt voraus, dass die Haltung gegenüber den Eltern von wertschätzender, akzeptierender und offener Art ist und man bereit dazu ist, Elterngespräche als gemeinsamen Weg zum Erziehungsauftrag im institutionellen und privaten Kontext zu sehen.
Unter der Berücksichtigung des Potenzials von Elterngesprächen laden folgende Themen zur Diskussion ein:
- Warum wird zurzeit üblicherweise den institutionellen Beobachtungen ein höherer Stellenwert als den elterlichen Beobachtungen zugeschrieben und warum werden Eltern nicht noch mehr dazu ermuntert, ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen zu schildern? Argumente über fehlende zeitliche Ressourcen zeigen, dass eine Reflexion über das Potenzial und die Entwicklung von individuellen, praktikablen Gesprächskonzepten erforderlich sind.
- Die Entwicklung eines individuellen Gesprächskonzepts könnte die Vorbereitung und Durchführung von Elterngesprächen erleichtern und Prozesse für Fachkräfte und Eltern transparenter werden lassen. Dabei sollten die Bedürfnisse der Eltern sowie die gegebenen Rahmenbedingungen als auch die Ressourcen der Fachkräfte berücksichtigt werden.
- Die Beobachtungen der Fachkräfte werden auf einer professionellen Basis durchgeführt, diese Professionalität kann man von Eltern nicht erwarten. Dieses Argument lädt dazu ein, einerseits über die reelle Professionalität der Fachkraft Beobachtungen zu reflektieren und andererseits eine Chance hinter den vermutlich eher intuitiven elterlichen Schilderungen zu sehen, die dazu einladen, Haltungen und Orientierungen zu hinterfragen, da sie pädagogische Perspektiven und Herangehensweisen eröffnen können.
7. Ausblick
Es wird davon ausgegangen, dass die Bildung, Erziehung und Betreuung eine gemeinsame Aufgabe ist und eine enge Zusammenarbeit zu einer Chancenverbesserung der Kinder führen kann (z.B. Betz, Bischoff, Eunicke, Kayser & Zink, 2017). Eine Haltungsänderung, weg von der passiven Elternrolle in Elterngesprächen, hin zu Expertengesprächen, könnte als ein erster praktischer Schritt zu einer Qualitätsentwicklung im Bereich der Elterngespräche führen. Um langfristig mehr Sicherheit in Elterngesprächen entwickeln zu können, sind jedoch theoretische Kenntnisse über Gesprächs- und Fragetechniken, den Umgang mit unterschiedlichen Grundhaltungen (Berne, 2016) sowie aufkommenden Problemen und Konflikten in Gesprächen erforderlich.
Die Verankerung von Elternberatung und Gesprächsführung in den Curricula der Aus- und Fort-Bildungen und Modulplänen könnten zu einer Kompetenzsteigerung beitragen (OECD, 2019). Die vorgeschlagene Haltung des Expertenmodells kann als Basis für die Entwicklung von Gesprächs- und Beratungskompetenzen gesehen werden, ist jedoch kein Ersatz für diese. Aktive Eltern, Experten für ihre Kinder und ihre familiären Situationen, können der Schlüssel zu Elterngesprächen auf Augenhöhe, zu Expertengesprächen, sein.
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Autorin
Dr. Constanze Anna Strodthoff
Kindheitspädagogin
anna@strodthoff.org
Als staatlich anerkannte Erzieherin arbeitete ich drei Jahre in einer Kindertagesstätte. Ich studierte Kindheitspädagogik (2009-2014) und habe als Mitarbeiterin im Studiengang „Frühkindliche- und Elementarbildung“ in der Pädagogischen Hochschule Heidelberg gearbeitet (2012-2015).
Neben der Lehre (Zentrale Aspekte der Krippenpädagogik, Grundlagen Professioneller Responsivität, Physische Entwicklung, Wissenschaftliches Denken & Arbeiten) habe ich folgende Fortbildungen gehalten (MONDEY „Milestones of Normal Development in Early Years, Elterngespräche in Kindertageseinrichtungen, Förderung sozialer Kompetenzen im Vorschulalter). An der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg promovierte ich zum Thema „Elternberatung in Kindertageseinrichtungen“ (2015-2021) mit einem Promotionsstipendium der Landesgraduiertenförderung der Universität Heidelberg und wurde in dieser Zeit Mutter zweier Kinder.