Welche Impulse erhalten Kinder im Alter unter drei Jahren von ihren Erzieherinnen bei der Betrachtung eines Wimmelbilderbuches?

Christina Schwer, Susanne Völker, Kerstin Falkenstein und Nadine Rappenegger

1. Einleitung

Unter Erzieher/innen, Eltern und Wissenschaftler/innen herrscht eine breite Übereinstimmung darüber, dass frühe Erzieher/innen-Kind(er)-Interaktionen im Kindergartenalltag für die weitere Entwicklung der Kinder von großer Bedeutung sind. Inzwischen haben Wissenschaftler/innen in Kooperation mit Erzieher/innen in Kindergärten damit begonnen, genau zu dokumentieren, wie diese Interaktionen zwischen Erzieher/innen und Kindern ablaufen.

Die hier beschriebenen Ausarbeitungen gefilmter Erzieherinnen-Kind-Interaktionen erfolgten gemäß dem Nifbe-Transfer-Konzept, das dem Anspruch folgt, den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis zu fördern, in einer Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiterinnen der nifbe-Forschungsstelle Begabungsförderung und Erzieherinnen der Uni-Kita "Kleine Strolche" in Osnabrück. Für die Videoaufnahmen in der Uni-Kita konnte das Einverständnis der Erzieherinnen und der meisten Eltern gewonnen werden.

Diese Dokumentation entstand als ein Resultat des Nifbe-Pilotprojektes "Begabung und Beziehung im Kindergarten". Im folgenden Text werden wir basierend auf zwei Videosequenzen aus dem Kindergartenalltag beschreiben, wie Erzieherinnen jeweils in einer Interaktion mit mehreren Kindern bei der gemeinsamen Betrachtung eines Wimmelbilderbuches Impulse geben, die sich sichtbar förderlich auf das Explorationsverhalten der Kinder auswirken.

Die Auswahl von angemessenem und möglichst impulsgebendem Verhalten wird von Erzieher/innen in alltäglichen Interaktionen mit Kindern zu großen Teilen rein intuitiv vorgenommen. Viele Handlungen und Verhaltensweisen ergeben sich dabei "wie von selbst", also aus dem Fluss der nacheinander und parallel ablaufenden Ereignisse, in die Erzieher/innen und Kinder eingebunden sind und die sie steuern oder/ und auf die sie reagieren (müssen). Entscheidungen darüber, welche Handlung oder welches Verhalten eine Erzieherin in den nächsten Momenten ausführen wird, verlaufen zu großen Teilen vorbewusst und sind in vielen Fällen aus einer assoziierten Perspektive heraus kaum verbalisierbar. Erst die Perspektive des außenstehenden Beobachters, die man bei der Analyse videoaufgezeichneter Interaktionen einnehmen kann, ermöglicht die Sicht auf die Dinge und das Reflektieren über die in der Vergangenheit abgelaufenen Interaktionen.

Der vorliegende Text soll auch dazu beitragen, einige - sicherlich teilweise intuitiv ablaufende - Verhaltensweisen, die Erzieher/innen vermutlich tagtäglich viele Male durchführen - erkenn- und benennbar zu machen. Von besonderer Bedeutung sind dabei - neben den explorationsanregenden - auch bindungsrelevante Verhaltensweisen in Erzieher/innen-Kind-Beziehungen, die z.B. auch den Beginn und Verlauf von gemeinsamen Bilderbuchbetrachtungs- oder Vorlesesituationen entscheidend mit bestimmen.

2. Erzieher/innen-Kind-Beziehung

Es wurde inzwischen in verschiedenen Studien gezeigt, dass Erzieher/innen besonders für jüngere Kinder Funktionen einer Bindungsperson übernehmen. Das geht z.B. aus den Untersuchungen von Cummings (1980) sowie Barnas und Cummings (1994) hervor. In diesen Studien wurde bindungsrelevantes Verhalten von 11 bis 28 Monate alten Kindern bezogen auf die Erzieherin als Bindungsperson z.B. in Form von Nähe- und Kontaktsuchen, Rufen und Nachfolgen sowohl beim Bringen in die Kita als auch in Belastungssituationen während des Kita-Alltages dokumentiert.

Erzieherinnen-Kind-Beziehungen weisen aber gegenüber Mutter-Kind-Beziehungen einige Besonderheiten auf (Ahnert 2007, S. 34), z.B. dass sie auf einem eher gruppenorientierten Erzieher/innen-Verhalten basieren und Mutter-Kind-Bindungen im Vergleich dazu auf einem eher dyadisch ausgerichteten Mutter-Verhalten. So zeigt eine Metaanalyse zu 40 internationalen Studien, in der die Daten von 2.867 Kindern im Durchschnittsalter von 29,6 Monaten - die sich in außerfamiliärer Kinderbetreuung befanden - analysiert wurden, dass Kinder ein und derselben Kindergruppe zu allen Erzieherinnen, die diese Gruppe betreuten, eine ähnliche Bindungsqualität ausbilden (Ahnert et al. 2006, S. 665).

In der genannten Metaanalyse von Ahnert et al. (a.a.O.) wurde deshalb auch die These überprüft, ob Erzieher/innen-Kind-Bindungen eher durch gruppenorientiertes oder durch kindzentriertes Erzieherinnenverhalten entstehen. Dazu wurden Daten zu eher kindzentrierten Interaktionen zu einzelnen Kindern ausgewertet und mit Daten zu gruppenbezogenen Prozessen verglichen. Es wurde gezeigt, dass die Bindungssicherheit einzelner Kinder vielmehr mit einer professionellen gruppenbezogenen Erzieherinnentätigkeit zusammen hängt als mit der Individualbetreuung einzelner Kinder.

Ahnert (2007, S. 35) schlussfolgert aus dieser Erkenntnis, dass sichere Erzieherinnen-Kind-Bindungen in jenen Kindergruppen entstehen, in denen die Gruppenatmosphäre durch ein Erzieher/innenverhalten bestimmt wird, das empathisch und feinfühlig auf die Dynamik der gesamten Gruppe ausgerichtet ist. Die wichtigsten sozialen Bedürfnisse eines jeden einzelnen Kindes müssen dabei unter der Einbeziehung der Anforderungen der Gruppe zum richtigen Zeitpunkt bedient werden (ebd.). Eine alltägliche und täglich herausfordernde Aufgabe für Erzieher/innen besteht demzufolge darin, das eigene Verhalten einerseits empathisch auf die gesamte Kindergruppe auszurichten und sie zu regulieren sowie andererseits auch im richtigen Moment auf individuelle kindliche Bedürfnisse einzugehen, die nach ihrer Bedeutsamkeit geschickt ausgewählt werden müssen (vgl. Ahnert 2006, 2008, S. 268).

Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass das Zustandekommen einer Bilderbuchbetrachtungs- oder Vorlesesituation, an der eine Erzieherin oder ein Erzieher gemeinsam mit einer kleinen Anzahl von Kindern in einer Kindertagesstätte beteiligt ist, meistens mit einer bewussten oder intuitiven Entscheidung der Erzieherin oder des Erziehers verbunden ist, die in Abhängigkeit von der Gruppendynamik sowie von den Bindungs- und Explorationsbedürfnissen einzelner Kinder getroffen wird.

3. Inhalte und Ziele des Pilotprojektes "Begabung & Beziehung"

Es stellt sich die Frage, welche pädagogischen Rahmenbedingungen und Interaktionsprozesse es genau sind, die sichere Erzieher/innen-Kind-Beziehungen und kindliches Explorieren fördern. Von großem wissenschaftlichem Interesse ist zudem die weiterführende Frage nach den Zusammenhängen zwischen dem frühkindlichen Bindungs- und Explorationsverhalten, das Kinder z.B. in Kitas im Kontakt mit anderen Kindern und mit ihren Erzieher/innen zeigen, und ihrer weiteren Begabungsentwicklung im späteren Kindergarten- und Schulalter.

Vor dem Hintergrund dieser zentralen Fragestellung haben wir im Rahmen des Pilotprojektes "Begabung & Beziehung im Kindergarten" des Nifbe damit begonnen, Interaktionen von Kindern im Kindergarten mit Blick auf individuelle Bildungsprozesse in konkreten und alltäglichen Kita-Situationen videografisch zu erheben und bezüglich des Bindungs- und Explorationsverhaltens zu untersuchen. Ziel des Pilotprojektes war es dabei zunächst, durch Videografie das Agieren von Kindern und Erzieherinnen in zwischenmenschlichen Beziehungen im alltäglichen Lebensraum "Kindertagesstätte" möglichst realistisch zu erfassen. Dabei konnten wir eine Fülle von Situationen videografisch aufzeichnen, die zeigen, wie Kinder untereinander und wie Erzieherinnen das Explorieren von Kindern anregen.

Aus einigen Filmszenen konnten wir bereits einige Kategorien identifizieren, die beschreiben, wie Erzieherinnen durch ihr Handeln und Verhalten Impulse für kindliches Explorieren setzen und wie dadurch Explorieren von Kindern in Gang kommt oder aufrecht erhalten wird. Besonders häufig konnten wir Explorieren von Kindern als unmittelbare Folge einer vorausgegangenen Erzieherinnenhandlung bzw. -äußerung z.B. bei gemeinsamen Bilderbuchbetrachtungen beobachten.

4. Das Bilderbuch als Medium zur Sprach- und Explorationsförderung

Was ist ein Bilderbuch? Ursprünglich wurde der Begriff für jedes Buch, das mit Illustrationen ausgestattet war, verwendet. Heutzutage versteht man darunter ein speziell für Kinder, die noch nicht lesen können oder sich im frühen Lesealter befinden, entworfenes Buch mit zahlreichen Bildern und wenig oder gar keinem Text (Wikipedia, 14.07.2010).

Es lassen sich drei Kategorien von Bilderbüchern unterscheiden (Heuer 1995, S. 9): textfreie Bilderbücher, Bilderbücher mit kleineren Textbeigaben und Bilderbücher, in denen Text und Bild gleichberechtigt nebeneinander stehen. Unterscheidet man die Bilderbücher nach der Art der Bilder, kommt man zu vier weiteren Kategorien (Heuer 1995, S. 9 f.): (1) Elementar-, (2) Szenenbilderbücher, (3) Bildgeschichten und (4) Bilderbuchgeschichten.

  1. Das Elementarbilderbuch zeigt nur Einzelbilder von Gegenständen aus der Lebenswelt von Kleinkindern und eignet sich für die allerjüngsten Betrachter, die beim Betrachten die Gegenstände wieder erkennen und benennen können.
  2. Szenenbilderbücher zeigen auf einer Buchseite typische Merkmale von Situationen (z.B. auf dem Spielplatz, auf dem Flughafen), und diesen Szenen sind oft einfache und kurze Texte beigefügt.
  3. Bildgeschichten sind Bilderbücher ohne Text, die den Ablauf einer Geschichte als eine Folge von Bildern darstellen.
  4. In Bilderbuchgeschichten werden aus einer Kombination aus Text und Bildern Geschichten erzählt (ebd.).

Es gibt eine fünfte und besondere Form von Bilderbüchern: die sogenannten Wimmelbilderbücher. Charakteristisch für Wimmelbilderbücher ist, dass sie Bilder von sehr komplexen Szenen enthalten, die durch eine große Szenen- und Detailvielfalt innerhalb dieser Szenen gekennzeichnet sind, die es bei der Betrachtung zu entdecken gibt. In Wimmelbilderbüchern "wimmelt" es im wahrsten Sinne des Wortes an detailliert dargestellten Menschen, Tieren, Dingen und Situationen. Auch bei mehrmaligen Betrachten gibt es für Kinder immer wieder Neues und Interessantes zu entdecken, da sie ihre Aufmerksamkeit während einer Betrachtungsphase nicht auf alle Details zugleich, sondern nur auf ausgewählte Szenen auf einer Seite richten können. Wimmelbilderbücher regen das Explorationsverhalten von Kindern in besonderer Weise an.

Schmitz (1997) unterscheidet zudem noch die folgenden Bilderbucharten, die die bereits genannten Bilderbuchkategorien noch zusätzlich näher charakterisieren: Demnach gibt es (a) das realistische, (b) phantastische, (c) religiöse Bilderbuch sowie (d) das Tierbilderbuch, (e) das Sachbilderbuch und (f) das Märchenbilderbuch.

Bilderbücher gelten als wichtiges Medium zur Sprachförderung für Kinder bereits ab dem Kleinkindalter (Heuer 1995; Rau 2007). Besonders im Kleinkindalter können während Bilderbuchbetrachtungen folgende Aspekte des Spracherwerbs angeregt werden (Heuer 1995, S. 7):

  1. Phonetische Aspekte: Dabei handelt es sich um den Bereich der Laute. Die Kinder können dabei lernen, unterschiedliche Geräusche differenziert wahrzunehmen und einzuordnen.
  2. Semantische Aspekte: Damit ist das Ziel der Wortschatzerweiterung des Kindes verbunden. Durch Umweltveränderungen lernt das Kind differenziertere Begriffe für neue aber auch für bekannte Dinge. Diese nimmt das Kind wahr und verinnerlicht sie, um sie dann in Gesprächssituationen anzuwenden. Wortschatzerweiterungen sind in vielen Bereichen möglich, z.B. bei Merkmalen von Personen, Tieren und Objekten; räumlichen Beziehungen; zeitlichen Beziehungen; Prozessen: Tätigkeiten, Ereignisfolgen und Bewegungen. Für die genannten Aspekte gibt es großenteils Namen und Bezeichnungen, die von den Kindern erlernt und angewendet werden können.
  3. Syntaktische Aspekte: Sie beziehen sich auf den Bereich der Satzbildungsfähigkeit. Gerade die Grammatik wird von den Kindern großenteils unbewusst erlernt. Bilderbuchbetrachtungen bieten viele Möglichkeiten, Grammatik auf andere Situationen anzuwenden. Ziel bei Bilderbuchbetrachtungen mit Kleinkindern könnte es daher sein, schon im frühen Alter die Entwicklung der grammatischen Fähigkeiten des Kindes zu unterstützen, z.B. die Anwendung der wichtigsten Satzformen und Mehrzahlbildlungen anzuregen, komplizierte Satzgefüge zu verstehen und selbst zu konstruieren und Verneinungen zu gebrauchen (ebd.).

Schmitz sieht die Bedeutung von Bilderbüchern in der Lebenswelt von Kindern ebenfalls in der Unterstützung des Spracherwerbs, aber sie hebt zudem die Bedeutung von Bilderbüchern für die kindliche Umwelterklärung, die intellektuelle Entwicklung, die Entwicklung von Phantasie und Kreativität, die Erziehung, die psychische Entwicklung, die emotionale Entwicklung, die Kunsterziehung und die Aneignung von Literaturkenntnis, für Freude und Interesse beim Betrachten und "Lesen(lernen)" hervor (Schmitz 1997, S. 11 ff.).

Wieler (1997, S. 14) sieht in den Anfängen des sozialen Verstehens bei Kleinkindern, den frühen interpersonalen Beziehungen von Kindern, ihrer sich entwickelnden Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und zur Empathie sowie in den frühen Interaktionserfahrungen von Kindern erste wichtige kindliche Lebenswelterfahrungen, die in einem engen Zusammenhang stehen mit der narrativen Struktur der in ersten Bilderbüchern "erzählten Geschichten", und die sich gleichzeitig als Voraussetzung erweisen für spätere "literarische" Verstehensleistungen von Kindern.

Wichtige Voraussetzungen für späteres literarisches Verstehen können u.a. im Rahmen von Bilderbuchbetrachtungen erworben werden. Dazu gehören laut Astington (1990, S. 159):

  • die Fähigkeit zum Präsupponieren, d.h. die Fähigkeit, Vorannahmen zu einem Sachverhalt auszubilden,
  • die Fähigkeit, die subjektive Sicht einer fiktiven Figur zu erkennen, aus deren Perspektive Ereignisse dargestellt werden, und
  • die Fähigkeit zu akzeptieren, dass mehrere Perspektiven im Kontext einer Situation zutreffen können.

Außerdem ergibt sich mit der gemeinschaftlichen Rezeption von Bilderbüchern ein konkreter inhaltlicher Bezugspunkt für die kommunikative Zuwendung der Erwachsenen, die dem Kind den Zugang zu einer bereits etablierten kulturellen Praxis eröffnet (Wieler 1997, S. 23) und zum Erwerb von "Literacy" (Rau 2007, S. 15).

Der angelsächsische Begriff "Literacy" bedeutet ins Deutsche übersetzt sowohl "Bildung" als auch "Lese- und Schreibfähigkeit". "Literacy" umfasst also das Lesen und Schreiben, aber darüber hinaus auch das Vertrautwerden mit Büchern, das Lesen von Symbolen und Bildern sowie den Umgang mit Medien wie Radio, Fernsehen, Film und Computer (Rau 2007, S. 15).

Bilderbuchbetrachtungen unterstützen die Persönlichkeitsentwicklung und die Kommunikationsfähigkeit von Kindern. Bilderbuchbetrachtungen, die in Kommunikation mit anderen Personen - z.B. mit Eltern und Erzieher/innen - stattfinden, führen auch dazu, dass die Beteiligten Informationen austauschen über Gesehenes. Das fördert in hohem Maße die kognitive Entwicklung der Kinder in vielfältigen Bereichen (je nach den Themen in den Bilderbüchern), weil Kinder in Bilderbüchern Neues entdecken (explorieren!) und dadurch neue Informationen und Erkenntnisse über Sachverhalte gewinnen können.

Frühe Dialoge zwischen Erwachsenen und Kindern beim Betrachten von Bilderbüchern bzw. beim Vorlesen verlaufen recht stereotyp (Rau 2007, S. 33), und sie sind gekennzeichnet durch Wiederholung und Fortschritt (ebd., S. 39 f.). Einige sehr interessante Beispiele, die frühe Dialoge von (Klein-) Kindern im Alter von ein, zwei, vier und fünf Jahren mit Bezugspersonen beschreiben, findet man bei Rau (2007, S. 33 ff. und 42 ff.).

Beim Bilderbuchbetrachten mit anderen Personen werden aber auch das Erlernen von zwischenmenschlichen Interaktionsformen und die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen unterstützt. Bilderbuchbetrachtungssituationen bzw. Vorlesesituationen zeigen oft ein Bild inniger Gemeinsamkeit zwischen der Bezugsperson und dem Kind (Rau 2007, S. 31). Die Bezugsperson sitzt am Tisch oder auf einem Sofa, in einem Sessel oder im Schneidersitz auf dem Boden; das Kind schmiegt sich eng an oder sitzt auf dem Schoß - anfangs oft eingeschlossen in den Armen, die das Buch halten (ebd.). Daher zeigen Kleinkinder (aber auch Kinder im Alter von über drei Jahren) gerade in Bilderbuchbetrachtungssituationen oder beim Vorlesen mit vertrauten Personen, wie z.B. mit Eltern, Großeltern und Erzieher/innen, sehr deutlich Bindungsverhalten.

Besonders schön war die interpersonelle Nähe zwischen Erzieherinnen und Kita-Kindern in zwei Bilderbuchbetrachtungsszenen zu sehen, die wir im Rahmen unseres Pilotprojektes "Beziehung und Begabung" gefilmt haben. Die Kita-Kinder sitzen hier sehr nah an der Erzieherin, kuscheln sich an sie oder haben in anderen Formen nahen (Körper-) Kontakt zu ihr. Diese Videoszenen haben wir ausgewählt, um an Beispielen demonstrieren zu können, wie Erzieherinnen sich eigentlich verhalten bzw. welche Handlungen sie ausführen, unmittelbar bevor Kinder zu den Bildern im Bilderbuch explorieren.

Im folgenden Abschnitt beschreiben wir kurz die beiden Videoszenen, in denen jeweils eine Erzieherin sich in einer sehr intensiven Interaktion mit mehreren Kindern bei der gemeinsamen Betrachtung eines realistischen Wimmelbilderbuches mit Sachbilderbuchcharakter zum Thema Zoo befindet. Das Buch ist besonders gut sowohl für Kinder unter drei Jahren als auch für Kinder im Alter von über drei Jahren geeignet, allein oder gemeinsam mit anderen Personen die "Welt des Zoos" zu entdecken und das natürliche Interesse der Kinder zum Thema "Zoo" und "Tiere" zu erhalten und weiter zu entwickeln.

Gerade Sachbilderbücher fördern und erhalten das Interesse von Kindern an Dingen und Sachverhalten, die man - gemäß der Entwicklung des kindlichen Explorationsverhaltens (1) - nicht mehr im wahrsten Sinne konkret "begreifen" kann, sondern die die Kinder mehr und mehr intellektuell erfassen (Schmitz 1997, S. 124) und entdecken können.

5. Beschreibung der videografierten Szenen "Betrachtung des Wimmelbilderbuches"

Im Rahmen der vormittäglichen Freispielzeit konnten wir zwei Szenen in Bild und Ton aufzeichnen, in denen jeweils eine Erzieherin gemeinsam mit mehreren Kindern das Wimmelbilderbuch "Mein großes Bilderbuch vom Zoo" (Scherbarth 1991) betrachtete. Dabei kam jeweils eine emotional sehr angenehme Kommunikation zwischen den Beteiligten zustande, die zeigte, dass sich Situationen gemeinsamer (oder geteilter) Aufmerksamkeit ergeben hatten. Von einem Zustand gemeinsamer Aufmerksamkeit sprechen wir, wenn es zwei oder mehreren Interaktanten gleichzeitig gelingt, ihre Aufmerksamkeit auf ein und dasselbe Objekt oder auf ein und denselben Sacherhalt zu richten.

5.1 Videosequenz 1

Die Videosequenz 1 dauerte insgesamt ca. 15 Minuten. Davon wurden von unserem Kamerateam ca. 10 Minuten in Bild und Ton videografisch erfasst. An der Bilderbuchbetrachtung waren zwei Kinder - Jana und Finn beteiligt (2). Das Mädchen war zum Zeitpunkt der videografischen Datenerhebung ca. 32 Monate und der Junge 25 Monate alt. Die Kinder saßen gemeinsam mit der Erzieherin in einem Gruppenraum des Kindergartens auf Stühlen an einem Tisch.

5.2 Videosequenz 2

Die Videosequenz 2 dauerte insgesamt ca. 12 Minuten. Sie wurde von unserem Kamerateam komplett videografisch erfasst. An dieser Buchbetrachtung waren insgesamt vier Kinder - Jana (ca. 32 Monate alt), Marie (ca. 22 Monate alt), Nils (ca. 29 Monate alt) und Felix (ca. 39 Monate alt) beteiligt (3). Die Kinder saßen gemeinsam mit der Erzieherin im Bauraum des Kindergartens auf dem Fußboden.

Die unten beschriebenen Beobachtungen stammen aus diesen beiden Filmsequenzen.

6. Erwachsenen-Kind-Interaktionen während der Betrachtung von Bilderbüchern

Der für diese Untersuchung gewählte Forschungsansatz basiert auf einem dynamischen und interaktiven Konzept des "Bilderbuchbetrachtens": Die Situation des Bilderbuchbetrachtens wird - sofern das Kind sich nicht allein, sondern gemeinsam mit einer erwachsenen Personen mit dem Bilderbuch beschäftigt - als dialogischer Prozess wechselseitiger Bedeutungskonstitution verstanden.

Ähnlich wie bei dem von Wieler (1997, S. 23) beschriebenen dynamischen und interaktiven Konzept des "Vorlesens" besteht das zentrale Moment der Hilfestellung durch den Erwachsenen in der Anpassung dieses Dialogs an die kindliche Entwicklung und an das kindliche Verstehensniveau. Der Erwachsene übernimmt dabei Vorbild- (z.B. beim Sprachgebrauch) und Vermittlerfunktion (ebd.). Die Vermittlerfunktion besteht dabei vor allem in der Unterstützung bei der Adaptation von Gesehenem an kindliche Verstehensprozesse.

Wie vertraute Bezugspersonen (wie z.B. Mütter oder Erzieher/innen) sich dabei auf Kinder sprachlich einstellen, beschreibt z.B. Clark (2009, S. 32-45) in Anlehnung an internationale Forschungsbefunde. Interessant ist dabei zunächst erst einmal, dass Mütter und andere Erwachsene in ihrem Sprachverhalten bzw. in ihrer an das Kind gerichteten Sprache (KGS, Kind gerichtete Sprache bzw. child-directed speech) sich kaum zu unterscheiden scheinen. Genauere Untersuchungen dazu, z.B. zu Unterschieden der an das Kind gerichteten Sprache von Müttern und anderen Bezugspersonen - wie z.B. von Erzieher/innen - stehen allerdings noch aus. Einige allgemeine und hervortretende Merkmale von an das Kind gerichteter Sprache sind: eine spezielle Intonation, Wortwahl und Grammatik, die stärker ausgeprägt sind, je jünger die Kinder sind (ebd.):

  • Der Tonhöhenbereich ist größer, mehr als eine Oktave; die Stimme steigt und fällt steiler, sie ist oft übertrieben hoch (Babys und Kleinkinder reagieren auf hohe Stimmlagen aufmerksamer, je jünger sie sind).
  • Signale, wie "Guck mal hier...", oder die Anrede mit Namen lenken die Aufmerksamkeit des Kindes auf etwas Bestimmtes.
  • Wörter werden langsamer ausgesprochen, d.h. Vokale werden länger gesprochen in betonten Silben von wichtigen Wörtern.
  • Wörter, die Konkretes bezeichnen, überwiegen.
  • Wörter und Ausdrücke werden wiederholt.
  • Je jünger die Kinder sind, desto häufiger verwenden Erwachsene die gleichen Satzmuster, beispielsweise um neue Wörter einzuführen, die sie am Satzende mit starker Betonung und übertriebener Intonation akzentuieren, z.B. "Guck mal, da ist ein
    H u n d
    ."
  • Sätze sind einfacher gebaut. Sie sind oft mit "und" verbunden, und sie enthalten nur wenige Nebensätze; sie werden wiederholt oder/und paraphrasiert (d.h. umschrieben).
  • Äußerungen haben eine geringere Durchschnittslänge.
  • Pausen am Satzende sind länger.

7. Kindliches Explorationsverhalten beim Betrachten von Wimmelbilderbüchern

Eine förderliche Bedingung für kindliches Explorationsverhalten sind sichere Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen: zu Mutter, Vater und/ oder zu einer Erzieherin im Kindergarten. Eine sichere Bindung ist auch eine wichtige Voraussetzung dafür, dass in einer Erwachsenen-Kind-Beziehung regelmäßig längere und positiv verlaufende Momente gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit auf ein Objekt, wie z.B. auf ein Bilderbuch, entstehen können. Neben der Fähigkeit eines Kindes zu Bindung und Exploration wird die Möglichkeit, eine gemeinsame (oder geteilte) Aufmerksamkeit mit einem Erwachsenen herzustellen, als eine weitere genetisch bedingte Begabung eines Kindes angesehen (Grossmann/ Grossmann 2007, S. 265, 271), die besonders für die kulturelle Bildung von Kindern wichtig ist, weil dabei gemeinsame Erfahrungen gemacht und besprochen werden (Grossmann/ Grossmann 2006, S. 9). Intersubjektive Interpretationen und Bedeutungen können so ausgetauscht und weiter entwickelt werden. Sichtweisen können sich unterscheiden. Die Kinder lernen, dass andere Personen die Szenen im Buch und auch die reale Welt unterschiedlich explorieren und interpretieren (können) und dass vielfältige Sichtweisen legitim sind.

Explorationsverhalten kann definiert werden als wahrnehmendes Erforschen der Umwelt und des Selbst. Es schließt die Erkundung von neuen Objekten und Situationen mit ein, die die Neugier eines Individuums anregen (Keller 1992, S. 120 f.), und es hat die Funktion des Informationserwerbs (ebd.). Kindliches Explorationsverhalten kann als Motor für die kognitive Entwicklung (Voss/ Keller 1986, S. 328) und als Voraussetzung für die Begabungsentwicklung angesehen werden.

Es sind verschiedene Formen von Explorationsverhalten beschrieben worden (Keller 1992, S. 121; Keller/ Boigs 1989, S. 452 ff.), z.B. die visuelle Exploration (das Kind betrachtet das Objekt), die taktile Exploration (das Kind berührt das Objekt, während seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist), die manipulative Exploration (das Kind berührt und bewegt das Objekt bzw. dessen Teile, es löst Funktionen aus und testet diese, während seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist) und die verbale Exploration (das Kind stellt Fragen zum Objekt). Ein weiteres Beispiel für verbale Exploration wäre, dass das Kind einfach sagt, was es selbst denkt, und damit Reaktionen anderer Personen evoziert, die seine Sicht der Dinge entweder bestätigen, wiederlegen oder/ und weiter entwickeln. Äußerungen anderer Personen könnte man auch als Quelle neuer Informationen ansehen, die das Kind während der Bilderbuchbetrachtung gewinnen kann.

Zwei der genannten Explorationsformen konnten wir auch beim Betrachten des Wimmelbilderbuches über den Zoo bei den Kindern in den beiden videografierten Szenen feststellen: die visuelle Exploration (Kind blickt auf das Bilderbuch) und die verbale Exploration (Kind stellt Fragen zu einem Bild im Buch und evoziert durch eigene sprachliche Darstellungen sowie durch andere Verhaltensweisen Äußerungen anderer Personen).

Weitere vertiefende Analysen des kindlichen Explorationsverhaltens sollen im Verlauf unserer weiteren Untersuchungen im Anschlussprojekt "Beziehung & Begabung" durchgeführt werden: Es sollen die Dauer und die Häufigkeit bestimmter kindlicher Explorationsformen erfasst und im Zusammenhang mit einzelnen unmittelbar vorhergehenden Explorationsimpulsen von der Erzieherin analysiert werden. Bei einer angemessenen Anzahl von Situationen, die Erzieherinnen-Impulse enthalten, wären dann Aussagen darüber möglich, welche Explorationsimpulse einer Erzieherin häufiger und/ oder länger andauerndes kindliches Explorationsverhalten auslösen als andere.

8. Erzieherinnen als Impulsgeberinnen für kindliches Explorationsverhalten beim Betrachten eines Wimmelbilderbuches

Einige Handlungen bzw. Verhaltensweisen der Erzieherinnen, die wir in den beiden Videosequenzen beobachtet haben und nach denen Explorieren der Kinder jeweils unmittelbar folgte, werden in der folgenden Tabelle genannt.

Nr. Kate- gorie Kategorie: Erzieherinnen-Verhalten Beispiele: Verbale/ nonverbale Originaläußerungen der Erzieherin
(Zu lesen:) Die Erzieherin ... ... indem sie ...
1 ...fokussiert die Aufmerksamkeit der Kinder auf eine bestimmte Szene im Wimmelbild, ... ... z.B. sagt "Guck mal..." und indem sie mit dem Zeigefinger darauf zeigt.
2 ...nennt die Namen oder Bezeichnungen von Subjekten oder Objekten, ... ... z.B. (oft auch bestätigend oder paraphrasierend) sagt: "... das ist ein Flamingo ...".
3 ...regt die Kinder an, Objekte oder Subjekte auf dem Bild zu suchen, ... ... z.B. sagt: "...wo sind denn die Pinguine, hast Du die schon gefunden?" oder indem sie z.B. sagt "... findet Ihr auch das eine Pferd auf dem Bild...?"
4 ... regt die Kinder an, die Bezeichnungen von Gegenständen oder Tieren zu nennen ... ... z.B. indem sie mit dem Zeigefinger darauf zeigt und fragt: "Wer ist das?" oder indem sie darauf zeigt und sagt: "Das kennt ihr auch. Was ist das? ..."
5 ... fokussiert die Aufmerksamkeit der Kinder auf Verhalten von Personen oder Tieren bzw. sie macht die Kinder auf Prozessabläufe aufmerksam, ... ... z.B. sagt: "Guck mal, die machen das gerade sauber ..." oder indem sie sagt/ fragt: "Was machen die denn da? ... Schaukeln ..."
6 ... regt die Kinder an, Bezeichnungen von Handlungen, Verhalten oder Prozessen zu nennen... ... z.B. darauf zeigt und fragt: "Was machen die denn da?"
7 ... macht die Kinder auf Unterschiede von Objekten, Subjekten oder Sachverhalten aufmerksam, ... ... z.B. sagt: "... es gibt unterschiedliche Eulen ...".
8 ... macht die Kinder auf Phänomene in Natur und Lebenswelt aufmerksam ... ... z.B. darauf zeigt und sagt: "Guck mal, das sind Kängurus. Die haben ihre Babys vorn im Beutel ..." oder indem sie fragt/ sagt: "Wisst Ihr, wie die Babys von den Wildschweinen heißen? Frischlinge heißen die."
9 ...nennt oder bestätigt die Anzahl von Objekten oder Subjekten, ... ... z.B. sagt: " ...da ist ein Pferd auf dem Bild...".
10 ...regt die Kinder an, die Anzahl von Objekten oder Subjekten zu bestimmen,... z.B. fragt: "... wie viele Tiger sind das denn...und wie viele Löwen sind das da...?"
11 ...regt die Kinder zur räumlichen Orientierung an, ... ...z.B. fragt: "... wer findet denn den Affen auf dem höchsten Ast, der ganz weit oben ist ...?"
12 ...regt die Kinder zum Erkennen von Schrift an, ... ... fragt: "... findest Du denn auch eine Tafel, wo jemand etwas aufgeschrieben hat...?"

Darüber hinaus haben wir noch zwei weitere Kategorien identifiziert, die die Erzieherinnen nutzen, um (13) für sich Informationen über die Wissensbasis eines Kindes oder mehrerer Kinder zu erhalten, und eine (14) Kategorie, mit der eine Erzieherin, die Kinder dabei unterstützt, einen Bezug zu ihrem individuellen Vorwissen herzustellen mit der situationsbezogenen Intention, dass die Kinder eigene Wissensinhalte mit dieser Unterstützung anschließend besser aktualisieren und verbalisieren können.

Nr. Kate- gorie Kategorie: Erzieherinnen-Verhalten Beispiele: Verbale/ nonverbale Originaläußerungen der Erzieherin
(Zu lesen:) Die Erzieherin ... ... indem sie ...
13 ...versucht, Informationen über die Wissensbasis der Kinder zu erlangen, ... ... z.B. fragt "...aber du hast Pinguine im Zoo schon mal gesehen?" oder indem sie fragt "... du kennst die nicht?"
14 ... versucht einen Bezug zum individuellen Vorwissen der Kinder herzustellen, ... ...z.B. sagt: "...die habe ich im Zoo auch schon mal gesehen, die sind am Eingang ..." oder indem sie sagt: "...du warst mit Oma und Opa im Zoo ... letzte Woche"

Vier weitere Verhaltenskategorien haben wir identifiziert, die sich darauf beziehen, dass die Erzieherinnen (15) die Kinder zur Wahrnehmung ihrer Explorations- bzw. Arbeitsumgebung anregen, (16) ihnen Möglichkeiten zur Veränderung/ Optimierung ihrer Explorationsbedingungen bzw. zur Vorbereitung ihrer Explorations- und Arbeitsumgebung vorschlagen, (17) sie bei der Optimierung/ Vorbereitung der eigenen Explorations- bzw. Arbeitsumgebung unterstützen bzw. assistieren, und (18) die Explorationsbedingungen für die Kinder selbst verbessern.

Nr. Kate- gorie Kategorie: Erzieherinnen-Verhalten Beispiele: Verbale/ nonverbale Originaläußerungen der Erzieherin
Zu lesen:) Die Erzieherin ... ... indem sie ...
15 ...regt die Kinder zur Wahrnehmung ihrer Explorations- bzw. Arbeitsumgebung an, ... ... z.B. fragt "...könnt ihr überhaupt was sehen?" oder indem sie fragt "...sitzt du gut auf deinem Kissen?"
16 ... zeigt den Kindern (eine) Möglichkeit(en) zur Veränderung/ Optimierung ihrer Explorationsbedingungen bzw. zur Vorbereitung ihrer Explorations- bzw. Arbeitsumgebung ... ...z.B. sagt: "...nimm doch den Stuhl mit hier hin, dann kannst du mit uns zusammen gucken, dann kannst du besser sehen ..."
17 ...unterstützt die Kinder bei der Optimierung/ Vorbereitung ihrer Explorations- bzw. Arbeitsumgebung, d.h. sie ermutigt und assistiert dabei ... z.B. lobend sagt: "...genau..." nachdem ein Kind seinen Stuhl näher zum Bilderbuch gerückt hat, um besser ins Buch sehen zu können, sie assistiert dem Kind anschließend, indem sie es hoch hebt und auf den hergerückten Stuhl setzt
18 ...optimiert die Explorations- bzw. Arbeitsumgebung der Kinder selbst ...z.B. sagt und es realisiert: "... ich dreh das Buch mal um..."

Resümierend kann man sagen, dass während dieser Bilderbuchbetrachtungen vielfältige Inhalte aus verschiedenen Bildungsbereichen angesprochen wurden. Die Video-Analyse zeigt ausschnitthaft, wie in einer Osnabrücker Kindertagesstätte in alltäglichen Interaktionen mit Kindern Aspekte aus verschiedenen Lern- und Erfahrungsfeldern angesprochen werden, die im gültigen Orientierungsplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich niedersächsischer Tageseinrichtungen für Kinder des Bundeslandes Niedersachsen (Niedersächsisches Kultusministerium 2005) enthalten sind.

Die beiden Videoszenen zeigen auch, wie die Erzieherinnen "Feinfühligkeit" (4) gegenüber den Bedürfnissen von den an der Bilderbuchbetrachtung beteiligten Kindern nach Nähe, Anregung und Exploration als pädagogisches Prinzip ihres professionellen Handelns und Verhaltens praktizieren. Aus der Szene geht hervor, welches individuelle Konzept von "Feinfühligkeit" sie dabei internalisiert haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchem Umfang es möglich ist, Feinfühligkeit als pädagogisches Prinzip während der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften erfolgreich einzuüben, oder/ und ob Auszubildende diese Fähigkeiten besser zu großen Teilen bereits vor Beginn einer pädagogischen Ausbildung aufweisen sollten.

9. Resümee

Aus unserer Sicht ist es von großem Interesse, anhand von weiteren Kindergartenalltagsszenen zu untersuchen, wie es Erzieher/innen überhaupt gelingt, (1) kindliche Exploration zu unterstützen sowie (2) gemeinsame Aufmerksamkeit mit einzelnen und mit mehreren Kindern im Kita-Alltag möglichst häufig und für längere Phasen herzustellen.

Von großer Bedeutung ist dabei auch der oben bereits erwähnte Aspekt, dass die Bindungssicherheit in Erzieher/innen-Kind-Beziehungen auf einem empathischen Erzieher/innenverhalten basiert, das auf eine Kindergruppe ausgerichtet ist (Ahnert 2008, S. 267 f., Ahnert et al. 2006), und dass Erzieher/innen daher - im Gegensatz zu dem häufig dyadebezogenen Verhalten von Müttern in Mutter-Kind-Beziehungen - besondere Verhaltensstrategien benötigen, die im Kontext der vielfältigen und parallel ablaufenden Gruppeninteraktionen geeignet sind, um mit einzelnen oder einer kleinen Anzahl von Kindern zu gemeinsamer Aufmerksamkeit zu gelangen. Eine besondere und alltägliche Herausforderung für Erzieher/innen besteht dabei - wie bereits gesagt - darin, das eigene Verhalten einerseits empathisch auf die gesamte Kindergruppe auszurichten und sie zu regulieren sowie andererseits sich auch im richtigen Moment auf individuelle kindliche Bedürfnisse einzugehen, und sie nach ihrer Bedeutsamkeit geschickt auszuwählen (vgl. Ahnert 2006, 2008, S. 268).

Über welche speziellen Kompetenzen Erzieher/innen dabei verfügen müssen, um diese (teilweise intuitiven) Entscheidungen zu treffen, um gemeinsame Aufmerksamkeit herstellen zu können und um das Explorieren von Kindern in der Kindertagesstätte individuell- oder/ und gruppenbezogen im Rahmen des Kita-Alltages zu fördern, welche situationsbezogenen Anforderungen sie dabei zu erfüllen haben, müsste nach unserem heutigen Kenntnisstand noch weiter empirisch untersucht werden. Videoaufzeichnungen von Kita-Alltagssituationen sind dabei jedenfalls eine gute Grundlage und bieten vielfältige und noch weitgehend ungenutzte Möglichkeiten, Handlungsabläufe - die zu großen Teilen intuitiv verlaufen - zu beschreiben und damit erlern- und trainierbar zu machen.

Anmerkungen

  1. Zur Entwicklung des kindlichen Explorationsverhaltens siehe Keller und Boigs (1989, S. 454).
  2. Die Namen der Kinder wurden geändert.
  3. Die Namen der Kinder wurden geändert.
  4. Ainsworth entwickelte das Konzept "Feinfühligkeit" im Rahmen ihrer Forschungen zu Mutter-Kind-Bindungen. Sie führte "Feinfühligkeit" als mütterliche Feinfühligkeit gegenüber den Signalen des Säuglings ein (Ainsworth 2003, S. 414 ff.; Ainsworth/ Bell 1974, 2003). Übertragen auf das Verhalten der Erzieherin verstehen wir unter "Feinfühligkeit" in diesem Zusammenhang, dass die Erzieherin das Verhalten und die Äußerungen der Kinder (1) aufmerksam wahrnimmt, d.h. dass sie mental präsent ist, (2) diese adäquat interpretiert, sowie (3) prompt und (4) angemessen darauf reagiert.

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Der Artikel entstand bei Nifbe, Forschungsstelle Begabungsförderung, in Kooperation mit der Uni-Kita "Kleine Strolche", Osnabrück. Kontakt:

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