Kinder im Kita-Alter und ihr Weg zur harmonischen Mehrsprachigkeit
Eine Artikelreihe von HaBilNet, dem Netzwerk für Harmonische Mehrsprachigkeit
Diese Reihe befasst sich mit aktuellen Entwicklungen zum Thema der frühen Mehrsprachigkeit. Sie erfahren, wie eine harmonische mehrsprachige Entwicklung aussieht und auf welche Weise Forschungsergebnisse für die Anwendung in Kitas und Familien nutzbar gemacht werden.
Dezember 2021
Wie lange dauert es, bis mehrsprachig aufwachsende Kinder die deutsche Sprache erlernt haben?
Annick De Houwer & Mareen Pascall
Manche meinen, kleine Kinder können sehr schnell eine neue Sprache aufnehmen. „Das geht doch wie von selbst...!“. Andere finden das Deutsch von mehrsprachig aufwachsenden Kleinkindern nie gut genug. Und wieder andere meinen, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder stets schlechter im Deutschen abschneiden als Deutsch-Einsprachige. In diesem Artikel wollen wir der Frage nachgehen, was man tatsächlich vom Deutscherwerb bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern zwischen zwei und sechs Jahren erwarten kann.
Zwei verschiedene Gruppen mehrsprachig aufwachsender Kleinkinder
Zunächst ist zu betonen, dass es zwei grundsätzlich unterschiedliche Umstände gibt, in denen Kinder mehrsprachig aufwachsen (De Houwer, im Druck). Ein Großteil mehrsprachig aufwachsender Kinder hört von Geburt an zwei Sprachen zuhause. In deutschsprachigen Gebieten ist meist eine der zwei ersten Sprachen, die diese Kinder erlernen, die deutsche Sprache. Kinder, die mit zwei Sprachen von Geburt an aufwachsen, haben es also mit einem Doppeltem Erstspracherwerb (DES) zu tun. Sie haben keine einzige Erstsprache, und auch keine Zweitsprache.
Ganz anders ist es bei Kleinkindern in deutschsprachigen Gebieten, die zuhause kein Deutsch hören. Diese Kinder wachsen ebenfalls mehrsprachig auf. Allerdings ist ihre Mehrsprachigkeit nicht etwas, woran sie von Geburt an teilhaben, sondern eine spätere Entwicklung. Diese Kinder haben eine erste Sprache, die eine andere als Deutsch ist, und beginnen erst in der Kita, Deutsch regelmäßig zu hören. Deutsch ist also ihre Zweitsprache, und die Kinder haben es mit einem frühen Zweitspracherwerb (FZSE) zu tun.
Ob ein Kind Deutsch als eine der beiden Erstsprachen oder als frühe Zweitsprache erwirbt, hat jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf seinen weiteren Spracherwerb in der Kita, wie im Folgenden näher erläutert wird.
Deutschkenntnisse von Kita-Kindern
DES-Kinder, die zum ersten Mal eine Krippe oder Kita in einem deutschsprachigen Gebiet besuchen, werden meistens schon Deutsch verstehen und ggf. sprechen können. Bei DES-Kindern ohne auffällig nicht-deutschen Namen oder offensichtlich ausländischer Herkunft werden viele Fachkräfte nicht einmal bemerken, dass die Kinder darüber hinaus eine weitere Sprache verstehen und sprechen können: ihr deutscher Spracherwerb ist so wie bei einsprachig mit Deutsch aufwachsenden Kindern (s. hierzu De Houwer & Pascall 2021a).
Wenn hingegen FZSE-Kinder zum ersten Mal eine Kita besuchen, verstehen sie überhaupt nichts von der Sprache, die dort gesprochen wird. Selbstverständlich sprechen sie auch kein Deutsch. Diese Kinder brauchen Zeit und Unterstützung, um Deutsch verstehen zu lernen. Sie brauchen auch Zeit sowie Willen und Mut, sich selbst auf Deutsch zu äußern. Wie viel Zeit es braucht, hängt von vielen Faktoren ab. Allgemein gilt jedoch, dass, je länger ein FZSE-Kind regelmäßig in der Kita war, desto besser wird es Deutsch verstehen und sprechen. Gleichzeitig gilt, dass, je älter die Kinder sind, wenn sie mit dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache beginnen, desto weniger Zeit benötigen sie, um gute Fähigkeiten in ihr zu erlangen. So wird eine Dreijährige, die gerade in der Kita angekommen ist, sicherlich ein Jahr brauchen, um kurze deutsche Sätze sagen zu können, während eine Fünfjährige, die gerade in der Kita angekommen ist, dazu wahrscheinlich nur ein halbes Jahr oder weniger braucht. Zudem sind Kinder mit gut ausgebauten Kenntnissen im Wortschatz und in der Grammatik der Erstsprache schneller in der Lage, die Zweitsprache zu erwerben. Bei alldem gibt es jedoch sehr große interindividuelle Unterschiede.
Die folgende Übersicht zeigt die erwartbaren Deutschkenntnissen für verschiedene Altersstufen.
Zweijährige
(a) DES-Kinder (und einsprachige) …
- verstehen viele deutsche Wörter.
- sprechen zahlreiche deutsche Wörter, die sie schon in Zwei-Wort-Kombinationen miteinander verbinden können. Im Lauf des 3. Lebensjahres kommen Sätze aus vier oder fünf Wörtern dazu. Es gibt auch Kinder, die mit 2 ½ Jahren schon Sätze miteinander kombinieren können.
(b) Neu angekommene FZSE-Kinder …
- verstehen keine deutsche Wörter, Aufträge und Hinweise.
- sprechen in der Einrichtung nicht in ihrer Erstsprache, es sei denn, diese wird aktiv vom Kitapersonal unterstützt (De Houwer & Pascall 2021b).
- fangen nach durchschnittlich einem halben Jahr an, einige Wörter auf Deutsch zu sagen.
Dreijährige
(a) DES-Kinder (und einsprachige) …
- erweitern ihren Wortschatz enorm.
- verstehen zunehmend komplexe Sätze und Geschichten.
- sprechen Hauptsätze aus vier, fünf oder mehr Wörtern.
- beginnen zum Teil, längere Sätze mit Haupt- und Nebensatz zu produzieren.
(b) FZSE-Kinder, die seit einem halben bis einem Jahr in der Kita sind, …
- zeigen einen großen Zuwachs im Verstehen deutscher Wörter, Aufträge und Hinweise.
- produzieren, wenn sie Deutsch sprechen, kurze Formeln und Ein- bis Zwei-Wort-Kombinationen. Sprechen sie keinerlei Wörter auf Deutsch, deutet dies wahrscheinlich auf einen Mangel an Wohlbefinden hin, der mit einer aktiven mehrsprachigkeitsoffenen Bildung vermieden oder behoben werden kann (De Houwer & Pascall 2021b).
- sprechen in der Einrichtung nicht in ihrer Erstsprache, es sei denn, diese wird aktiv vom Kitapersonal unterstützt (De Houwer & Pascall 2021b).
(c) Neu angekommene FZSE-Kinder …
- verstehen keine deutsche Wörter, Aufträge und Hinweise.
- sprechen in der Einrichtung nicht in ihrer Erstsprache, es sei denn, diese wird aktiv vom Kitapersonal unterstützt (De Houwer & Pascall 2021b).
- fangen nach durchschnittlich einem halben Jahr an, einige Wörter auf Deutsch zu sagen.
Vierjährige
(a) DES-Kinder (und einsprachige) …
- zeigen weiterhin einen großen Zuwachs im Verstehen.
- sind meistens gut verständlich für Unbekannte.
- können kurze Geschichten erzählen.
- verfügen über einen großen, stetig wachsenden Wortschatz.
(b) FZSE-Kinder, die seit anderthalb bis zwei Jahren in der Kita sind, …
- zeigen weiterhin einen großen Zuwachs im Verstehen deutscher Wörter, Aufträge und Hinweise.
- sprechen kurze deutsche Sätze aus vier oder fünf Wörtern bis hin zu längeren Sätzen mit Haupt- und Nebensatz, oft mit morphosyntaktischen Einflüssen der Erstsprache.
- Wenn Kinder, die schon so lange in der Kita sind, dort nichts sagen und somit nur sehr wenig teilhaben, deutet dies auf einen erheblichen Mangel an Wohlbefinden hin und sollte unbedingt Aufmerksamkeit erfahren (im Sinne von De Houwer & Pascall 2021b).
(c) Neu angekommene FZSE-Kinder …
- verstehen keine deutsche Wörter, Aufträge und Hinweise.
- sprechen in der Einrichtung nicht in ihrer Erstsprache, es sei denn, diese wird aktiv vom Kitapersonal unterstützt (De Houwer & Pascall 2021b).
- zeigen nach einem halben Jahr klare Fortschritte sowohl im Verstehen als auch im Sprechen des Deutschen. Bleibt dies aus, ist ein Mangel an Wohlbefinden zu vermuten, der mit einer aktiven mehrsprachigkeitsoffenen Bildung behoben werden kann (De Houwer & Pascall 2021b).
Fünfjährige
(a) DES-Kinder (und einsprachige) …
- verstehen meist genügend Deutsch, um den Übergang in die Grundschule leisten zu können.
- erzählen längere Geschichten auf Deutsch.
- verfügen über einen großen, stetig wachsenden deutschen Wortschatz.
- können argumentieren.
- sind gut verständlich für Unbekannte.
(b) FZSE-Kinder, die seit zweieinhalb bis drei Jahren in der Kita sind, …
- zeigen weiterhin einen großen Zuwachs im Verstehen des Deutschen.
- verstehen meist genügend Deutsch, um den Übergang in die Grundschule leisten zu können.
- zeigen eine große Variabilität im Sprechen; die meisten Kinder sind jedoch auf Deutsch gut verständlich für Bekannte.
- verfügen über einen großen, stetig wachsenden deutschen Wortschatz.
- erzählen kurze Geschichten auf Deutsch.
- Manche haben einen "Akzent", wenn sie Deutsch sprechen, andere nicht.
- Kein Sprechen auf Deutsch nach so viel Zeit in der Kita deutet auf einen sehr erheblichen Mangel an Wohlbefinden hin und sollte unbedingt Aufmerksamkeit erfahren.
(c) Neu angekommene FZSE-Kinder …
- verstehen keine deutsche Wörter, erlernen diese jedoch schnell.
- sprechen zunächst kein Deutsch, beginnen jedoch nach wenigen Wochen oder Monaten, deutsche Wörter zu sprechen. Nach sechs Monaten sollten sie schon deutliche Fortschritte gemacht haben.
Wie die Übersicht zeigt, ist eine “Stille Periode” von einigen Monaten Dauer kein Anlass zur Sorge. Es sollte jedoch ernst genommen werden, wenn diese Periode länger als fünf oder sechs Monate anhält. Einem Kind, das zuhause in seiner Erstsprache spricht, jedoch auch ein oder zwei Jahre nach seinem Eintritt in die Kita nicht auf Deutsch spricht, geht es auf sozioemotionaler Ebene nicht gut. Wir empfehlen eine aktive mehrsprachigkeitsoffene Bildung. Sie finden dazu viele Praxistipps in der Handreichung “Vielfalt in Kita” des Kolibri e.V. (Kinder- und Elternzentrum Kolibri e.V. 2018).
Bei FZSE-Kindern bis zum Alter von etwa sechs Jahren, die bereits Deutsch sprechen, kommen häufig deutsche Satzstrukturen vor, die einen Einfluss der Familiensprache erkennen lassen. Ein Beispiel ist der Satz eines Kindes mit türkischsprachigen Eltern (Pfaff, 1994: 86, in: De Houwer, im Druck): „Alle Kinder sind Jocken anziehen“, um anzudeuten, dass alle Kinder gerade dabei sind, ihre Jogginganzüge anzuziehen. Dieser Satz enthält den Versuch, ein „present progressive“ auszudrücken, das auf Deutsch nicht existiert, wohl aber auf Türkisch. Solche Äußerungen scheinen innerhalb einer begrenzten Lernphase ziemlich systematisch zu sein und sind kein Zeichen einer Schwäche oder eines Problems mit dem Erwerb des Deutschen. Es zeigt lediglich, dass alles, was vorher gelernt wurde, zunächst einen Einfluss auf später Gelerntes hat. Mit der Zeit und mit Lehrkräften in der Grundschule, die deutlich artikulieren und ein gutes Sprachvorbild sind, werden die meisten FZSE-Kinder gutes Deutsch sprechen können. Vergleiche zwischen einsprachigen und mehrsprachigen Kindern sind hingegen wenig hilfreich (s. dazu De Houwer & Pascall 2021a).
Fazit
Mehrsprachige Kinder, die sowohl Deutsch als eine andere Sprache zuhause von Geburt an gehört haben, und weiterhin Deutsch zuhause hören, können schon gut Deutsch verstehen und altersgemäß sprechen, wenn sie in der Kita ankommen. Sie entwickeln die deutsche Sprache wie einsprachig deutschsprachige Kinder. Bei diesen mehrsprachigen Kindern ist es leider oft die nicht-deutsche Sprache, die sie zuhause hören, die sich weniger gut entwickelt.
Für ein Kind, dass zuhause kein Deutsch hört, erfolgt der frühe Erwerb des Deutschen als Zweitsprache in der Kita einerseits nicht garantiert oder automatisch; vielmehr braucht es Zeit und muss sich das Kind sicher und akzeptiert fühlen. Andererseits kann erwartet werden, dass ein Kind mit Deutsch als zweite Sprache innerhalb eines Jahres nach der Ankunft in der Kita einen deutlichen Zuwachs im Verstehen von Deutsch erzielt und beginnt, sich auf Deutsch auszudrücken – je nach Alter, in dem es in den Kindergarten gekommen ist. Die Verwendung von Strukturen aus der Familiensprache ist dabei ganz normal und kein Anlass zur Sorge. Spricht das Kind jedoch auch nach einem Jahr in der Kita noch kein Deutsch, könnte ein Mangel an Wohlbefinden vorliegen.
Für alle Kinder in der Kita gilt, dass eine hochwertige, alltagsintegrierte Nutzung des Deutschen von Fachkräften unerlässlich ist, um die (weitere) Entwicklung des Deutschen zu fördern.
Literatur
De Houwer, A.: Entwicklung von Mehrsprachigkeit: Kindheit und frühe Jugend. In: Földes, C. und Roelcke, T. (Hg.): Handbuch Mehrsprachigkeit. Berlin: De Gruyter, im Druck.
De Houwer, A.; Pascall, M.: Mehrsprachige Kinder fangen nicht später an zu sprechen als einsprachige. Online verfügbar unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/mehrsprachige-kinder-fangen-nicht-spaeter-an-zu-sprechen-als-einsprachige, 2021a.
De Houwer, A.; Pascall, M.: Unsere Kinder und ihre Sprachen: Hürden, Bedürfnisse und Chancen. Ein Vorschlag zur frühen mehrsprachigkeitsoffenen Bildung. Online verfügbar unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/unsere-kinder-und-ihre-sprachen-huerden-beduerfnisse-und-chancen, 2021b.
Kinder- und Elternzentrum "Kolibri" e.V. (Hg.): Vielfalt in Kita: Von Herausforderungen zur Chance. Handreichung Alltag mit mehrsprachigen Kindern und Eltern erfolgreich gestalten. Online verfügbar unter unter https://www.kita-bildungsserver.de/publikationen/dokumente-zum-download/download-starten/?did=1388, 2018.
Verwendeter Direktlink:
HaBilNet Internetseite: www.habilnet.org/de
Autorinnen
Prof. em. Dr. Annick De Houwer ist Direktorin des Netzwerks für Harmonische Mehrsprachigkeit HaBilNet und Präsidentin der International Association for the Study of Child Language (Internationaler Verein für Kindersprachenforschung). Bis Ende März 2021 war sie Professorin für Spracherwerb und Mehrsprachigkeit an der Universität Erfurt. Seit vier Jahrzehnten forscht Annick De Houwer zum Thema frühe Mehrsprachigkeit. Ihre Schriften werden weltweit an Hochschulen als Lernmaterial genutzt. In Vorträgen zur harmonischen mehrsprachigen Sprachentwicklung spricht sie sowohl zu akademischen als auch nicht-akademischen Zuhörerschaften.
Mareen Pascall ist Deutsch-als-Fremd-/Zweitsprache-Lehrerin und Slawistin mit Schwerpunkt polnische Sprache, Kultur und Geschichte. Sie arbeitet freiberuflich als DaF/DaZ-Lehrerin und für das Netzwerk für Harmonische Mehrsprachigkeit HaBilNet.
Fragen oder Kommentare zu den Inhalten dieser Artikelreihe können Sie sehr gern an: annick.dehouwer@habilnet.org richten.