Wenn Eltern sich trennen – Kinder im Elementarbereich, die von Trennung und Scheidung betroffen sind - ein Interview mit Dipl. Päd. Matthias Heintz

Was sind die häufigsten Gründe für eine Scheidung?

In der Forschung zur Thematik „Trennung und Scheidung“ werden zwei markante Punkte im Verlauf einer Partnerschaft genannt, die sich für eine Paarbeziehung als besonders herausfordernd erweisen und letztlich in einer Trennung und Scheidung münden können. Das ist zum einen die Phase der Familiengründung, wenn durch die Geburt des ersten Kindes die Zeit der Zweisamkeit des Paares beendet ist und neben die Partnerschaft die Elternschaft tritt. Aus der Dyade wird eine Triade. Diese Veränderung stellt neben der Freude der Eltern zugleich eine Herausforderung dar, da das Paar sich in umfassender Weise neu austarieren muss. Mann und Frau müssen lernen sich den Bedürfnissen ihres Kindes anzupassen. Das bedeutet aber auch zu lernen, Verzicht auf bisher gewohnte Freiheiten für sich und auf der Paarebene zu üben. Die Geburt geht also auch mit einer Verlusterfahrung einher, die gelernt sein will. Das aber gelingt nicht immer. Ob, und wie gut dies gelingt, hängt m.E. davon ab, ob das Paar bzw. beide Partner sich zuvor auf diese einschränkenden Veränderungen eingestellt, sich damit auseinandergesetzt haben.

Der andere vulnerable Zeitpunkt für eine Paarbeziehung ist die Zeit nach dem Auszug des letzten Kindes, der Zeitpunkt also, der in der wissenschaftlichen Literatur als „empty nest“ Phase bezeichnet wird. In dieser Phase kann es passieren, dass das Elternpaar nach langen Jahren der Elternschaft die veränderte Lebenssituation ohne Kind schwer verkraftet, dass der Prozess des Loslassens und des Sich-Wieder-Einlassens auf eine lange zurückliegende Phase, die Zeit der Partnerschaft vor der Geburt des ersten Kindes, nicht gelingt. Die unzureichende Bewältigung dieser Krise, die dann auch in der Trennung des Paares münden kann, hat nicht selten seine Ursache in einer mangelhaften Pflege der Partnerschaft während der gemeinsamen Familienphase. Mit dem „empty nest“ tritt zutage, was vielleicht lange schon vernachlässigt wurde, eine lebendige Paarbeziehung innerhalb des Familiensystems.

Wenn ich auf meine rund 25-jährigen Beratungspraxis als systemischer Familien- und Lebensberater und Familientherapeut zurückblicke, dann erkenne ich eine Reihe weiterer Phänomene, die ich als grundlegend für das Scheitern von Paarbeziehungen betrachte. Die m.E.  wichtigsten möchte ich hier nennen.

„Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ – dieses Zitat aus Schillers berühmter „Glocke“ bringt einen Mangel auf den Punkt, der insbesondere in der heutigen individualisierten, marktliberalen Lebenskultur, dazu führen kann, das Mann und Frau sehr schnell zusammenfinden, beide das emotionale Glück der „Schmetterlinge“ genießen. Aber die Frage danach, wie unterschiedlich beide Partner sind und wie diese Unterschiede gelebt - und ehrlicherweise auch ausgehalten - werden können, diese Frage wird m.E. zu selten ausgelotet. Bei diesen Paaren erlebe ich es oft, dass sie nach der Schmetterlingsphase und insbesondere – wie oben benannt - nach der Geburt des ersten Kindes, an der unzureichenden Befriedigung ihrer Bedürfnisse durch den Partner/die Partnerin scheitern. Und der „Markt der Möglichkeiten“, wie ich es nicht selten in Beratungen von sich trennenden Paaren gehört habe, bietet v.a. durch die Angebote im Netz schnellen Partner-Ersatz.

Partnerschaftliche Konflikte können durch das verwandtschaftliche, familiäre Umfeld des Paares zusätzlich verschärft werden. Es kommt zu einer Art Lagerbildung, die wie Spaltpilze wirken. Diese Erfahrung mache ich insbesondere, wenn eine Familie mit den Eltern bzw. Schwiegereltern unter einem Dach lebt. Aktuell habe ich in meiner Praxis einen typischen Fall, wo der Mann mit der Dreifachrolle als Partner seiner Frau und Vater seines Kindes einerseits und Sohn seiner Eltern andererseits scheitert. Hintergrund dieser hoch konflikthaften Konstellation sind oft unzureichende Ablösungen der erwachsenen Kinder von ihrer Herkunftsfamilie.

Paare scheitern in ihrer Beziehung nicht selten insbesondere auf der Elternebene. Sie verstehen sich im Grunde als Paar sehr gut, aber ihre unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen und die damit einhergehenden Erziehungshaltungen den Kindern gegenüber führen zu unüberwindlichen Konflikten, die sich letztlich auch auf das Miteinander der Paarebene destruktiv auswirken.

Familien erleben unter den Anforderungen einer hoch komplexen, leistungsbezogenen Lebenswelt zunehmend Krisen, die sich negativ auf den Zusammenhalt der Familie bzw. des (Eltern-) Paares auswirken können. So ist die Grenze zwischen Privatleben und Beruf mittlerweile so diffus geworden, dass notwendige Phasen der Ruhe und Entspannung nicht mehr ausreichend gelebt werden können. Die überbordende Macht der Kommunikationsmedien spielt hier m.E. eine wichtige Rolle (siehe dazu u.a. die Literatur von Manfred Spitzer, 2012/2015, sowie Michael Winterhoff, 2011). Ich betrachte diese Veränderung als wesentlich für den exorbitanten Anstieg an psychischen Erkrankungen von Erwachsenen, wie Kindern und Jugendlichen, deren Folgen innerfamiliär nur schwer zu bewältigen sind. Daneben möchte ich insbesondere die Krise der chronischen Armut erwähnen, von denen mehr und mehr Familien in Deutschland und Europa betroffen sind und in dessen Folgen Partnerschaften und Familien zerbrechen. Ein besonderes (und besonders trauriges) Thema, das oft ein Scheitern der Partnerschaft nach sich zieht, ist der Tod eines Kindes. Verwaiste Eltern scheitern häufig an der Vereinzelung in ihrer unterschiedlichen Trauer und den damit verbundenen Schuldgefühlen.

Als eher symptomatisch betrachte ich den Aspekt der Außenbeziehungen und des „Fremd-Gehens“, an denen Beziehungen und Ehen scheitern. Hinter diesen stehen häufig tiefer gehende Probleme und im Verborgenen wirkende Konflikte, wie ich sie oben beschrieben habe.

Allen Themen, die ich hier als Gründe für eine Trennung und Scheidung aufgeführt habe, haben einen großen Nenner: die unzureichende Fähigkeit der (Ehe-/Eltern-) Partner sich einander zu öffnen, miteinander zu reden, statt sich zu isolieren und/oder gegeneinander zu kämpfen.

Wie können Kinder auf die Trennung/Scheidung ihrer Eltern reagieren?

Die Trennung der Eltern bedeutet aus Sicht des Sozialforschers Gerhardt Amendt für die Kinder einen „Verlust der Elterlichkeit“ (Amendt 2006). Er meint damit deutlich mehr als eine Krise mit unterschiedlichen und unterschiedlich starken Ausprägungen für die Kinder in der Phase der Trennung und Scheidung. Für Amendt stellt dieses Ereignis eine Art Trauma dar, ein Bruch im Inneren, im Identitätskonzept des Kindes, der gelindert, letztlich aber nicht geheilt werden kann. Das Kind erlebt einen Bruch in seiner bisherigen Lebenswahrnehmung, in dem die Eltern s e l b s t verständlich gemeinsam für es da sind. Dieser Bruch im äußeren erzeugt einen Bruch im Selbstkonzept des Kindes oder, wie es ein etwa 10-jähriges Mädchen in einer ZDF-Reportage über Trennungskinder zum Ausdruck brachte: „Seitdem bin ich wie ein zerbrochener Keks.“ Diese pessimistische Perspektive Amendts finde ich in meiner langjährigen Arbeit mit Trennungsfamilien und Trennungskindern im Kern bestätigt. Diese Einschätzung vorweg, bevor ich nun zur Beantwortung Ihrer Frage komme.

Aus meiner Praxiserfahrung kenne ich sehr heterogene Verhaltensweisen von Kindern in Trennungs- und Scheidungssituationen. Manche Kinder reagieren eher offen oder passiv aggressiv, verweigern sich im Alltag, zeigen sich „bockig“, trotzig, mit verbalen und körperlichen Attacken in ihrem sozialen Umfeld. Andere Kinder ziehen sich zurück, verschwinden im „Niemandsland“ oder verhalten sich aus Sicht der Eltern „brav“, sind auffallend angepasst. Die einen können auch in der Kita bzw. der Schule auffällig grenzüberschreitend werden, die anderen tauchen ab, träumen sich weg, sind manchmal aus Sicht der Eltern „sehr lieb und aufmerksam“, was Eltern und erzieherische Fachkräfte fataler Weise als Zeichen guter Krisenbewältigung interpretieren. „Mein Kind ist so hilfsbereit. Dem geht es viel besser als vorher.“ Das entlastet die Eltern und Pädagogen gleichermaßen Und es ist das, was diese Kinder in der Krise mehr oder minder unbewusst bewirken wollen. Sie wollen den Eltern nicht zur Last fallen. Und sie hoffen, dass sie mit ihrem „guten“ Verhalten die Trennung der Eltern verhindern bzw. rückgängig machen können, zumindest aber den Eltern helfen, die Krise zu meistern.

Es gibt viele Faktoren, welche die Art und das Ausmaß der Reaktionen eines Kindes mit diesem „Trennungstrauma“ beeinflussen: Wie verläuft die Trennung der Eltern? Gab es vor dem Zeitpunkt der Trennung eine lange Vorkrisenphase? Wie steht es um das Konfliktniveau der sich trennenden Eltern? Gibt es eher einen offen aggressiven Paarkonflikt oder geht es eher um einen stillen, verborgenen Paarkonflikt? Gelingt es dem strittigen und sich trennenden Paar ihrem Kind gemeinsam als Eltern zu begegnen, sich trotz der Krise weiterhin gemeinsam zu kümmern? Oder sind die Eltern hoch strittig, eskalierend, eventuell verbunden mit häuslicher Gewalt? Verstricken die Eltern ihr Kind in Loyalitätskonflikte? Ist das Kind vom Typ eher defensiv und introvertiert? Oder ist es grundsätzlich eher temperamentvoll und offensiv? Wie alt ist das Kind und in welcher Entwicklungsphase befindet es sich? Das sind nur einige Parameter, die Einfluss darauf ausüben, wie das Kind auf die Trennung der Eltern reagiert.

Einen Punkt möchte ich hier speziell erwähnen, weil dieser in der Beratungsarbeit mit Trennungseltern immer wieder auftaucht und häufig das Konfliktniveau zwischen ihnen erhöht. Es geht um die Frage der Gestaltung des Übergangs zwischen den Aufenthalten bei den jeweiligen Elternteilen im Rahmen der Umgangsgestaltung. Viele Eltern berichten mir aufgeregt von einem aggressiven und ablehnenden Verhalten des Kindes nach der Rückkehr vom anderen Elternteil. Sie deuten diese Verhaltensweisen des Kindes als Resultat eines Aufhetzens des Vaters gegen die Mutter und umgekehrt. Ich spreche inzwischen von einem Sonntagabend- und Montagssyndrom. Es fällt den Eltern in ihrer verstrickenden Konfliktdynamik nicht ein, dass dieses auffällige und für die Eltern schwierige Verhalten Ausdruck der Hilflosigkeit im anhaltenden Loyalitätskonflikt zwischen den endgültig getrennten Eltern sein kann, Ausdruck des Erlebens der inneren Zerrissenheit der unverbundenen Welten im Kind.  

Grundsätzlich neigen Kinder in Krisenzeiten zu zwei fatalen Reaktionen, die in einem Zusammenhang betrachtet werden können. Sie geben sich die Schuld an der bestehenden Krise und als Versuch der Kompensation stellen sie ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse zu Gunsten der Eltern hintenan. Sie neigen dazu den Eltern in der Krise helfen zu wollen. Das mag eine Erklärung für das oben beschriebene angepasste und helfende Verhalten sein. Die Kinder übernehmen einen verdeckten Elternpart oder aber einen Ersatzpart auf der Paarebene, wenn der Partner/die Partnerin nicht mehr am Ort ist. Im Sinne einer Krisenkompensation kann das aus meiner Sicht für kurze Zeit sinnvoll und angemessen sein. Es gibt dem Kind die Chance sich aktiv und selbstwirksam zu erleben. Droht jedoch daraus ein sich verstetigendes Muster zu werden, dann läuft das Kind Gefahr sich in seiner eigenen Entwicklung zu überfordern und auf der Strecke zu bleiben.

Was sind hochkonflikthafte Trennungsfamilien und welche Rolle spielen Loyalitätskonflikte seitens der involvierten Kinder?

Von hochkonflikthaften Trennungsfamilien können wir laut der gängigen Fachliteratur sprechen, wenn das hochstrittige Verhalten der getrennten Eltern über einen langen Zeitraum beibehalten wird (siehe u.a. Publikation der Deutsches Jugendinstituts DJI von 2010). Eltern bzw. Elternteile aus solchen Familien verstricken sich in immer wiederkehrenden Eskalationen, die oft von zähen Rechtsstreitigkeiten vor dem Familiengericht begleitet sind und die leider nicht selten von den Anwälten der jeweiligen Streitparteien befeuert wird. In der Regel geht es im Rechtsverfahren um die unlösbar erscheinenden Konflikte der Sorgerechts- und Umgangsregelung, sowie des Unterhalts. Die Kinder werden dabei häufig rücksichtslos instrumentalisiert, der Kampf des getrennten, geschiedenen Paares auf dem Rücken der Kinder ausgetragen.

Neben dem erbitterten Rechtsstreit ist der Alltag dieser Familien von latenten, bis offenen Anfeindungen geprägt, die häufig in direkten Begegnungen, beispielsweise in den Übergabesituationen, in Gegenwart der Kinder eskalieren. Oder es kommt zu einem Kontaktabbruch der Eltern, die unfähig sind miteinander im Sinne ihres Kindes/ihrer Kinder zu kooperieren. Damit droht auch das Kind/die Kinder den Kontakt zum Umgangselternteil, häufig der Vater, zu verlieren. Dieses hohe Konfliktniveau, der sog. „Rosenkrieg“, kommt in der Endphase einer Beziehung bzw. in der ersten Phase der Trennung relativ häufig vor. Hier spricht man jedoch noch nicht von einer hochstrittigen Trennung. Entscheidend ist die Dauer des Konfliktes. Der Münchner Psychologe, Trennungs- und Scheidungsforscher und Mediator Hanspeter Bernhardt (sehr empfehlenswert: „Wir bleiben Eltern trotz Scheidung – das gemeinsame Sorgerecht als Chance“, 1995) spricht von hochstrittigen Eltern ab einem Zeitraum von etwa zwei bis drei Jahren eines destruktiven, chronifizierten Kampfes der Eltern bzw. eines Elternteils. Hochstrittige Trennungseltern sind in aller Regel beratungs- und unterstützungsresistent, lehnen Hilfe von außen (z.B. Mediation oder Trennungsberatung in der Erziehungsberatung) entweder gänzlich ab oder nehmen diese Angebote zwangsweise oder aus taktischen Erwägungen in Anspruch. Letztlich sind sie nicht fähig, ihren Konflikt außergerichtlich beizulegen. Dahinter stehen nicht selten entsprechende psychische Probleme, wie beispielsweise narzisstische Kränkungen.

In dieser anhaltenden, hoch eskalierten Konfliktdynamik werden die Kinder nachhaltig geschädigt. Das oben beschriebene Trennungstrauma wird permanent befeuert, die Kinder müssen unverbunden zwischen den feindlichen Lagern leben. Sie tragen dabei eine hohe Last der Verantwortung, um mit den Folgen dieser verstetigten Eskalation zurechtzukommen. Sie sind oft auf sich allein gestellt, zerrieben zwischen den elterlichen Fronten und innerlich zerrissen. Trennungskinder sind häufig das letzte Kommunikationsmedium zwischen Mutter und Vater, Träger von entwertenden und verletzenden Botschaften für die jeweils andere Seite. Oder aber sie entscheiden sich als Überlebensstrategie für eine der beiden Parteien und in strenger Gefolgschaft für Vater oder Mutter. Diese Kinder verzichten auf einen Elternteil und müssen lernen die innerpsychischen Anteile des abgelehnten Elternteils in sich selbst absterben zu lassen.

Kinder aus hoch strittigen Familien stehen in Gefahr nachhaltige psychische und psychosomatische Langzeitfolgen zu erleiden, etwa eine tiefe und chronische Kränkung ihres Selbstwertes, mit allen damit verbundenen Folgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst in ihren späteren Beziehungen scheitern, ist hoch oder aber sie vermeiden von vornherein eine verlässliche Zweierbeziehung. Hochkonflikthafte Trennungen sollten aus diesem Grund als eine Form der Kindeswohlgefährdung betrachtet werden. Entsprechend wäre es eine notwendige Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, in diesen Konfliktlagen parteilich für das Kind und dessen Recht auf eine gesunde und förderliche Entwicklung und entsprechende Lebensbedingungen (u.a. Art. 9 und 24 der UN-Kinderrechtskonvention) zu intervenieren. Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat mit der Einführung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, kurz FamFG, juristisch versucht, diesen nachhaltig destruktiven Konfliktlagen entgegenzuwirken und die Kinder in verkürzten Trennungs- und Scheidungsverfahren zu schützen und zu stärken.

Aus der Perspektive eines Familienberaters empfehle ich inzwischen eine Beendigung der Beratungsunterstützung für hochstrittige Eltern, wenn im Verlauf des Unterstützungsprozesses erkennbar wird, dass die Eltern nicht Willens oder fähig sind, diesen Konflikt im Ansatz zum Wohle ihrer Kinder zu beenden. Dann ist es m.E. für die Kinder besser, wenn der Konflikt gerichtlich geklärt wird, also neutrales Recht gesprochen wird.

Woran erkennen pädagogische Fachkräfte, dass ein Kindergartenkind von der Scheidung seiner Eltern betroffen ist?

Ich denke, es geht eher zunächst um die Frage, woran Fachkräfte im Kitaalltag erkennen können, ob ein Kind eine Krise durchleben muss. Ich glaube nicht, dass es ein spezifisches Verhalten im frühen Kindesalter gibt, dass auf eine Vortrennungs- bzw. Trennungskrise der Eltern spezifisch hinweist. Es sei denn, das Kind äußert sich bewusst bzw. unbewusst in seinem Kontakt mit den ErzieherInnen bzw. anderen Kindern, sei es durch eine direkte Äußerung oder aber im freien Spiel (beispielsweise Rollenspiel).

Ansonsten möchte ich es eher allgemein formulieren, dass eine ungewöhnliche und relativ abrupt eintretende Verhaltensänderung eines Kindes ein ernst zu nehmender Hinweis und ein unbewusstes SOS-Signal für eine Krise im Hintergrund des Kindes sein kann. Das kann sich in Richtung eines ungewöhnlich überbordenden, aggressiven und grenzüberschreitenden Verhaltens gegenüber anderen Kindern oder den ErzieherInnen zeigen. Umgekehrt kann auch ein auffälliges Rückzugsverhalten nach innen beobachtet werden, verbunden mit einem angepassten, ungewöhnlich braven Verhalten. Dahinter kann das (eher unbewusste) Motiv stehen, den sich in der Krise befindenden Eltern nicht auch noch Kummer zu bereiten. In diesem Zusammenhang steht auch die unbewusste Neigung von Kindern in familiären Krisen, die Schuld für die Krise der Eltern bzw. eines Elternteils (hier die Trennung) bei sich zu suchen. Dieser Aspekt stellt eine besondere Hypothek für die Kinder dar, an der sie seelisch zu zerbrechen drohen.

Was auch immer der Grund für eine plötzlich eintretende Veränderung im Verhalten des Kindes sein mag; es braucht die besondere Achtsamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit der Fachkräfte im täglichen Umgang mit den Kindern, um diese Veränderung frühzeitig zu erkennen. Das ist einer von verschiedenen Gründen, weshalb eine gute und den fachlichen Anforderungen der Bildungsarbeit im Elementarbereich notwendige personelle Ausstattung notwendig ist.

Wie können pädagogische Fachkräfte Kinder in der Scheidungsphase ihrer Eltern unterstützen?

Ganz wichtig: In familiären Krisenphasen braucht es „Inselorte“ für die Kinder. Kindertagesstätten sind solche Inseln, an denen die Kinder Sicherheit, tägliche Routine, Struktur und emotionale Geborgenheit erfahren können, wenn zuhause der Boden schwankt und die Eltern als Paar sich im Krisenmodus befinden. Dann bekommt die Kita als verlässlicher und stabilisierender Ruhepol und Anker eine zentrale protektive Bedeutung.

ErzieherInnen können verlässliche AnsprechpartnerInnen für die Kinder sein, sofern die Kinder das Fenster für diese Thematik öffnen. Die Chance, dass Trennungskinder sich anvertrauen, erhöhen sich, je mehr die Kinder diese o.g. Inselerfahrung machen dürfen. Allerdings bedarf dies auch der entsprechenden Geduld und des Zutrauens von Seiten der Fachkräfte, dass die Kinder den ersten vertrauensvollen Schritt gehen, wenn der richtige Moment gekommen ist. Über diesen Schritt entscheiden die Kinder. Menschen, große wie kleine, können sich nur aus freien Stücken anvertrauen. Die Kita bietet Kindern, insbesondere in Krisenzeiten, einen guten Boden für sichere Bindungserfahrungen und die freie Luft zum Atmen, wenn ich es einmal so ausdrücken darf. Ein solcher Boden bietet den Kindern die Chance sich in ihrer Not anvertrauen zu können.

Die Kita kann und sollte einen Rahmen für das freie Spiel der Kinder bieten, etwas, was ihnen unter unseren heutigen, leistungsorientierten und die Kindheit zunehmend verplanenden Gesellschaftsbedingungen nicht mehr ohne weiteres zur Verfügung steht. In diesem freien, Kind zentrierten Rahmen, können Kinder beispielsweise im Rollenspiel mit anderen SpielgefährtInnen ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Probleme zum Ausdruck bringen, aktiv mit diesen umgehen, sich Lösungsansätze erspielen und sich gegenseitig unterstützen. Aber auch die „stillen“, kreativen und freien Gestaltungsphasen, sei es beim Malen, beim Spielen mit Fantasie und die Kreativität anregenden Materialien, ergeben sich wertvolle Momente, um sich konstruktiv mit der Krise auseinanderzusetzen und eigene Lösungsansätze entwickeln zu können. Kinder lernen spielerisch, sofern wir Erwachsenen ihnen die Rahmenbedingungen bieten, ihre Potentiale und Ressourcen wertschätzen und ihnen unser Zutrauen schenken. Im Grunde braucht es grundsätzlich, aber insbesondere in Krisensituationen, die achtsame Wahrnehmung, Beobachtung und Begleitung der Fachkräfte in der Kita und deutlich weniger das aktive Intervenieren. Und es bedarf dringlich eines guten Zeitkontingentes zur fachlichen Reflexion der Beziehungsarbeit, etwas, was mir in den vergangenen Jahren von ErzieherInnen immer wieder als struktureller Mangel in der Kita-Arbeit genannt wurde.

Auf der Basis der Erkenntnisse dieses vertrauensvollen Miteinanders zwischen ErzieherInnen und Kindern kann das Kita-Team auch die Trennungseltern im Rahmen der Elternarbeit begleiten, kann den Eltern als Erziehungspartner ebenfalls ein gewisses Maß an Sicherheit, Orientierung und Entlastung vermitteln. Die Kita kann als Clearingstelle für weitere Hilfen und Unterstützungsangebote fungieren. ErzieherInnen können beispielsweise in die Erziehungsberatung (für Trennungs- und Scheidungsberatung oder, falls die Trennung noch nicht endgültig vollzogen ist, in die Paarberatung) vermitteln. Die Erziehungsberatung bietet nicht selten auch Trennungs- und Scheidungskindergruppen an, ein Angebot, das in besonderer Weise Trennungskinder in ihrer Not begleitet, sie in ihren Kompetenzen und in ihrer Selbstwirksamkeit stärkt.

Mit Blick auf die Kooperation der Kita mit Trennungseltern möchte ich aus der Praxis meiner Arbeit mit Kindertagesstätten-Teams kritisch anmerken, dass die Väter häufig nicht in den Dialog einbezogen werden. Das ist eine nicht zu akzeptierende Vorgehensweise, denn es ist m.E. sowohl für das Kind als auch für den Vater wichtig, dass die Kita die Vater-Perspektive trotz (und gerade wegen) der Veränderungen, die eine Trennung und Scheidung mit sich bringt, unbedingt berücksichtigen sollte. Auch für die Trennungsmütter, die diesen Dialog mit dem Vater nicht immer befürworten, wäre es ein wichtiges Signal, dass die Kita-Fachkräfte die Vater-Perspektive selbstverständlich in die Elternarbeit einbeziehen. Die Thematik der aktiven Beteiligung der Väter im Rahmen der Elternarbeit wäre im Grunde ein eigenes Thema wert.

Autor

Matthias Heintz, Jahrgang 1964, ist Diplom Pädagoge und systemischer Familientherapeut. Langjährige Tätigkeit in einer Erziehungsberatungsstelle, seit 2004 Lehrbeauftragter der Hochschule Magdeburg-Stendal (Fakultäten der Reha-Psychologie, der Kindheitswissenschaften und der Kindheitspädagogik), in eigener systemischer Praxis seit 1999 tätig, darin neben der Beratung und Begleitung von Familien, Begleitung der fachlichen Arbeit von Trägern der Sozialen Arbeit, sowie in Schulen und Kindertagesstätten. Seit 2013 Tätigkeit in der Kirchlichen Allgemeinen Sozial- und Lebensberatung beim Diakonischen Werk im Werra-Meißner-Kreis. Verschiedene Autoren- und Co-Autorenschaften. Verheiratet und Vater von zwei Söhnen.

Kontakt:

Praxis für Einzel-, Paar-, Familien- und Teamberatung

Obere Str. 16

37130 Gleichen

Tel. 0172-9341531

mail: beratungpluspraevention@gmx.de

www.beratungpluspraevention.de

Literaturliste Bilderbücher zum Thema Trennung und Scheidung

„Fips versteht die Welt nicht mehr - Wenn Eltern sich trennen“

Jeanette Randerath / Imke Sönnichsen

Thienemann Vjg., 2008

Ab 4 Jahre

Der kleine Dackelterrier Fips versteht die Welt nicht mehr, seit seine Eltern sich getrennt haben. Zwischen beiden hin und her gerissen, ist er wütend und traurig. Erst der alte erfahrene Hund Bruno hilft ihm, mit der Situation zurecht zu kommen. Das Buch verdeutlicht sehr einfühlsam die innere Zerrissenheit in dem Kind. Es braucht beide Eltern – Teile.

„Auf Wiedersehen, Papa“

Brigitte Weniger / Christian Maucler

Michael Neugebauer Edition, Bargteheide, 2008

Ab 3 Jahre

Tom versteht nicht, warum Papa immer wieder in die eigene Wohnung zurückgeht, warum er nicht bei ihm und Mama bleibt, so wie früher. Sein Teddybär erklärt ihm, warum manche Eltern nicht zusammenwohnen und dass sie dennoch beide ihr Kind liebhaben. Liebevoll gestaltete Bilder und einfühlsame Worte.

Papa Bär zieht aus – eine Mutmachgeschichte

Cornelia Maude Spelman

Ars Edition, 1999

Ab 3 Jahre

Bilderbuch für sehr kleine Kinder mit besonders wenig und sehr einfachen Text. Eine Bärenfamilie erlebt eine Trennung und die kleine Bärentochter lernt: Ganz gleich, wo die Elternbären wohnen, sie werden ihr Kind immer lieben.

Wir sind trotzdem beide für dich da

Friederun Reichenstetter / Jürgen Rieckhoff

Arena Verlag, 2006

4-6 Jahre 

Jannis ist plötzlich ganz anders als sonst; so wütend und traurig. Im Kindergarten erzählt er, dass seine Eltern sich trennen werden und erlebt, dass andere Kinder ihn mit ihren Erfahrungen trösten, dass man auch mit seinen getrennten Eltern oder in einer Patchwork-Familie gut leben kann. In einem Nachwort erklärt der Diplom-Psychologe Berend Groeneveld, wie es Kindern bei der Trennung ihrer Eltern geht und gibt Anregungen, was Eltern tun können, um ihren Kindern die Situation zu erleichtern.

„Ich hab euch beide lieb“ – Wenn Eltern sich getrennt haben

Claire Masurel / Kady MacDonald Denton

Brunnen, 2016

4-6 Jahre 

Anna hat zwei Lieblingsplätze: Einen Schaukelstuhl bei Papa und einen Kuschelsessel bei Mama. Anna hat auch zwei Badezimmer, zwei Küchen und zwei Haustüren. Wie das kommt? Annas Eltern leben nicht zusammen. Deshalb wohnt Anna manchmal bei ihrem Vater und manchmal bei ihrer Mutter. Aber ganz egal, wo sie gerade ist: Anna hat beide lieb, und sie weiß, dass ihre Eltern sie auch lieben. Wenn Eltern sich nicht mehr verstehen, haben die Kinder unter den Folgen oft sehr zu leiden. Aus der Perspektive der kleinen Anna bekommen Kinder Mut, nicht nur das zu sehen, was sie durch die Trennung der Eltern verlieren, sondern Hoffnung zu schöpfen aus dem, was ihnen trotz des schweren Verlustes bleibt.

 

Ich hab jetzt zwei Kinderzimmer

Veronique Puts

Vlg. Ellermann, 2016

Zum Vorlesen für Kinder ab 5 Jahren.

Warum "Acht" Acht heißt? Ganz einfach: Es ist am 08.08. um 08:08 Uhr geboren. Acht ist ein fröhliches Kind. Doch Achts Eltern streiten sich immer öfter. Schließlich wohnen Mama und Papa nicht mehr in einer Wohnung. Acht ist traurig, wütend und oft hilflos. Erst ein Gespräch mit Opa hilft ihm. Denn Opa erklärt, dass es auch etwas Gutes haben kann, solche Situationen zu durchleben: Man kann andere Menschen besser verstehen. Trotz des Themas ist es ein sehr positives Buch, das mit viel Einfühlungsvermögen geschrieben wurde.

Paul trennt sich. CD Audio CD

Martin Baltscheit

Vlg. Alibaba, 2000

Eine Geschichte in Liedern, die allen Paulchens ab 5 Jahren Mut machen wird! Ein Scheidungs-Hörspiel mit Liedern und viel Musik! Martin Baltscheits Nähe zum Denken und Fühlen von Kindern, deren Eltern sich trennen, klingt hier in jedem Lied mit. Die Texte sind einfühlsam, vom Kind ausgehend, fantasievoll und dennoch realistisch. Paul entwickelt eine sehr pfiffige Idee mit der Situation umzugehen und macht den Eltern / den Erwachsenen damit seine Situation deutlich.

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