Die Stadtteilmütter in Recklinghausen

Aus: obWOHL. Zeitschrift für Kindergarten und Kinderbetreuung in Vorarlberg, Nr. 16, Dezember 2010, S. 14-15 (www.obhut.at)

Ulrich Braun

Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen ist seit vielen Jahren einer der wichtigsten Arbeitsschwerpunkte des Fachbereiches Kinder, Jugend und Familie der Stadt Recklinghausen. Der Baustein "Die Mütter einbeziehen" ist ein Teil eines Gesamtkonzeptes zur Sprachförderung. Für Sprachförderung und die Entwicklung eines interkulturellen Miteinanders sind die "Rucksackgruppen" und die unermüdliche Arbeit der "Stadtteilmütter" nicht mehr wegzudenken.

Ausgangslage

In Recklinghausen leben viele Familien mit Migrationshintergrund. In einigen Stadtteilen ist der Anteil von Familien türkischer Herkunft überdurchschnittlich hoch. Er liegt dort bei über 30%, und entsprechend hoch ist der Anteil fremdsprachiger Kinder in den Kindertageseinrichtungen dieser Stadtteile. Unter solchen Bedingungen wird das Erlernen der Zweitsprache Deutsch für die Kinder mit fremder Muttersprache erheblich erschwert: Es fehlt der Umgang mit vielen deutschsprachigen Kindern, die ihnen im Gruppenalltag, in Spielsituationen etc. als natürliches Sprachvorbild und Kommunikationspartner dienen. Vereinzelt gab es schon Kindergartengruppen, die kein deutsches Kind mehr besuchte (1).

Sechs Bausteine wurden entwickelt, die gemeinsam den Erfolg des Sprachförderkonzeptes in Recklinghausen ausmachen. In Vorarlberg wurden diese Bausteine im Modell "SPRACHFREUDE - Nenzing spricht mehr" erfolgreich adaptiert: "Früh beginnen", "intensive Sprachförderung in den Kindertageseinrichtungen", "Erzieherinnen qualifizieren", "Die Beteiligten vernetzen" und "Die Qualität sichern: Dokumentation und Evaluation" sind fünf der sechs Bausteine. Und der sechste Baustein bezieht in besonderer Weise die Mütter ein.

Die Mütter einbeziehen: Rucksackgruppen

Im Bereich der Zusammenarbeit mit Eltern bzw. Müttern aus Migrationsfamilien hat sich das Programm "Rucksack", Material der RAA NRW, als eine besondere Form der Elternarbeit bewährt: Hier werden verschiedene Risikofaktoren, wie beispielsweise ein isoliertes Aufwachsen in der türkischen Kultur und Sprache oder Unsicherheiten gegenüber Institutionen des Bildungswesens, bearbeitet und verringert, um eine erfolgreiche Sozialisation und Entwicklung der Kinder zu begünstigen. Zum einen setzt das Programm an der Förderung der allgemeinen kindlichen Entwicklung und zum anderen vor allem auch an der Förderung muttersprachlicher Kompetenzen an ("Man lernt eine Zweitsprache nur so gut, wie man seine Erst-/ Muttersprache beherrscht").

Dazu treffen sich türkische Mütter einmal in der Woche in "ihrer" Einrichtung, um unter Anleitung Materialien, Anregungen, Tipps und Hilfestellungen zu erhalten. Die weitere Förderung erfolgt über "Hausaufgaben" im Elternhaus. Es gibt danach in vielen Familien mehr pädagogisch wertvolles Spielzeug und Bilderbücher. Es wird mehr vorgelesen, mehr mit den Kindern gesprochen, und der Blick auf das Kind und seine Interessen und Bedürfnisse verbessert sich.

Durch die regelmäßigen Treffen in der Tageseinrichtung ergibt sich ein enger Kontakt der Mütter zu der Tageseinrichtung ihres Kindes: Die Lebenswelt der zugewanderten Familien wird verstärkt wahrgenommen und in den Kindergartenalltag miteinbezogen. Rucksackmütter beteiligen sich aktiver an besonderen Aktionen der Tageseinrichtung als andere Mütter mit Migrationshintergrund, gehen offener und selbstbewusster auf die Erzieher/innen zu und sind für die (sprachliche) Entwicklung ihrer Kinder stärker sensibilisiert.

Die Bedeutung einer solchen engen Zusammenarbeit mit den Müttern wird durch die Ergebnisse des Projektes "Sprachförderung von Migrantenkindern" (2) unterstrichen. Die Untersuchungen an etwa 2.000 Kindern zeigen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Nähe (regelmäßige Kontakte, Wohlfühlen), die Migrantenmütter zu einem Kindergarten haben, und der Sprachentwicklung ihrer Kinder. Es geht also gar nicht anders: Nur die Investition in die Elternarbeit führt zu guten Entwicklungsergebnissen bei den Kindern.

Stadtteilmütter

Seit bald zehn Jahren leiten Stadtteilmütter (teilweise auch zu zweit) eine Rucksack-Gruppe in "ihrem" Kindergarten. Ehemalige "Rucksack-Mütter" werden gezielt ausgewählt und persönlich angesprochen. Folgende Auswahlkriterien werden zugrunde gelegt:

  • vorherige Teilnahme an einer Rucksackgruppe, gekennzeichnet durch eine regelmäßige und aktive Mitarbeit,
  • Interesse an pädagogischen Themen,
  • gute Deutsch-Kenntnisse,
  • guter Kontakt zu "ihrer" Einrichtung,
  • positive Einstellung zur deutschen Sprache und Gesellschaft/ Kultur,
  • Kenntnisse über die eigene Kultur und Sensibilität für andere Kulturen,
  • ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein, um eine Gruppe zu moderieren.

Alle Stadtteilmütter haben an der internen Ausbildung erfolgreich teilgenommen und abschließend eine Urkunde erhalten.

Regelmäßig treffen sich die Stadtteilmütter zur gemeinsamen Reflexion und zur Vor- und Nachbereitung der Rucksack-Treffen. Begleitet werden diese Treffen von einer Fachkraft aus dem Fachbereich Kinder, Jugend und Familie, die für die Unterstützung der Stadtteilmütter verantwortlich ist. Auch sie hat einen Migrationshintergrund und spricht Türkisch. Diese regelmäßigen Treffen sind für die persönliche Begleitung und Stärkung der Frauen mindestens genauso wichtig wie zur Sicherung der Qualität des Rucksack-Programms.

Die kontinuierliche Weiterbildung/ Qualifizierung der Stadtteilmütter ist ein besonderes Anliegen. So wird ihnen eine speziell konzipierte Seminarreihe in Kooperation mit dem Kreisgesundheitsamt und der Stadtteil-VHS angeboten: Einmal im Monat kommt zu den Treffen ein/e Referent/in und spricht mit den Stadtteilmüttern über Themen wie Gesundheitsvorsorge, Entwicklungsschritte bei Kleinkindern, Sprachentwicklung, erzieherisches Handeln etc.

Stadtteilmütter, Rucksackmütter und Kindertageseinrichtungen

Die Stadtteilmütter werden als Multiplikatorinnen eingesetzt und übernehmen als "Brücke" zwischen der Kindertageseinrichtung und den Müttern auch eine vermittelnde Rolle, z.B. bei der Einrichtung von Deutschkursen für Mütter oder bei Gesprächen über die Integrationsvereinbarung zwischen der Stadt Recklinghausen sowie Vereinen und Religionsgemeinschaften von Migrantinnen und Migranten.

Mit diesem Konzept der "Stadtteilmütter" sind inzwischen fast 1.500 Mütter erreicht worden. Da jede an "Rucksack" beteiligte Mutter gleichzeitig Multiplikatorin für weitere Migranten-Mütter ist, konnten mit diesem Konzept über die Rucksackgruppe hinaus noch weitaus mehr Mütter und damit auch ihre Familien erreicht werden. Für die Integration und eine größere Chancengleichheit von Migrationsfamilien ist die Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen.

Das niederschwellige Prinzip "Mütter bilden Mütter" geht auf: Der Zulauf ist groß und der Multiplikationswert hoch. Den Müttern wird eine hohe Anerkennung und Ermutigung als Expertinnen für die Entwicklung ihrer Kinder zuteil.

Stadtteilmütter kommen und gehen ihren Weg

Stadtteilmütter sind eine wichtige und wertvolle Unterstützung für die Sprachförderung und das interkulturelle Verstehen. "Stadtteilmutter" zu sein ist aber für viele Frauen auch der Beginn eines Weges in neue eigene Qualifizierungen bis hin zu einer beruflichen Tätigkeit. Stadtteilmütter werden Erzieherinnen und dann sehr gerne in Kindertageseinrichtungen eingestellt. Sie beginnen eine Tätigkeit in der Altenpflege oder nehmen andere sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen auf. Derzeit besucht eine Stadtteilmutter eine Maßnahme "Gesundheits- und Ernährungsberatung", eine andere wird Betreuungsassistentin und eine weitere beabsichtigt, die Fachoberschulreife nachzuholen. So sind Stadtteilmütter in außergewöhnlicher Weise Vorbilder für viele andere Mütter mit Migrationshintergrund. Und nicht nur für sie.

Anmerkungen

(1) vgl. Braun, U./Kampmann, V.: Kindergartengruppen ohne deutsche Muttersprache. In: KiTa aktuell NRW 4/2008, S. 76-79, www.kindergartenpaedagogik.de/104.pdf

(2) Projekt "Sprachentwicklung von Migrantenkindern - gezielte Beobachtung und Förderung". Staatsinstitut für Frühpädagogik. Gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums des Innern, www.ifp.bayern.de

Kontakt

Hatice Sarikaya/ Leyla Güleryüz
Stadt Recklinghausen
Fachbereich Kinder, Jugend und Familie
45655 Recklinghausen
Tel.: 02361/50 2254
Email: Hatice.Sarikaya@recklinghausen.de

Ulrich Braun
Stadt Recklinghausen
Fachbereich Kinder, Jugend und Familie
45655 Recklinghausen
Tel.: 02361/50 2232
Email: Ulrich.Braun@recklinghausen.de

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