Evamaria Zettl
Mehrsprachigkeit gehört zum Alltag frühkindlicher Bildungseinrichtungen, doch der Umgang mit Mehrsprachigkeit führt zu vielen offenen Fragen und Unsicherheiten von Fachpersonen.
Im folgenden Artikel werden grundlegende Begriffe aus der Mehrsprachigkeitsforschung vorgestellt, soweit sie für die frühpädagogische Arbeit relevant sind:
Mehrsprachigkeit im weitesten Sinn
Individuelle lebensweltliche Mehrsprachigkeit
Muttersprache, Erstsprache, Zweitsprache, Herkunfts- oder Familiensprache?
Institutionelle Mehrsprachigkeit
Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit
Der Artikel lehnt sich an eine gekürzte und aktualisierte Version der Forschungsberichte von Zettl (2019, S. 38ff.) und das Handbuch „Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen“ (Panagiotopoulou/Montanari, 2019) an und berücksichtigt darüber hinaus weitere Fachtexte mit dem Schwerpunkt Mehrsprachigkeitsforschung und Migrationspädagogik.
Mehrsprachigkeit im weitesten Sinn
Nach einer weiten Definition, die der Sprachwissenschaftler Wandruszka (1979, S. 13) aufstellte, ist Mehrsprachigkeit eine allgemein menschliche Eigenschaft. Dies gilt, wenn unter „Sprachen“ auch Sprachvarietäten gefasst werden. Sprachvarietäten sind z.B. die an Mündlichkeit orientierte Alltagssprache oder die schriftsprachlich orientierte Bildungssprache, verschiedene Fachsprachen, Soziolekte (z.B. Jugendsprache), Ethnolekte (z.B. Varietäten des Deutschen, die einzelne sprachliche Merkmale von Migrationssprachen übernehmen) oder Dialekte. Je nach Situation wechseln wir alle zwischen diesen Varietäten, wir sind also nach dieser Definition alle mehrsprachig.
Der vorliegende Artikel handelt nicht in erster Linie von Varietäten oder der, aus sprachwissenschaftlicher Sicht, schwierigen Frage, was Sprachen und Varietäten sind. Trotzdem soll diese weite Perspektive erwähnt werden, weil sie daran erinnert, dass auch nicht migrationsbedingt mehrsprachige Menschen situationsbedingt zwischen verschiedenen Sprach(varietät)en wechseln können. Nach dieser Perspektive ist die Trennung zwischen „einsprachigen“ und „mehrsprachigen“ Menschen künstlich. Diese Sichtweise lädt auch Menschen ein, die nicht durch Migration oder Fremdsprachenkenntnisse bedingt mehrsprachig sind, über ihre verschiedenen Sprachvarietäten und deren Gebrauch nachzudenken, z.B., mit welchen Personen sie welche Varietäten, z.B. Dialekt, sprechen und mit welcher Sprachvarietät sie sich in welchen Kontexten am wohlsten fühlen.
Individuelle lebensweltliche Mehrsprachigkeit
Individuelle Mehrsprachigkeit (vgl. Fürstenau 2011, S. 28ff.) bezeichnet eine Eigenschaft von Personen, die im täglichen Leben mehreren Sprachen begegnen und die in mehreren Sprachen handeln. Diese Form der Mehrsprachigkeit umfasst Zweisprachigkeit und den Gebrauch von mehr als zwei Sprachen.
Individuelle Mehrsprachigkeit kann migrationsbedingt sein und wird dann auch (individuelle) lebensweltliche Mehrsprachigkeit genannt (vgl. Fürstenau 2011, S. 29 nach Gogolin 2005); sie kann durch das Sprechen verschiedener einheimischer Sprachen in mehrsprachigen Regionen entstehen (z.B. Deutsch und Französisch an der deutsch-französischen Sprachgrenze in der Schweiz) oder durch das Sprechen einer einheimischen Sprachminderheit (z.B. Sorbisch in Sachsen) zusätzlich zur Mehrheitssprache. Sie kann durch Sprachenkontakte im Alltag, durch gesteuerten Sprachunterricht (etwa Frühenglisch in der Kita), eine bilinguale Institution (z.B. eine mehrsprachige Kita), oder eine Kombination von allem entstehen.
Die Alltagsvorstellung ist heute noch weit verbreitet, dass Einsprachigkeit Normalität bedeute und Mehrsprachigkeit ein Sonderfall sei; auch in der Forschung war dieses Konzept lange vorherrschend (vgl. Lengyel 2017, S. 157). Damit geht oft die veraltete Idee einher, dass lebensweltlich mehrsprachige Sprecher*innen alle ihre Sprachen idealerweise so beherrschen sollten wie einsprachige Personen (vgl. Panagiotopolou 2016, S. 11) und dass eine Abweichung von diesem Ideal ein Defizit bedeute.
Dieses unrealistische Ideal berücksichtigt jedoch vieles nicht. Der Wortschatz kann in unterschiedlichen Kontexten in verschiedenen Sprachen unterschiedlich weit ausgebaut sein; ein Kita-Kind, das in der Kita Deutsch lernt und zu Hause Kroatisch spricht, wird vielleicht Dinge, denen es nur in der Kita begegnet, eher im Deutschen benennen können, während der Wortschatz für Gegenstände, die nur zu Hause vorhanden sind, im Kroatischen stärker ausgebaut ist. Vergleicht man den deutschen Wortschatz dieses Kindes mit dem eines einsprachig deutsch aufwachsenden Gleichaltrigen, kann man möglicherweise ein Defizit feststellen.
Es kann sich jedoch zeigen, dass das Kind sich auf beide Sprachen bezogen jeweils situationsgerecht ausdrückt (vgl. Panagiotopoulou 2016, S. 12). Zudem verändern sich Sprachen in der Migrationssituation und beeinflussen sich gegenseitig (vgl.Gogolin/Krüger-Potratz 2010, S. 179), so dass z.B. das Italienische der zweiten oder dritten Migrationsgeneration in der Schweiz sich im Vergleich zum in Italien gesprochenen Standarditalienischen unterscheiden kann.
Wie viele lebensweltlich mehrsprachige Kita-Kinder es im deutschsprachigen Raum gibt, darüber gibt es keine flächendeckenden Angaben (für Deutschland vgl. de Houwer/Pascall 2021)[i]. Im Stadtstaat Hamburg existiert zudem eine jährliche Erhebung über alle Viereinhalbjährigen im Rahmen eines Monitorings. Für das Schuljahr 2019/20 gab es den Befund, dass in 5,5% der Familien „kein Deutsch“, in 13,3% „überwiegend kein Deutsch“, in 27,6% Deutsch als „überwiegende Sprache“ und in 53,6% „nur Deutsch“ gesprochen wird (Heckt/Pohlmann 2020). Die Bögen für das Jahr 2020 berücksichtigen neu auch die Kategorie „Deutsch und andere Sprache/n etwa in gleichen Anteilen“ (Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg 2020). Diese Erhebung mag kritisierbar sein[ii], zeigt jedoch, wie verbreitet Mehrsprachigkeit unter Einbezug des Deutschen in Familien ist. Es ist wichtig, mehrsprachige Kinder nicht gleichzusetzen mit der (in der Hamburger Erhebung sehr kleinen) Minderheit von Kindern, die zu Hause gar kein Deutsch sprechen.
Leider werden mehrsprachige Kinder aus zugewanderten Familien oft pauschal als „Risikogruppe“ betrachtet (Panagiotopoulou 2016, S. 11), unabhängig von ihren tatsächlichen Sprachenkompetenzen. Oft werden nur ihre Deutschkenntnisse berücksichtigt, etwa in standardisierten Sprachtests (Panagiotopoulou 2016, S. 12).
Sprachwissenschaftler*innen und Erziehungswissenschaftler*innen sind sich jedoch einig, «dass lebensweltliche Mehrsprachigkeit in keiner Weise eine Einschränkung für die kognitive und sprachliche Entwicklung von Kindern darstellt» (Fürstenau 2011, S. 32; vgl. auch Gogolin 2017, S. 107; de Houwer/Pascall 2021).
Muttersprache, Erstsprache, Zweitsprache, Herkunfts- oder Familiensprache?
Um die verschiedenen Sprachen zu klassifizieren, die mehrsprachige Kinder sprechen, werden alltags- und fachsprachlich verschiedene Begriffe verwendet.
Der poetische, emotional besetzte und oft eher alltagssprachlich benutzte Begriff der Muttersprache geht davon aus, dass es vor allem die Mutter ist, die eine Sprache vermittelt, und geht davon aus, dass es pro Mutter nur eine Sprache gibt. Er betont auch die Bedeutung der biologischen Herkunft fürs Sprachenlernen. All dies sind unpräzise Alltagskonzepte, da Sprachen selbstverständlich auch durch Väter und weitere Bezugspersonen vermittelt werden (vgl. Ahrenholz 2017, S. 3f.) und viele Mütter mehr als eine Sprache mit ihren Kindern sprechen. In der Sprachwissenschaft wird der Begriff „Muttersprache“ derzeit wenig verwendet, in didaktischen Handreichungen, die sich an ein allgemeines Publikum richten, wird er öfter gebraucht.
Aus der Spracherwerbsforschung stammt daher der genauere Begriff der Erst-, Zweit- und ggfs. Drittsprachen (Ahrenholz 2017, S. 4). Dabei bezieht sich „Erst-,“ „Zweit-,“ und „Dritt-“ in den meisten Studien auf den Zeitpunkt des Erwerbs (ebd., S. 5), nicht darauf, welches die am besten beherrschten oder am häufigsten gebrauchten Sprachen sind.
Die Sprache, mit der ein Kind von Geburt an aufwächst, wird als Erstsprache bezeichnet. Wächst ein Kind ab seiner Geburt oder etwa bis zum 3.-4. Lebensjahr mit zwei oder mehr Sprachen auf, etwa, wenn ein Elternteil jeweils eine Sprache spricht oder Eltern situativ zwischen Sprachen wechseln, nennt man dies doppelten oder mehrfachen Erstspracherwerb. Manchmal findet sich auch die Abkürzung L1 oder S1 für „first language“ bzw. „erste Sprache“; doppelter Erstspracherwerb wird so z.B. als „2 L1“ bezeichnet (Ahrenholz 2017, S. 6).
Es wird in der Sprachwissenschaft davon ausgegangen, dass Erwerbsprozesse etwa ab dem 3.-4. Lebensjahr anders verlaufen als in früheren Lebensjahren (vgl. ebd.; ausführlich s. Chilla 2020). Wenn ab diesem Alter z.B. in der Kita das Deutsche als zweite Sprache erworben wird, sprechen viele Sprachwissenschaftler*innen von Deutsch als Zweitsprache (DaZ); später hinzukommende Sprachen werden als Dritt-, Viertsprachen etc. bezeichnet (auch das Deutsche kann natürlich je nach Erwerbssituation bereits eine Dritt- oder Viertsprache sein).
Gut zu wissen ist: Etliche Menschen, die als Kinder Deutsch als Zweitsprache gelernt haben, bezeichnen das Deutsche später als ihre „Muttersprache“, weil sie im Lauf ihrer Biographie die emotional wichtigste und am besten beherrschte Sprache geworden ist. Aus diesem Grund kann der Begriff „Deutsch als Zweitsprache“ auch als abwertend empfunden und so verstanden werden, dass die Sprecher*innen angeblich ein „anderes“, „zweitrangiges“ Deutsch sprechen im Vergleich zu denen, die Deutsch seit der Geburt gelernt haben (vgl. Ahrenholz 2017, S. 4; S. 7). Auch die Kategorisierung von Kindern als „DaZ-Kinder“ im Gegensatz zu den „Deutsch-Muttersprachlern“ kann ungewollt dazu führen, dass Kindern, die Deutsch als Zweitsprache lernen, als „Migrationsandere“ (Mecheril 2010, S. 17) etikettiert werden. Unterschwellig kann dabei vermittelt werden, dass sie, anders als die von Geburt an Deutsch sprechenden Kinder, nur prekär dazugehören und in jedem Fall förderbedürftig seien (vgl. Miladinović 2016).
Fürstenau (2011, S. 33) schreibt zudem: „Ein einseitiger Fokus auf Deutsch als Zweitsprache wird der Situation lebensweltlich mehrsprachiger Kinder nicht gerecht“. Unterstützung im Erwerb des Deutschen als Zweitsprache ist natürlich wichtig für späteren Erfolg in einem einsprachig orientierten Bildungssystem, aber ebenso Anerkennung und Unterstützung in ihrer mehrsprachigen Lebenswirklichkeit und ihrer Kompetenzen in verschiedenen Sprachen. Deutsch als Zweitsprache zu lernen kann für Kinder so ein Baustein in einer mehrsprachigen Identität werden (vgl. Rösch 2017, S. 201).
Abzugrenzen vom Begriff der Zweitsprache ist der Begriff der Fremdsprache: Wird eine neue Sprache ausschließlich in einem gesteuerten Kontext (explizite Lernprozesse z.B. durch Grammatikunterricht und Vokabellernen) erworben, spricht man von einer Fremdsprache, wenn etwa das Englische nur im Englischunterricht gelernt und verwendet wird, nicht im alltäglichen sozialen Kontext (vgl. Ahrenholz 2017, S. 7). Die Bezeichnung „fremdsprachige Kinder“ für Kinder, die in einem deutschsprachigen Land leben und familiär andere Sprachen als das Deutsche sprechen, ist daher irreführend und berücksichtigt auch nicht, dass diese Kinder bereits im Prozess des Deutschlernens sind.
Der Ausdruck Herkunftssprache(n) wird für Sprachen verwendet, die migrationsbedingt in Familien verwendet werden; er wird manchmal kritisch gesehen, da Kinder, die z.B. in Dortmund oder Zürich geboren sind und deren Eltern aus Italien migriert sind, ihre Herkunft (auch) in Dortmund oder Zürich haben, und da viele Familien, deren Herkunft z.B. die Türkei ist, nicht nur Türkisch, sondern auch Kurdisch, Arabisch oder weitere Sprachen sprechen (vgl. Fürstenau 2011, S. 32). Viele möchten auch nicht auf ihren sogenannten Migrationshintergrund mit der häufigen Frage „Wo kommst du (wirklich) her?“ (Panagiotopoulou 2017, S. 261) reduziert werden. Alternativ wird der Ausdruck Migrantensprache (Fürstenau 2011, S. 32) oder Migrationssprache (Engin 2019, S. 18) verwendet.
Der Begriff der Familiensprache(n) (Englisch: home languages) kann weiter gefasst sein als der der Herkunfts- oder Migrationssprachen, weil er auch die jeweiligen Mehrheitssprache(n), also im deutschsprachigen Raum v.a. das Deutsche, einschließen kann (Panagiotopoulou 2016, S. 10). Wie im Abschnitt über individuelle lebensweltliche Mehrsprachigkeit beschrieben, ist die Konstellation in Familien häufig, dass das Deutsche und weitere Sprachen, oft auch sprachenübergreifend, gesprochen werden (zu sprachenübergreifendem Sprechen ausführlich Panagiotopoulou 2016, S. 13f.)
Institutionelle Mehrsprachigkeit
Neben der vorhin beschriebenen lebensweltlichen individuellen Mehrsprachigkeit gibt es auch die institutionelle Mehrsprachigkeit, bei der sich eine Institution als mehrsprachig definiert. Im Frühbereich geschieht dies z.B. in konzeptionell bilingualen Kitas, die in Deutschland jedoch eine kleine Minderheit aller Kitas ausmachen (für eine Übersicht bilingualer Kitas in Deutschland siehe fmks- Frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen, Abfrage 14.4. 2021). Sie bieten vor allem Englisch und Französisch, seltener auch Spanisch, Türkisch und punktuell weitere Migrationssprachen neben dem Deutschen an und sind vor allem in größeren Städten zu finden.
Dass institutionelle Mehrsprachigkeit in frühpädagogischen Einrichtungen jedoch die Regel sein kann, zeigt das Beispiel Luxemburg mit seinen drei offiziellen Landessprachen Deutsch, Französisch und Luxemburgisch. Für Kinderbetreuungseinrichtungen für Kinder zwischen einem und vier Jahren schreibt das luxemburgische Bildungsministerium vor:
„Das Programm der mehrsprachigen Erziehung wird in allen Betreuungsstrukturen für Kinder von 1 bis 4 Jahren angeboten (…) Alle Kinder in diesem Alter, die in Strukturen betreut werden, kommen in Kontakt mit der luxemburgischen und französischen Sprache. Die Muttersprachen werden ebenfalls unterstützt.
Der frühzeitige und tägliche Kontakt mit dem Luxemburgischen und Französischen geschieht auf spielerische Art, dem Alter und Rhythmus des Kleinkindes angepasst. (…)
Die Muttersprache wird dabei nicht vernachlässigt. Alle Kinder werden dazu angehalten, sich in ihrer Muttersprache auszudrücken, denn dies ist eine wesentliche Grundlage für ihre Identitäts- und Sprachentwicklung. Diese Wertschätzung erweckt die Neugier und das Interesse der Kinder an den verschiedenen Kulturen und den Sprachen, die um sie herum gesprochen werden.“ (Men.Lu. Site du ministère de l’Education nationale, de l’Enfance et de la jeunesse, 2.10. 2020, Abfrage 14.4. 2021)
Auch in Regionen und Städten, in denen es mehrere offizielle Sprachen gibt (etwa in Freiburg/Fribourg in der Schweiz mit Deutsch und Französisch oder im österreichischen Teil des Südtirols mit Deutsch und Italienisch) stehen frühpädagogische Institutionen vor der Frage, wie sie diese Mehrsprachigkeit im Kita-Alltag leben bzw. inwieweit geregelt ist, wer wann welche Sprache(n) sprechen darf und wer dies reguliert (vgl. Kuhn/Neumann 2017 am Beispiel einer Schweizer Kita in einer Region, in der Deutsch und Französisch gesprochen wird; aktuell wird dies von Thoma von 2021-23 in mehrsprachigen Kindergärten im Südtirol erforscht[iii]).
Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit
Historisch sahen sich viele Länder, so auch Deutschland, als einsprachig an, die Zugehörigkeit zur deutschen Nation sollte durch ein gemeinsames Territorium, eine gemeinsame Herkunft und eine gemeinsame vereinheitlichte Sprache bestimmt werden (vgl. Thomauske 2017, S. 57 ff.). Diese monolinguale (einsprachige) Ausrichtung, die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit, mehrfache Zugehörigkeiten und Migration ausblendet oder als Sonderfall sieht, prägt bis heute das deutsche wie auch viele andere Bildungssysteme.
Dieser einsprachigen Ausrichtung vieler Bildungssysteme steht eine gesellschaftliche Mehrsprachigkeit gegenüber, die immer schon vorhanden war und die in den letzten Jahrzehnten im Zug von Mobilität, Globalisierung und Digitalisierung (vgl. Androutsopoulous 2018, S. 194) vielfältiger und sichtbarer geworden ist, etwa im Stadtbild. Innerhalb dieser gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit gibt es Machtverhältnisse (welche Sprachen gelten als legitim und werden gefördert, wer bestimmt dies?) und Sprachenhierarchien (so wurde etwa das Sprechen des Deutschen in einer Kita in einem von Migration geprägten Stadtviertel nie verboten, das Sprechen des Englischen als Familiensprache nur an einer Stelle und das Sprechen des Türkischen häufiger, vgl. Zettl 2019, S. 148ff.).
Fazit
Die Erläuterung dieser Konzepte zeigt, wie komplex das Thema ist. „Das“ mehrsprachige Kind gibt es nicht; Mehrsprachigkeit generell stellt keinen Risikofaktor für die Entwicklung dar (vgl. de Houwer/Pascall 2021), negative Stereotype auf Seiten von Fachpersonen können jedoch durchaus Hürden für eine Bildungslaufbahn darstellen. Ob Mehrsprachigkeit als Normalität angesehen wird - wie in Kitas in Luxemburg - oder als Ausnahmefall und potentieller Problemfall, liegt auch an Traditionen in den jeweiligen Bildungssystemen und Alltagsvorstellungen von Einsprachigkeit als Normalität.
[i] Für die Schweiz gibt es Erhebungen unter der „ständigen Wohnbevölkerung“, die Kinder jedoch nicht getrennt berücksichtigen (Bundesamt für Statistik 2021,
https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/sprachen.assetdetail.15384167.html, Abfrage 14.4.21). Der Kanton Thurgau führt in seiner jährlichen Bildungsstatistik auf, wieviel Prozent der Kinder, die eine Bildungseinrichtung besuchen, Kinder „mit anderer Erstsprache als Deutsch“ sind (Bildungsstatistik Thurgau 2019, https://www.bista.tg.ch/usi/us-gb1.aspx, Abfrage 14.4. 2021); es bleibt unklar, ob Kinder mit zwei Erstsprachen hier mitgemeint sind.
[ii] Kritisch zu hinterfragen ist, dass Kenntnisse in anderen Sprachen als dem Deutschen in dem Erhebungsverfahren eine untergeordnete Rolle spielen; zudem kann es in der Befragung vorkommen, dass Familien aus Gründen der sozialen Erwünschtheit häufiger angeben, auch Deutsch zu Hause zu sprechen, als sie das tatsächlich tun.
[iii] https://bildungswissenschaft.univie.ac.at/biographie-bildung-und-gesellschaft/team/thoma-nadja/projekte/, Abfrage 14.4. 2021
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