In: Ingeborg Becker-Textor: Kindergarten 2010. Traum - Vision - Realität. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 3. Aufl. 1995, S. 61-65
Ingeborg Becker-Textor
Als Friedrich Fröbel den Begriff Kindergarten geprägt hat, hat er wohl nicht daran gedacht, dass der Kindergarten einmal zu einer wichtigen Begegnungsstätte für viele Menschen werden könnte, eben zu einem Zentrum des Gemeinwesens. Er hatte in erster Linie Kinder und Mütter im Blick. Unsere veränderte Gesellschaft macht aber die Begegnung mit einem erweiterten Personenkreis notwendig - insbesondere in der Anonymität unserer Großstädte.
Kinder treffen Kinder
Um Kinder zu treffen, brauchte man früher nicht in den Kindergarten. Meist lebten viele Kinder in den Familien oder in der direkten Nachbarschaft. Beim Spiel im Freien trafen sich die Kinder einer Straße, eines Stadtteils, des ganzen Dorfes. Gemeinsames Spiel und gemeinsame Aktivitäten (natürlich auch Streiche) waren alltäglich. Heute? Für viele Einzelkinder gibt es nur noch die von Mutter/ Vater geplante Begegnung mit anderen Kindern, zumal wenn im gleichen Haus keine weiteren Kinder leben. Also gehen Kinder in der Obhut von Erwachsenen in Spielgruppen, in Kinderkurse, auf Spielplätze, in Kindertagesstätten. Und damit beginnt die verplante Kindheit, gesteuert durch vorgegebene Öffnungszeiten, notwendige Betreuungszeiten usw. Der Kindergarten wird zu einem wichtigen Ort der Begegnung, in dem Kinder ihre Kräfte mit Gleichaltrigen messen können, aber auch Grenzen erfahren. Und, es braucht Freiräume zur Entwicklung der Selbstgestaltungskräfte der Kinder. Im Kindergarten müssen aber auch genügend Freiräume vorhanden sein, damit die Kinder diese Selbstgestaltungskräfte entwickeln können.
Eltern treffen Eltern
Eltern haben in einem "neuen Kindergarten" die Chance, Erwachsene in ähnlichen Situationen ganz zwanglos kennen zu lernen:
- Die Mutter, die auch alleine lebt und den Alltag bewältigen muss,
- die Mutter, die ihren Beruf aufgegeben hat, um beim Kind zu sein und trotzdem nie recht zufrieden ist,
- die Mutter, die um jeden Preis nachweisen will, dass sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren kann, und dies nicht schafft,
- die Eltern, die glauben, ihr Kind sei extrem erziehungsschwierig,
- die Eltern, die viele Erziehungsfragen haben usw.
Dies bedeutet, dass der Kindergarten den Eltern ein Forum der Begegnung geben muss, damit sie sich überhaupt kennen lernen können. Ein Elternabend ermöglicht vielleicht das oberflächliche "Beschnuppern", aber nicht mehr. So wäre es wünschenswert - und nicht erst im Jahr 2010 - wenn jeder Kindergarten eine Gesprächsecke einrichten oder einen nicht regelmäßig benutzten Raum Müttern und Vätern zur Begegnung zur Verfügung stellen könnte. Der Anstoß kommt vielleicht von der Erzieherin, von einer Mutter, einem Vater, aus dem Kindergartenbeirat... Jeder Kindergarten muss sich zu einem kleinen Mütter-Väter-Zentrum entwickeln. Da, wo dies gelingt, verbessert sich auch die Elternarbeit. Was heute in Modellprojekten - zum Beispiel: "Orte für Kinder" oder "Mütterzentren" - erprobt wird, muss morgen zur Selbstverständlichkeit werden. Dies führt zur Stärkung der Erziehungskraft der Familien, zu größerer Zufriedenheit der Mütter, die sich für die Familienphase entschieden haben, und nicht zuletzt zum Wohl der Kinder
Erwachsene treffen Erwachsene
Das klingt so, als wären Eltern nicht auch Erwachsene. Gemeint sind hier weitere Personen im Umfeld des Kindergartens. Es könnte ja auch ein Großmüttertreff entstehen, Omas, die tagsüber ihre Enkelkinder betreuen. Es könnten sich Senioren treffen, die gerne mit Kindern umgehen, aber selbst keine Enkelkinder haben oder diese sehr weit weg wohnen... Wichtig ist, dass der Kindergarten auch Raum für diesen Personenkreis bietet. Der Erfahrungshorizont der Kinder wird dabei - so ganz nebenbei - erweitert.
Eine Fachschulklasse besucht den Kindergarten, um die Einrichtung kennen zu lernen. In diesem Fall redet nicht nur die Leiterin mit den Studierenden, sondern auch die Kinder. Sie lernen so wieder eine neue Erwachsenengruppe kennen. Sie berichten über ihr Leben im Kindergarten oder hören auch nur interessiert zu (und sind vielleicht verwundert, was Erwachsene so alles fragen, was in ihren Augen doch so ganz einfach, normal und selbstverständlich ist).
Aber auch Fachleute aus verschiedenen Institutionen treffen zusammen: Lehrer, Erziehungsberater, Mitarbeiter des Jugendamtes, Vertreter der Frühförderstelle oder des Gesundheitsdienstes usw. Kontakte zwischen diesen Erwachsenen entstehen im Bereich des Kindergartens insbesondere dann, wenn Hilfen an Eltern vermittelt werden sollen.
Professionelle treffen auf Laien
Diese Situation trifft dann zu, wenn Eltern aktiv im Kindergarten mitwirken oder wenn ehrenamtliche Mitarbeiter sich auch im Kindergartenbereich engagieren wollen. Professionelle Erzieher fühlen sich dann sehr schnell angegriffen und fürchten (oft unterstützt durch Träger- und Berufsverbände) um die Anerkennung ihres Berufsstandes. Hier gilt Gleiches wie bei guter Elternarbeit: Es müssen das unterschiedliche Wissen und die vielfältigen Fähigkeiten gegenseitig anerkannt und miteinander verknüpft werden. Es ist ein stetiger Prozess, bei dem die Worte Abgrenzung und Einmischung große Bedeutung erlangen. Viele Hunderte von Elterninitiativeinrichtungen bestätigen, dass ein Miteinander möglich, wenn auch nicht immer einfach ist. Oft wird auch damit argumentiert, dass, wenn erst einmal Eltern im Kindergarten mitarbeiten würden, noch weitere Ehrenamtliche in diese Arbeit drängen würden. Eltern dürfen aber auf keinen Fall "draußen vor der Tür bleiben".
"Wieder habe ich einen Anlauf gemacht und gefragt, ob Mütter oder Väter nicht hin und wieder einmal in den Kindergarten kommen könnten. Wir dürfen nicht hinein. Viele Gründe werden genannt:
- Fehlendes Gesundheitszeugnis (das würde ich auch bringen);
- Datenschutz (ich könnte ja das Verhalten der Nachbarskinder beobachten oder gar Intelligenzdefizite bei einzelnen Kindern feststellen);
- Benachteiligung der Kinder, deren Mütter oder Väter nie kämen (ich weiß von einer Freundin, dass in ihrem Kindergarten die offene Elternarbeit, die Teilnahme am Kindergartenalltag, sogar Eltern so genannter Unterschichtfamilien angelockt hat, während sie zum Elternabend nie kamen);
- Mütter und Väter seien Laien und eben keine Profis (sogar wenn sie selbst Erzieher, Sozialpädagogen oder Lehrer sind);
- der Arbeitsablauf im Kindergarten würde gestört und die Erzieherinnen hätten nicht mehr genug Zeit für die Kinder...
Trotzdem, alles keine Gründe, die mich wirklich überzeugen konnten. Haben die Erzieherinnen vielleicht Angst vor uns Laien? Wir als Mütter/ Väter machen Fehler, und sicher sind auch pädagogische Profis davon nicht ausgenommen. Warum können wir die Verantwortung für die Erziehung der Kinder nicht gemeinsam tragen, uns stützen, gegenseitig helfen und vor allem in einen offenen Dialog treten?" (Becker-Textor, 1991).
Harmonie und Konflikte - Erwartungen und Forderungen - Probleme und Lösungen
Alles Widersprüche? Alles unüberwindbare Hürden? Alles Träume? Gibt es Wege? Tatsächlich handelt es sich in der Überschrift zu diesem Kapitel um Gegensätze. Ob es zu einer Annäherung oder Aufhebung kommt, wird wesentlich bestimmt von den Personen, die sich im Kindergarten begegnen. Schöne Konzepte, detaillierte gesetzliche Regelungen, genaue Vorgaben, bestimmte Zielsetzungen, vorgegebene Rahmenbedingungen sind inhaltslos, wenn sie nicht umgesetzt und durch menschliches Tun aktiviert werden. Harmonie entsteht nicht von alleine. Sie ist das Ergebnis eines langen - oft recht konfliktträchtigen Prozesses. Sie ist auch nicht für alle Zeit beständig, sondern vielmehr sehr anfällig. Der Dialog, konstruktive Kritik und Reflexion sind zum Beispiel wichtige Mittel, um Harmonie herzustellen oder zu erhalten. Ähnlich steht es mit Erwartungen und Forderungen. Immer häufiger klagen Erzieher über stets wachsende Forderungen, die an sie gestellt werden. Die Erwartungen der Erzieher bleiben dabei unberücksichtigt. Ein Geben und Nehmen ist gefragt. Nicht umsonst spricht man von einem "burn-out" in den sozialen Berufen, und steigen viele Erzieher aus. Ihre Erwartungen wurden nicht erfüllt, mit Forderungen wurden sie überhäuft.
Eine Erzieherin, die nach 11 Jahren aus der Kindergartenarbeit aussteigt: "Was ich erwartet habe? Mir war schon bei meiner Berufswahl klar, dass die Erziehung von Kindern nicht einfach sein würde. Dennoch entschied ich mich aus voller Überzeugung für den Beruf der Erzieherin. Ich dachte, dass ich mehr Hilfe erhalten würde bei Problemen. Mein Träger hat nur Interesse, dass der Kindergarten läuft. 80% der Eltern sind beide voll berufstätig, ihre Kinder besuchen den Kindergarten ganztägig. Ich wollte mit Eltern über die Erziehung ihrer Kinder sprechen... Vielleicht hatte ich wirklich nur desinteressierte Eltern? 'Ich bezahle für den Kindergarten, damit ist es genug', sagte mir ein Vater. Forderungen? Manche Eltern glauben, sie können nur kommen und fordern. Ich bin doch nicht schuld, wenn ihr Kind den Schulreifetest vermasselt. Mehrere Versuche habe ich gestartet, mit einigen zu reden. Mir läuft auch die Zeit davon. Bei einer Stunde Vorbereitungszeit pro Monat habe ich keine Chance für große Experimente, Gespräche... Probleme gibt es viele. Lösungen? Solange der Zustand unserer Gesellschaft, unserer Familien und unserer Kinder nicht ernsthaft von den Verantwortlichen wahrgenommen wird, solange wird es kaum echte Lösungen geben."
Ein "neuer Kindergarten" braucht demnach neue und andere Rahmenbedingungen - in personeller, räumlicher und auch in finanzieller Hinsicht. Wenn von wirksamer Prävention gesprochen wird, dann wäre im Kindergarten ein Ansatzpunkt, denn er erreicht nahezu alle Familien. Lösung?