"Schwierige Eltern gibt es nicht... oder doch?"

Susanne Kast

"Schwierige Kinder gibt es nicht... oder doch?" - So lautet der Titel eines Buches von Inge Becker-Textor, das mir in den Jahren meiner bisherigen Berufstätigkeit immer wieder ein guter Ratgeber war. Dies war gerade in den Situationen der Fall, in denen ich Kindern begegnete, die mir deutlich meinen Auftrag als Erzieherin verdeutlichten und mich vor große Herausforderungen stellten.

Um Kinder soll es hier aber nun nicht gehen, sondern um die Personen, die uns ihre Kinder anvertrauen - also um die Kunden unserer Kindertageseinrichtung: die Eltern. Ich habe den Buchtitel von Frau Becker-Textor an den Anfang gesetzt, da ich diese Frage nun für die Eltern stellen möchte: "Schwierige Eltern gibt es nicht... oder doch?"

Ich arbeite in einer Kindertageseinrichtung, die ihre Klientel zu einem Großteil aus einem "sozialen Brennpunkt" einzieht. In unserer Kita treffen sich gut situierte Familien, die so genannte Mittelschicht, aber zu einem wesentlich größerem Anteil Familien mit einem Multiproblemhintergrund: Familien, die seit Generationen zunächst von Sozialhilfe und nun von Hartz IV leben, Familien mit Migrationshintergrund aus mehr als 20 Nationen und Sintifamilien (im Volksmund "Zigeuner"). Viele dieser Familien haben mit Schwierigkeiten wie Schulden, Er- und Beziehungsproblemen, Armut, Gewalt, Sucht, psychischen Problemen, beengten Wohnverhältnissen, geringem Bildungsstand, Sprachbarrieren... zu kämpfen. Diese Probleme, die in den Familien zum Tragen kommen, werden über die Kinder und deren Eltern auch zu Themen, die in unseren Kindergarten getragen werden und somit auch Anliegen für und an uns werden.

Wenn das gelesen wird, entsteht automatisch der Eindruck: "Das sind ja ganz schön schwierige Eltern!" Und damit sind wir wieder bei der Frage, ob es denn schwierige Eltern gibt.

Ich kann vorweg diese Frage kurz damit beantworten, dass es ebenso wenig schwierige Eltern wie schwierige Kinder gibt. Aber es gibt mit Sicherheit eine Vielzahl von Eltern, die ebenso wie Kinder einen deutlichen Auftrag an uns Erzieher/innen stellen.

Im Laufe meiner 12-jährigen Tätigkeit in unserer Einrichtung habe ich festgestellt, dass die Arbeit mit diesen Familien und ihren Kindern eine ganz wichtige ist und dass es einige Dinge gibt, die mir helfen, diesen Familien zu begegnen, ihr Vertrauen zu gewinnen und mit ihnen partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Ein ganz wichtiger Aspekt ist, diese Eltern ernst zu nehmen und nicht mit Vorurteilen, die ihre Herkunft oder den Hintergrund betreffen, auf sie zu reagieren. Auch eine Haltung wie "Ich weiß schon, was bei denen los ist oder was sie falsch machen und ändern müssen" führt in der Regel nicht dazu, ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen.

Es ist wichtig, nicht "von oben herab" oder "besserwisserisch" auf die Eltern zuzugehen, sondern mit der Dankbarkeit für das Vertrauen, das sie uns entgegen bringen, indem sie uns das anvertrauen, was ihnen am Wichtigsten ist: ihre Kinder. Da stellt sich für viele wahrscheinlich schon die Frage, ob die Kinder denn wichtig seien, wenn erlebt wird, wie der Umgang der Familienmitglieder miteinander ist, dass die Eltern keinen Rat von außen annehmen, dass sie zum Alkohol greifen, Gewalt anwenden usw. Egal, in welchen Situationen und welchem Hintergrund die uns anvertrauten Kinder aufwachsen und wie auch immer wir mitunter den Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern erleben: Die Eltern lieben ihre Kinder, und es ist ihnen immens wichtig, wie es den Kindern geht. Sie möchten nur das Beste für ihre Kinder. Das zu erkennen und zu verinnerlichen ist eine wichtige Voraussetzung für und in der Zusammenarbeit mit Eltern.

Einen großen Vertrauensbonus von den Eltern erhält man in der Regel über das Kind. Wenn das Kind sich wohl fühlt, angenommen wird und als beachtet erlebt und diesen Eindruck in sein Elternhaus transportiert, dann fühlen sich auch die Eltern - die der Kita gegenüber oft große Skepsis hegen - wohl: Der erste Grundstein zu einem vertrauensvollen Verhältnis ist gelegt!

Im Alltag mit und für die Kinder stehen uns ganz viele pädagogische Handlungsweisen zur Verfügung, um eine gute Beziehung aufzubauen und mit den Kindern zu arbeiten. Ich persönlich finde, dass die Beziehung zu jedem einzelnem Kind das A und O einer gelingenden Atmosphäre und der pädagogischen Arbeit ist. Und wie wir uns jeden Tag um eine empathische, gute Beziehung zu den Kindern bemühen sollten, müssen wir dies auch hinsichtlich ihrer Eltern versuchen.

Gerade bei einem Klientel, das als "schwierig" gilt, vergisst man dies zu schnell. Dann will man entweder belehren und weiß alles besser oder man nimmt die Eltern nicht ernst. Mit dieser Haltung ist die Elternarbeit schon im Vorfeld zum Scheitern verurteilt (übrigens bei allen Eltern, egal mit welchem Hintergrund!).

Eltern sind die Experten, was ihre Kinder betrifft, und zwar alle Eltern. Und wenn das erkannt und gelebt wird und wenn dies auch die Eltern wahrnehmen, dann ist der nächste Schritt zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit getan. Eltern müssen spüren - wie ihre Kinder -, dass sie so angenommen sind, wie sie sind. Sie müssen erleben, dass all die Dinge, die sie mit in unsere Einrichtung bringen oder von denen wir Kenntnis erlangen, ein Zeichen des Vertrauens ist, das sie uns entgegenbringen, und ein Auftrag an uns, mit dem wir ebenso gut umgehen sollten wie mit ihren Kindern.

Eine Zwischenbemerkung, ähnlich eines Tipps für "Schwierige Eltern gibt es nicht...": Wenn wir von Verwahrlosung, Schulden, Gewalt, Armut... hören, also von dem, was uns ein schwieriges Klientel als Auftrag mitgibt, dann sollten wir inne halten und einmal überlegen, was diese Eltern - vorwiegend Mütter - Tag für Tag leisten. Jeden Tag in einer solchen Umgebung und bei diesen Belastungen mit und für ihre Kinder zu leben oder manchmal nur gemeinsam zu überleben, das sollte uns Respekt entlocken und Bewunderung für die Stärke, die diese Frauen oft an den Tag legen! Sich das vor Augen zu führen, lässt ganz schnell alle Vorurteile verschwinden, die einem unweigerlich kommen, wenn man zum ersten Mal der Klientel aus einem sozialen Brennpunkt begegnet.

In der pädagogischen Arbeit mit Kindern handeln wir zumeist nach dem Grundsatz, die Kinder dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Dies gilt ebenso für die Eltern der Kinder! Auch sie müssen da abgeholt werden, wo sie stehen. Wenn sich eine Mutter gerade mit großer Kraftanstrengung darum bemüht, dass genügend Essen für die Familie im Kühlschrank ist, wenn ein weiterer Mahnbescheid mit der Post gekommen ist, wenn der Partner die Familie verlassen hat oder die Zwangsräumung droht, dann müssen wir das Bemühen erkennen und vor allem anerkennen und nicht be- oder verurteilen. In einer solchen Situation nutzt es nichts, darüber zu verzweifeln, dass diese Mutter bereits zum wiederholten Male den Termin zu einem "wichtigen" Elterngespräch nicht eingehalten hat. Und erst recht bringt es nichts, nun auch noch Druck seitens der Kindertageseinrichtung auszuüben. Diese Mutter hat gerade andere existentielle Probleme, die es für sich und ihre Kinder zu lösen gilt. Sie hat schlichtweg im Augenblick keine Kapazität frei, um sich darüber zu informieren, welche Fortschritte ihr Kind gemacht hat, oder sich gar anzuhören, was ihr Kind für "Schwierigkeiten" hat.

Es bringt in einer solchen Situation nichts, der Mutter zu sagen, sie müsse endlich zu dem Gespräch kommen, weil das Kind ihr doch wichtig sei und sie sich über seinen Entwicklungsstand informieren muss. Schließlich will sie doch das Beste für ihr Kind oder? Ja, das ist richtig erkannt: Die Mutter möchte das Beste für ihr Kind. Vorrangig ist aber, dass ihr Kind ein Dach über dem Kopf hat und etwas zu Essen auf dem Teller! Und sie möchte vor allem ihr Kind gut betreut wissen - in einer Zeit, in der sie um all die oben genannten Dinge kämpft!

In einer solchen Situation ist es wichtig, die Mutter dort abzuholen, wo sie gerade steht: Sie darauf anzusprechen, weshalb sie gerade so viel zu tun hat, ob man ihr helfen könnte oder ob sie sich einfach nur einmal aussprechen möchte. In einem solches Gespräch erfährt man - wenn Vertrauen gelingt - viel über das Leben und das Umfeld des Kindes. Dort kann man ansetzen und Unterstützung anbieten. All das muss natürlich mit einer großen Wertschätzung geschehen und keinesfalls mit "erhobenen" Zeigefinger! Wenn die Mutter Verständnis für ihre Situation erlebt und Unterstützung erfährt, wird sie in Folge - wenn sich ihre aktuelle Situation etwas entspannt hat - auch wieder Kapazität für ein Entwicklungsgespräch über ihr Kind haben. Und ist ein solches Gespräch, in dem man die Lebenssituation des Kindes und seiner Familie näher kennen gelernt und das Vertrauen der Mutter gewonnen hat, nicht wesentlich wichtiger als ein noch so erfolgreiches Entwicklungsgespräch?

Noch ein weiterer Tipp: Wenn man als Erzieher/in das Vertrauen der Eltern erhalten hat und von großen Familienproblemen erfährt, muss man auch hier auf sich selbst und auf die Grenzen der eigenen Profession achten. Man läuft sonst schnell Gefahr, in ein "Helfersyndrom" zu geraten und nicht mehr den nötigen und sehr wichtigen Abstand zur Arbeit und zum Schicksal der Familien zu haben!

Ein weiterer wichtiger Punkt in der Zusammenarbeit mit diesen Eltern und Familien ist die Haltung, die man den Eltern gegenüber einnimmt. Man darf auf keinen Fall bewerten oder gar verurteilen, wie die Familien leben. Jegliche Vorurteile sind eine Vorverurteilung und damit alles andere als fördernd für eine gute Elternarbeit. Auch das in "eine bestimmte Schublade" Stecken belastet die Beziehung zu Familien.

Eine Mutter sagte zu mir einmal einen Satz, der mich seither geprägt hat und den ich mir immer wieder in Erinnerung rufe. Beim Abholen des Kindes kamen wir in der Garderobe über den Personalwechsel in einer Gruppe ins Gespräch, und die Mutter sagte: "Es ist nicht schlimm, dass sie weg ist, sie war nicht mit uns!"

Sie war nicht mit uns bedeutet nicht, dass wir den Eltern nach dem Mund reden, meint nicht, dass wir keinen Abstand zu ihnen haben, meint nicht, dass wir nicht auch Kritik üben dürfen. Es meint, dass wir die Eltern und Kinder so nehmen, wie sie sind. Dass wir sie sehen, achten und wertschätzen, so wie sie sind. Und genauso, wie die Kinder merken, ob eine Beziehung zu ihnen ernst und ehrlich ist, genauso spüren dies die Eltern. Sie müssen merken, dass wir mit ihnen ein Stück des Weges gehen - offen und ehrlich, empathisch eben. Und nicht mit der Distanz "Es ist halt unsere Aufgabe, die Elternarbeit", sondern mit der professionellen Distanz, die für die gesamte Elternarbeit gilt.

Wir Erzieher/innen neigen dazu, alle Probleme und Schwierigkeiten alleine lösen zu wollen, oder haben den Anspruch, alles zu schaffen. In der Arbeit mit den Familien habe ich schnell erkannt, dass ich alle Schwierigkeiten, denen ich begegne, gar nicht lösen kann. Ich bin weder die Fachfrau für viele Dinge noch verfüge ich über das Wissen oder die Kompetenzen für einzelne Bereiche.

In der Arbeit in einem sozialen Brennpunkt ist deshalb die Vernetzung ein großes und bereicherndes Gut, das gepflegt und genutzt werden sollte und muss. Bei uns zählen zu den Vernetzungspartnern der Allgemeine Soziale Dienst, die diversen Schulen, die Frühförderstelle, die Erziehungsberatungsstelle, die Würzburger Tafel, Kinderärzte, Logopäden und Ergotherapeuten, um hier nur einige zu nennen. All diese Stellen arbeiten mit uns im Sinne der Kinder und Familien zusammen.

Es genügt bei der Vernetzung nicht zu wissen, dass diese Stellen vor Ort sind und dass wir Kinder dorthin schicken können, sondern die Partner müssen auch zusammenfinden. Immer wieder müssen an runden Tischen die Gesamtsituation des Stadtteils, die aktuellen Themen der Familien oder auch politische Fragen besprochen werden.

Wenn es dazu kommt, dass wir das Vertrauen einer Familien erlangt haben, so dass es möglich ist, einen solchen Vernetzungspartner "ins Boot zu holen", dann ist es unheimlich wichtig, dass auch hier die Familien nicht alleine gelassen werden. Wir sollten nie vergessen, dass diese Institutionen oft noch nicht das Vertrauen der Eltern haben oder gar als "Feind" angesehen werden, denn schließlich könnte der Allgemeine Soziale Dienst ja das Kind wegnehmen (so die Angst vieler Familien vor einem Erstkontakt mit dem ASD).

Auch hier müssen wir mit den Eltern gehen, ihre Befürchtungen ernst nehmen und sie gegebenenfalls begleiten und unterstützen. Dazu gehört natürlich auch, die eigene Arbeit transparent zu machen sowie interdisziplinäre Kooperation zuzulassen und als bereichernd zu empfinden - und nicht als eigenes pädagogisches Versagen zu sehen!

Neben den Familien aus der "Unterschicht" besuchen auch viele Kindern mit Migrationshintergrund unsere Einrichtung. Viele Nationen bereichern unsere Gruppen und das Zusammenleben in der Kita. In der Arbeit mit diesen Familien und Eltern gelten selbstverständlich dieselben Aspekte wie oben beschrieben. Aber es ist auch wichtig, hier die speziellen Eigenheiten zu beachten. Es genügt zu einer Integration nicht zu wissen, dass es in muslimischen Ländern einen Ramadan gibt oder Moslems kein Schweinefleisch essen dürfen. Wichtiger ist vielmehr, sich mit den verschiedenen Kulturen auseinander zu setzen, sich zu interessieren und typische Merkmale und Bräuche zu kennen und zu akzeptieren. Man muss dazu keine Fachliteratur für jedes Land lesen, nein, auch hier haben wir die Experten vor Ort: die Kinder und ihre Eltern!

Ich habe viele positive Erfahrungen damit gemacht, Eltern ein ehrliches Interesse entgegen zu bringen anstatt mit "angelesenem Halbwissen" zu glänzen. Schon manche Tür zu türkischen Familien hat sich mir geöffnet, indem ich zeigte, dass ich einige Grundbegriffe in Türkisch beherrsche, weiß, was Kindergartentasche, Danke, Tee oder herzlich willkommen, guten Morgen oder auf Wiedersehen heißt. Das schafft einen kleinen gemeinsamen Nenner, eine gemeinsame Sprache, und setzt die ersten Akzente für eine offene, vertrauensvolle Arbeit.

Alle Familien mit Migrationshintergrund leben nun in Deutschland, aber sie sind keine Deutschen! Und das müssen wir bei manchen Dingen akzeptieren und dann andere Wege als sonst gehen. Wer hat nicht schon einmal versucht, einer türkischen Mutter zu erklären, dass Weißbrot für die Sprachentwicklung ihres Kindes ganz schlecht ist und sie dringend Schwarz- oder Vollkornbrot kaufen muss, um der Sprachentwicklung des Kindes einen positiven Schub zu geben? Und genau das ist der falsche Weg! In dieser Kultur muss beachtet werden, dass es dort kein Schwarz- oder Vollkornbrot gibt. Familien nahe zu legen, es zu essen, geht gegen die Kultur, in der sie lebten, in der sie ihre Wurzeln haben und die sie auch - zu Recht - an ihre Kinder weitergeben wollen. Sie müssten etwas tun, von dem sie nicht überzeugt sind und von dem wir gar nicht wissen, ob es ihre Mägen so gut verdauen!

Ich möchte damit sagen, dass es unendlich wichtig ist, nicht mit schnellen, gut gemeinten Ratschlägen auf Eltern zuzugehen, sondern sich immer die individuellen Gegebenheiten vor Auge zu halten und dann nach Lösungen zu suchen! So wie wir es auch in der Arbeit mit den Kindern als selbstverständlich ansehen...

Ich könnte hier noch so viele Beispiele dafür bringen, was in der Zusammenarbeit mit Familien bei schwierigen Hintergründen wichtig ist und zu einem Gelingen führt. Jedoch möchte ich hier zum Ende kommen und noch einmal ganz deutlich sagen, dass es wichtig ist, sich klar zu machen "Schwierige Eltern gibt es nicht..." Die Grundsätze, die für die Arbeit mit Kindern gelten, sollten auch für Eltern gelten, ohne sie dadurch aus der Verantwortung zu entlassen oder in eine Abhängigkeitsrolle zu bringen: Alle Eltern sind Experten in eigener Sache. Alle Eltern!

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