(Sprachlicher) Nativismus als pädagogische Perspektive: Das institutionelle Sprungtuchmodell des Charaktererwerbs

Eine Artikelreihe zum Thema „Soziale Wirklichkeit und Sprache“

Sascha Dümig

Einleitung

Sehr treffend betitelte Rosemary Tracy 1990 einen ihrer Artikel mit der Überschrift „Spracherwerb trotz Input“. Hiermit wurde natürlich auf die Idee der modernen Linguistik abgehoben, nach der wir mit einer angeborenen sprachlichen Grundausstattung, einer Universalgrammatik, zur Welt kommen, die uns dazu verhilft, in einen wenig eindeutigen und unvollständigen Input der Alltagssprache Ordnung zu bringen (vgl. Chomsky 1975). Der Input ist nach dieser Konzeption notwendig, um die Zielgrammatik mithilfe angeborener Prinzipien und Parameter zu rekonstruieren, aber keineswegs findet eine einfache Abbildung des Inputs statt, nach dem Motto, der häufigste gesprochene Satz wird auch vom Kind am häufigsten reproduziert. Dem widerspricht eindeutig die sprachliche Kreativität, die als DAS Kennzeichen des Sprachvermögens angesehen werden kann. Hiermit ist eben nicht ein wirres Durcheinander von Lauten und Wörtern gemeint, sondern wie Humboldt es bekanntermaßen ausdrückte, die Fähigkeit „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch“ zu machen und regelhaft Sätze zu erzeugen, die man noch nie in seinem Leben gehört hat. Unter anderem wird dies dadurch gewährleistet, dass wir wie in einer Grammatik Strukturen desselben Typs immer wieder anwenden können, so wie bei Matrjoschka-Puppen immer wieder eine Puppe in eine andere eingebettet wird. So z.B. in dem Satz „Ich weiß, dass du weiß, dass Peter weiß, dass Tim weiß, usw.“.

Dieses Armut-des-Stimulus-Argument, welches im Kern besagt, dass der Input notwendig, aber nur als Trittbrett wichtig ist, weil wir immer von einer beschränkten Datenlage ausgehen, um potenziell unendlich viele Sätze bilden zu können (vgl. Chomsky 1981), wurde m.W. niemals unter einer pädagogischen Perspektive fruchtbar gemacht. D.h. anders formuliert: Reicht die beobachtete und erfahrene Datenbasis an praktizierten und geäußerten Verhaltens-, Denk-, Fühl- und Seinsweisen anderer Menschen aus, um die praktizierten und geäußerten Verhaltens-, Denk-, Fühl- und Seinsweisen eines Kindes zu erklären? Hierzu zwei, wie ich finde, illuminierende Beispiele:

Als der Gutsherr von Miltitz eines Tages im Jahre 1770 die Sonntagsrede in Rammenau verpasst hatte, wurde ihm der gut acht Jahre alte Johann Gottlieb Fichte gebracht. Dieses Kind armer Eltern wiederholte die Predigt des Pfarrers dermaßen eindrucksvoll, dass von Miltitz beschloss, ihn zu fördern und ihm den Schulbesuch zu ermöglichen. Fichte wurde bekanntermaßen einer der berühmtesten deutschen Philosophen und leitete mit seiner Philosophie des Ichs den deutschen Idealismus ein. Gut 235 Jahre später suchte ein neunjähriges Mädchen in den Slums von Katwe/Kampala in Uganda nach einer Schale Haferbrei. Dieses Mädchen namens Phiona Mutesi wuchs unter erbärmlichsten Bedingungen auf und konnte weder lesen noch schreiben. Eines Abends traf sie auf Robert Katende, Missionar und Schachlehrer. Er bot ihr etwas zu essen an, aber nur unter der Bedingung, dass er ihr eine Lektion Schach beibringen dürfe. Im Alter von 15 Jahren wurde sie nationale Meisterin im Schach und nahm an mehreren internationalen Wettbewerben teil. Keine gegebenen Umwelteinflüsse hätten das Ausnahmevermögen der beiden Kinder bedingen können, die charakterliche Kreativität geht weit über die vorhandene Datenbasis hinaus.

Können wir also das Modell der modernen Linguistik auch auf die pädagogische Dimension insgesamt ausdehnen? Und was wäre in diesem Fall die angeborene Komponente und wie äußerte sich die Interaktion mit der Umwelt? Um diese Fragen beantworten können, soll an dieser Stelle noch einmal genauer betrachten werden, welche Merkmale den frühen Spracherwerb charakterisieren, insbesondere die frühesten Wortformen, Protowörter genannt, bei denen immer noch umstritten ist, ob sie überhaupt als Wörter gelten können.

Protowörter als Beispiel für sprachlichen Nativismus

Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein heftiger Streit um sogenannte Urschöpfungen geführt. Ament (1906: 13) fasste diese wissenschaftliche Auseinandersetzung terminologisch als Kindersprachestreit. Die Frage, die damals namhafte Kindheitsforscher umtrieb, war, ob im frühen Spracherwerb Wörter vorkommen können, die nicht auf Basis von Erwachsenenwörter der Zielsprache gebildet werden, demnach also kreative Neubildungen durch die Kinder selbst darstellen. Die Anschauung, dass alle Formen der Kindersprache durch die Umwelt beigebracht würden, wurde folgerichtig als sprachlicher Empirismus bezeichnet und z.B. von Wundt und Preyer vertreten. Man kann mit gutem Recht behaupten, dass alle Forschung nach dem Kindersprachestreit, auch die neuere Spracherwerbsforschung, dieser Anschauung grundlegend verhaftet blieb. Als „richtige“ Wörter wurden (und werden) nur Lautfolgen klassifiziert, die eine erkennbare Verbindung zu Erwachsenenwörtern der Zielsprache zeigen oder es wurde überhaupt auf eine Wortdefinition verzichtet und nur von artikulatorischen Mustern gesprochen. Die andere Anschauung des Kindersprachestreits, die dem Kind ein angeborenes Vermögen zu kreativen Neuschöpfungen zuordnete, der sprachliche Nativismus (lat. nativus → angeboren, natürlich), wurde nicht mehr weiterverfolgt. Ein wichtiger Vertreter dieser Anschauung, meiner Meinung nach gar der wichtigste, war Wilhelm Ament, der vor allem darauf aufmerksam machte, dass eine Neuschöpfung kein willkürlicher Prozess ist, also nicht von Kindern bewusst gesteuert wird. Vielmehr ging er von einer unwillkürlichen Spontanität aus, die er einem spontanen Sprachtrieb zuordnete:

„Unter Kindersprache verstehe ich demnach die Gesamtheit der aus dem Konflikt zwischen dem spontanen Sprachtrieb des Kindes und den zeitlich fest bestimmten Formen der Muttersprache resultierenden Erscheinungen. Ihr Schöpfer ist das Kind, nicht die Umgebung.“ (Ament 1902: S. 229)

Wie gestaltet sich aber eine Betrachtung von solchen Urschöpfungen bzw. Protowörter im Lichte einer modernen linguistischen Analyse? Drei Aspekte können hier meines Erachtens als zielführend herausgestellt werden:  Angeborenheit – Modularität – Soziale Adjustierung.

1. Angeborenheit

Protowörter kann man sehr grob als relativ stabil gebrauchte Lautform-Bedeutungskombinationen von Kindern definieren, denen ein eindeutiger Bezug zu Wörtern einer Zielsprache der Erwachsenen fehlt (vgl. Vihman 1996). Sie werden kurz vor und parallel zu den ersten Zielwörtern produziert. Eine wichtige sprachliche Einheit in der Untersuchung solcher Protowörter ist die Silbe. Diese sprachliche Einheit zeigt universal, d.h. über die Sprachen dieser Welt verteilt, ein interessantes Muster. So beinhalten Silben eine Reihenfolge oder Hierarchie, wie Lautklassen angeordnet werden können. Ganz grob kann man sagen, dass es eine Anordnung von weniger wahrnehmbaren zu sehr wahrnehmbaren Lauten innerhalb der Silbe gibt. Nehmen Sie z.B. die Silbe schielt, die gleichzeitig auch ein Wort mit Bedeutung ist. Der hintere Laut [t] ist schlecht wahrnehmbar, er wird kürzer artikuliert. Solche Stopplaute (Plosive), die mit einem kompletten Verschluss des Mundes gebildet werden (wie [t], [d], [k], [g] usw.) wie auch sogenannte Reibelaute (Frikative) sind ähnlich schlecht wahrnehmbar und bilden die Gruppe der Geräuschkonsonanten (Obstruenten). Ihnen folgen in der Wahrnehmbarkeit Nasale (der Luftstrom entweicht hier über die Nase, wie bei [m] und [n]) und danach Liquida (auch Fließlaute, weil der Luftstrom bei der Artikulation zwar behindert wird, aber ohne Reibung oder Stopp. Beispiele sind [s] und [l].) Am wahrnehmbarsten sind die Vokale (wie a, e, i o, u).

Die Silbe baut sich entsprechend so auf, dass zum Vokal hin die Wahrnehmbarkeit zunimmt, vom Vokal weg die Wahrnehmbarkeit abnimmt, wie z.B, in knilch mit der Abfolge Obstruent (k) → Nasal (n) →  Vokal (i) →  Liquid (l) →  Obstruent (der Laut für ch [ç]).

Zudem gibt es Silbentypen, die in allen Sprachen zu beobachten sind und Silbentypen, welche eher seltener sind. Immer taucht der Silbentyp auf, der mit einem schlecht wahrnehmbaren Obstruenten beginnt, welcher direkt von einem sehr gut wahrnehmbaren Vokal gefolgt wird, wie [pa] oder [fu]. Hinter dem Vokal wird hingegen eher ein gut wahrnehmbarer Laut toleriert. Man kann sich das also wie eine Achterbahn der Wahrnehmbarkeit vorstellen: Am Anfang muss die Steigung sehr steil von nicht wahrnehmbar zu wahrnehmbar beginnen, um dann auf der Höhe der Wahrnehmbarkeit „in Fahrt“ zu bleiben. Solch ein Silbentyp, der nur aus einem Obstruenten und einem Vokal besteht und in jeder Sprache vorkommt, wird auch „Optimale Silbe“ genannt (vgl. Clements 1990).

Genau diese universalen Prinzipien – die Anordnungsbeschränkungen von Lauten und die Präferenz zur optimalen Silbe, kann man auch bei Protowörtern beobachten. In Dümig (2018) konnte gezeigt werden, dass Protowörter wie z.B. [Ɂa] für (das finde ich) interessant, das dreisilbige [dididi] für beschimpfen / trösten (Leopold 1949) oder [bu] für Donnern (ebd.) zum überwiegenden Teil aus optimalen Silben bestehen und damit einer angeborenen, universalen Silbenpräferenz folgen.

2. Modularität

Weiter zeigen Protowörter, wie das Sprachsystem selbst in kleinere, spezialisierte Funktionseinheiten aufgeteilt ist, die man als Module bezeichnet (vgl. Coltheart 1999). Interessant ist hier der Fall P., der vor allem in Dümig & Leuninger (2013) und Dümig (2018) beschrieben wurde. Tauchen obige Protowortbeispiele bei kleineren Kindern als einzelne Wörter auf, so produzierte der Junge P. im Alter von ca. 5;5 Jahren Protowörter in einer entfalteten grammatischen Struktur. So war beim ihm z.B. [bababa] das Protowort für Ente und [popo] das Wort für (Sitz)Bank. Er produzierte daneben aber Sätze wie Dä papa die da mm (der Papa mag das) oder Der bä die uba amam (der Bär fährt die U-Bahn). Kurzum, bei P.  konnte beobachtet werden, wie er phonologisch quasi noch Protowörter produzierte (zeitgleich neben Zielwörtern), diese aber in einen grammatischen Rahmen einfügte, der bei ca. 2-jährigen Kindern zu beobachten ist (das Verb wird in der letzten Position realisiert).

Phonologie und Syntax als Module fielen also, wenn man so möchte, bei ihm deutlich auseinander und es wird dadurch deutlich, dass sie deshalb für unterschiedliche Input-Output-Verarbeitung zuständig sind, die unabhängig voneinander operieren: Phonologie eben für Laute und Silben und Syntax für die strukturelle Anordnung von Wörtern. Noch vielmehr war bei P. das Sprachverstehen nachweislich völlig altersadäquat. D.h., die Module für die Sprachproduktion zeigten eine andere Verarbeitungsleistung als die Module für das Sprachverstehen. Solche Leistungsdissoziationen lassen sich nur mit einem modularen Ansatz erfassen.

3. Soziale Adjustierung

Das Vorkommen von Protowörtern ist also auf eine angeborene, modular organisierte Sprachproduktion zurückzuführen. Die Silben von Protowörtern sind nach Gesetzlichkeiten aufgebaut, die in allen Sprachen dieser Welt wirksam sind. In diesem Sinne sind sie Urschöpfungen, allerdings nicht vom Kind, sondern von unserem angeborenen Sprachvermögen. Je häufiger Zielwörter allerdings von Kindern produziert werden, umso weniger Protowörter können noch beobachtet werden. D.h. die Wortformen konkurrieren miteinander bzw. werden die Strukturen der Protowörter übernommen und zunehmend Wörter der Zielsprache nachgesprochen. Während Protowörter kaum etwas mit sozialer Interaktion per se zu tun haben (vgl. Dümig 2018), findet der Gebrauch von Zielwörtern immer in sozial gerichteten Interaktionen statt. Man kann auch sagen, dass die gespeicherten Protowörter mit der Zeit sozial überformt werden. Die neuen Zielwörter der Erwachsenensprache folgen weiter den grundlegenden Silbenprinzipien, bilden aber wesentlich komplexere Formen.  Bei Protowörtern kann man also sehr schön sehen, wie Angeborenheit und Modularität wichtige Voraussetzungen für spätere Zielwörter sind und wie sie als strukturelle Basis nach und nach durch die soziale Interaktion mit der Umwelt von Zielwörtern ersetzt werden.

Nach diesen Betrachtungen wollen wir nun eruieren, ob die genannten Aspekte - Angeborenheit, Modularität und soziale Adjustierung – auch eine Basis für eine pädagogische Modellierung bilden können, wobei hier der Begriff des Charakters im Mittelpunkt stehen soll.

Charakter auf Basis von Angeborenheit und (Massiver) Modularität

Bisher können wir festhalten: Unser Sprachsystem besteht aus Modulen und „erwartet“ deshalb, dass in der Umwelt des Kindes Daten produziert werden, die es mithilfe seiner angeborenen Prinzipien verwerten kann. Man könnte auch bildlich von einem Reizhunger sprechen, der nur durch einen spezifischen Input gesättigt werden kann (das Phonologie-Modul braucht Laute als Input, das Syntax-Modul strukturierte Abfolgen von Wörtern). Handelt es sich nun bei Sprache um eine allgemeine angeborene Strukturerwartung, so soll hier die Hypothese stark gemacht werden, dass der Charakter eine individuelle angeborene Strukturerwartung darstellt. Auch charakterlich besteht ein spezifischer Reizhunger, der, um wieder im Modell der modernen Linguistik zu sprechen, durch eine Gruppe von Daten besonders getriggert werden kann, ebenso wie das Sprachsystem auf sprachliche Daten oder das visuelle System nur auf visuelle Daten reagiert. Während letztere Systeme allerdings universal gegeben sind, also im menschlichen Genom encodiert sind und deshalb für alle Menschen als Vermögen gegeben sind, variiert die charakterliche Reizpräferenz von Individuum zu Individuum. James Hillman sprach von einem „Ruf“ für den Charakter, ein Schicksal, dem man nachzugehen habe (Hillman 1998) und die griechischen Schicksalsgöttinnen trugen hierzu passend den Namen Moira, was auch so viel wie Teil oder Anteil bedeutet.

Dieser Mythos lässt sich meiner Meinung nach bündig mit dem Ansatz der Massiven Modularität als Teil der Evolutionspsychologie zusammenbringen. Dieser geht davon aus, dass sich die Architektur unseres Geistes zu großen Teilen aus verschiedenen Modulen zusammensetzt, die für spezialisierte Daten/Reize zuständig sind. In Abb. 1 ist eine Modulübersicht gegeben, wobei das konkrete Modell für die Argumentation nicht wesentlich ist. In verschiedenen Modellen (vgl. z.B. auch Smith & Tsimpli 1995, Jackendoff 2002, Carruthers 2006) wird versucht, zu erfassen, wie Umweltdaten verarbeitet werden und eine Reaktion auf diese vollzogen wird. Wir finden deshalb in allen Modellen immer eine grundlegende Verarbeitung von Sinnesinformationen, inneren Körperzustände und kognitive Module, die für Raum, Zahlen und Objekte zuständig sind. Diese Einzelinformationen verschiedener Teilmodule werden in der Handlungsplanung berücksichtigt, die vor der motorischen Handlungsausführung erfolgt. In vielen Teildisziplinen, wie z.B. der Aphasiologie (Caplan 1987) oder der Erforschung von Savants (Inselbegabungen; vgl. Smith & Tsimpli 1995) wurde gezeigt, dass diese Module selektiv beeinträchtigt sein können. Das Sprachmodul stellt insofern ein besonderes Modul dar, weil es Repräsentationen aus allen Modulen miteinander verbinden und an andere Menschen transportieren kann. Nur durch meine Mitteilung weiß mein Gegenüber, dass ich friere (körperlicher Zustand), weil ich zu lange am Fenster stand (Objektzustände), und auch ich bin mir durch diese Mitteilung des Zustands in höherem Maße gewahr und kann mich daraufhin verhalten.

Abbildung 1: Module zur Verarbeitung verschiedener Umweltdaten und zur Vorbereitung auf Handlungen.

Individuelle Variationen sind innerhalb dieser modularen Verarbeitungen der evolutionär erwartete Fall. D.h., so wie es evolutionär von Tieren zum Homo sapiens sapiens einen Ausbau und eine Vertiefung von spezialisierten Modulen gegeben hat (vgl. Carruthers 2006), finden wir in jedem Individuum ein spezifisches Muster von im „Normalbetrieb“ befindlichen Modulen, präferierten Hochleistungsmodulen und Modulen mit schwacher Leistung. Wir teilen als Menschen sicher die Grundstruktur an mentalen Modulen, weshalb Brown (1991) auch universale Merkmale bei Menschen auf der ganzen Welt finden konnte, wie z.B. die Unterscheidung von Mutter und Vater und Wörter für Tage, Monate, Jahreszeiten und Jahre. Von oben gesehen sind wir also alle mit derselben mentalen Architektur ausgestattet, während sich mit einer gedachten Präferenzfärbung für individuelle Stärken und Schwächen in der Verarbeitung so etwas wie ein griechisch-römisches Mosaik ergibt, das gerade dadurch ausgewiesen ist, dass aus der Zusammenfügung verschiedenfarbiger oder verschieden geformter Teile ein neues Ganzes entsteht (vgl. Abb. 2). Scher (2004) verwendet (für eine evolutionäre Interpretation) das Bild eines Lego-Systems, um ähnliches zu verdeutlichen. Es sind nicht so sehr die einzelnen Module, die eine relevante Ausrichtung des Individuums bedingen, sondern das Zusammenspiel aus verschiedenen Modulen bedingt neue Leistungen und Umweltbewältigungen. Ein solches Muster oder Bild kann man m.E. mit Platons Paradigma, einem angeborenen Bild, welches uns von Geburt an begleitet, vergleichen. Im Einklang hiermit ergibt sich das Bild oder Muster für den Charakter als das Wesentliche. Die Präferenz eines Charakters in eine bestimmte Richtung zu gehen und z.B. Astrophysiker zu werden, ist nicht nur dadurch bedingt, ob seine mathematischen Fähigkeiten selektiv hervorragend ausgebildet sind, sondern eben auch dadurch, wie diese im Gesamt der intermodularen Konstellation erscheinen und wo ansonsten Stärken und Schwächen angelegt sind.

Abbildung 2: Module mit verschiedenen Verarbeitungsstärken und -schwächen.

Der „Ruf“ eines Charakters wird also durch eine angeborene Organisation des Geistes konstituiert, deren Aufbau wir nicht im Gehirn, im Genom oder durch Leistungsabfragen direkt feststellen können, sondern sich erst nachträglich durch Verhalten und Erfahrung rekonstruieren lässt.

Schopenhauer hat hier eine wichtige Unterscheidung stark gemacht. Mit Kant nimmt er einen empirischen Charakter an, so wie er sich uns kontinuierlich in der Erfahrung zeigt und einen sogenannten intelligiblen Charakter, der nie direkt erfahren und nur geistig rekonstruiert werden kann. Um diesen Unterschied bildlich zu verdeutlichen, bietet sich das philosophische Theseus-Paradoxon nach Plutarch an:

„Das Schiff, auf dem Theseus mit den Jünglingen losgesegelt und auch sicher zurückgekehrt ist, eine Galeere mit 30 Rudern, wurde von den Athenern bis zur Zeit des Demetrios Phaleros aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit entfernten sie daraus alte Planken und ersetzten sie durch neue intakte. Das Schiff wurde daher für die Philosophen zu einer ständigen Veranschaulichung zur Streitfrage der Weiterentwicklung; denn die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe.“ (Plutarch nach Essler 1995)

Was macht das Schiff des Theseus aus, wenn alle Planken ausgetauscht wurden? Ist es noch dasselbe Schiff? In diesem Beispiel (vgl. auch Hillman 2000) zeigt sich m.E. sehr schön, wie das unsichtbare Bild das Wesentliche ist und nicht die einzelnen, empirisch beobachtbaren Planken. Und auch für den Charakter gilt, dass auch wenn alle Zellen unseres Körpers über die Jahre ausgetauscht wurden, wir immer noch der/die Selbe sind.

Schopenhauer hat nun zusätzlich als wichtige Ergänzung den erworbenen Charakter eingeführt. Diesen bestimmt er als „möglichst vollkommene Erkenntnis der eigenen Individualität. Es ist das abstrakte, folglich deutliche Wissen, von den unabänderlichen Eigenschaften seines eigenen empirischen Charakters von dem Maß und der Richtung seiner eigenen geistigen und körperlichen Kräfte, also von den gesamten Stärken und Schwächen der eigenen Individualität.“ (Schopenhauer 1985: 104)

Aus dem Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass wir nach der spezifischen Anschauung der Massiven Modularität evolutionär wesentlich überdeterminiert und nicht unspezialisiert sind. Nichtsdestotrotz können der empirische und der erworbene Charakter nur dauerhaft in einem Rahmen zu Deckung gebracht werden, der Partizipation und dadurch individuelle Erprobung und Kenntnis des Eigenen möglich macht. Wie genau dies m.E. geschehen kann, soll im Folgenden entfaltet werden.

Soziale Adjustierung - Das Institutionelle Sprungtuchmodell des Charaktererwerbs

Arnold Gehlen machte Institutionen stark, weil er den Menschen als unspezialisiertes Mängelwesen konzipierte, das auf deren Orientierung angewiesen sei. Traditionen in der Folge von Hobbes sehen die Notwendigkeit von (staatlichen) Institutionen darin, dass sie das Naturwesen Mensch vor Krieg schützen müssen, weil sein biologisches Eigeninteresse immer in einen gewaltsamen Konflikt führen wird. Im Gegensatz zu diesen beiden möchte ich eine dritte Option stark machen: Gerade weil der Mensch evolutionär überdeterminiert ist und hieraus ein Muster an Präferenzen, Stärken wie Schwächen, Neigungen und blinde Flecken, kurz Charakter erzeugt wird, benötigt er Institutionen. Erst diese ermöglichen ihm das, was Schopenhauer erworbenen Charakter nannte und mit diesem, so wäre hier die Annahme, auch das, was man als Freiheit und Glück bezeichnen könnte und was hier durchaus als Ziel von Erziehung anvisiert werden soll. Für diesen Zweck soll ein Rückgriff auf Konzepte stattfinden, die der Autor in anderen Artikeln vorgestellt hat.

Es ist zunächst einmal relevant, was unter Institutionen zu verstehen ist. In Dümig (2021a) wurde darauf verwiesen, dass sie wesentlich sprachlich konstituiert sind und unser Vermögen mit Sprache zu handeln, hierfür grundlegend ist (vgl. Searle 1997). Mit sogenannten deklarativen Sprechakten, können wir neue Tatsachen schaffen und neue Bedeutungen generieren, wie in „Hiermit ernenne ich Sie zum neuen Bundeskanzler“ oder „Ich erkläre diesen Tag zum Feiertag“. Diese Deklarationen müssen natürlich anerkannt werden und nach dem Grade der Anerkennung bilden sich hieraus Institutionen. Diese „sind durch soziale Praktiken konstituierte Einrichtungen mit Gewohnheitscharakter, die mehr oder weniger komplexe Systeme dauerhafter wechselseitiger Verhaltenserwartungen darstellen, mehr oder weniger stabile Statuspositionen etablieren und sich durch öffentliche Wirksamkeit und Anerkennung auszeichnen.“ (Jaeggi 2009: S. 532-533) Institutionen können auch als Nischen bezeichnet werden, die durch Sprache als Super-Nische (Clark 2005: S. 265) geschaffen werden.

„Wie der Biber seinen Damm baut und seine auf ihn rückwirkende Umwelt damit verändert, baut der Mensch mittels der Sprache seine soziale Ordnung, die ebenfalls wieder auf ihn zurückwirkt [...].“ (Dümig 2021a)

Deklarativa, und mit ihnen in der Folge eben auch Institutionen, zeigen aber immer notwendig eine Doppelnatur. Wir können mit Deklarativa objektive Verbindlichkeiten schaffen (wie z.B. „Hiermit ordne ich den Lockdown an“), gleichzeitig sind diese Verbindlichkeiten als von uns erzeugte Sachverhalte immer hinterfragbar und deshalb auch immer wieder aufhebbar oder veränderbar. Den Zustand, in dem wir diesen Widerspruch wahrnehmen und gerade deshalb selbstbestimmt mit ihm umgehen können, habe ich Sprechhandlungsbewusstheit genannt. Sprechhandlungsbewusstheit ist theoretisch eng verwandt mit Schelskys institutionalisierter Dauerreflexion, die auch darauf abhebt, dass nicht einer immer vorgegebenen Wahrheit gefolgt wird, sondern von Reflexion zu Reflexion immer wieder feste Bestimmungen gemacht und sie aber auch immer wieder relativiert werden usw. (vgl. Schelsky 1970) Bei einem schwachen Niveau an Sprechhandlungsbewusstheit werden Institutionen, also Regeln, Verhaltenserwartungen, Status usw. als Absolutes genommen und nicht ihre Bedingtheit durch die Anerkennung der Sprecher selbst gesehen. D.h., die Partizipationsmöglichkeiten des Individuums werden zugunsten einer vermeintlichen, institutionellen Wahrheit wesentlich eingeschränkt. In Dümig (2021b) habe ich das Konzept der Partizipationssphären eingeführt. Hier wurden Partizipationssphären jeweils als Erfahrungsraum für Teilhabe definiert, in dem wir an Anderem uns selbst erfahren können (in der Reihenfolge: Meine Sinne und Andere/s → Mein Körper und Andere/s → Ich und Andere/s → Wir und Andere/s → Ich und alle Anderen (abstrakter Standpunkt).

Diese Partizipationssphären sind nun natürlich nicht unabhängig von institutionellen Vorgaben, im Gegenteil. Wie oben angedeutet, erreichen wir höhere Partizipationssphären auch individuell nur, wenn institutionelle Regeln geschaffen wurden, die es erlauben, andere institutionelle Regeln auf ihre Rechtfertigung zu überprüfen. Folgerichtig verbleiben wir in einer niederen Partizipationssphäre, wenn institutionelle „Wahrheiten“ wie religiöse Praktiken, Etikette, Status usw. unreflektiert verabsolutiert werden.

Je mehr Partizipationssphären wir nun in diesem Sinne gesellschaftlich durchlaufen können, umso mehr Stärken und Schwächen können wir an uns kennenlernen, umso mehr erworbenen Charakter können wir annehmen. D.h. nach dieser vorgestellten Annahme entwickeln sich Sprechhandlungsbewusstheit und Charaktererwerb im Tandem. In Abbildung 3 ist das Institutionelle Sprungtuchmodell des Charaktererwerbs (ISC) schematisch dargestellt, welches sich aus den obigen Überlegungen ergibt. Institutionelle Nischen (oder Institutionen wie oben definiert), die durch Bezugspersonen an das jeweilige Individuum herangetragen bzw. sprachlich vermittelt werden und auf die das Kind sich einlassen muss, bilden metaphorisch das Sprungtuch. Ist keine Sprachhandlungsbewusstheit gegeben, ist das Tuch für den Charaktersprung nicht elastisch - das Kind erlangt potenziell weniger Raum zur Partizipation und damit auch zum Charaktererwerb bzw. Selbsterkenntnis. Alle Sprünge wirken wiederum auf die Kenntnisse des Charakters zurück, so dass sich hier entweder eine produktive oder negative Schleife des Charaktererwerbs einüben kann.

Abbildung 3: Das Institutionelle Sprungtuchmodell des Charaktererwerbs in schematischer Darstellung.

Das ISC ist insofern ein heuristisches Modell (d.h., wir kommen mit begrenztem Wissen zu wahrscheinlichen Aussagen), als dass wir den Charakter, wie oben beschrieben, immer nur in Folge seiner empirischen Erscheinung bestimmen können und Charaktererwerb versuchen, bildlich zu erklären. Hieraus ergibt sich m.E. aber eine wesentliche pädagogische Stoßkraft, die in vielen Modellen nicht implementiert ist: Nur durch Erprobung an der Welt innerhalb einer institutionell regulierten Freiheit, kann Charakter vollständig erworben werden.

Schlussfolgerungen

Das ISC steht mit seinen Teilannahmen bewusst gegen den derzeitigen pädagogischen Mainstream, der mit seiner einseitigen Fokussierung auf Subjektivität und deren Kompetenzen und der Verneinung einer objektiven Wirklichkeit in einem relativistischem (Ko-)Konstruktivismus bei gleichzeitiger Verewigung von wenigen Bedürfnissen (wie z.B. Bindungsbedürfnissen) einer wirklichen Demokratisierung auf Basis von Selbsterkenntnis und Selbstmächtigkeit mehr im Wege steht als nützt. Wichtige Aspekte des ICS wären zusammenfassend vor allem folgende:

  • Institutionen haben auf Basis sprachlicher Deklarationen objektive Realität, auch wenn sie subjektiv erzeugt und gestaltbar sind.
  • Institutionen sind in ihrer objektiven Realität wichtig, um Kindern Orientierung zu geben, sind gleichsam aber immer auf ihren Sinn zu hinterfragen.
  • Man sollte die Perspektive auf Kinder ändern und sie nicht stetig unter dem Erwartungshorizont zu erwerbender Kompetenzen messen. Unter Maßgabe aktueller Evolutionspsychologie kommen sie reich an mentalem Vermögen zur Welt. Deshalb sollte die Frage mit Hillman für uns sein, wer dieses Kind ist und wer es sein kann und nicht, was es für uns werden soll (vgl. London, Safransky & Zeiger 2012).
  • Es gilt allen Kindern aus dieser Perspektive heraus systematisch die institutionellen Entfaltungsmöglichkeiten zu geben, die Johann Gottlieb Fichte und Phiona Mutesi nur durch Zufall erhielten. Insofern beinhaltet das ISC ein eigenes, kreatives Paradoxon: Je mehr charakterliche Determiniertheit ich annehme, umso mehr bin ich gefordert, Freiheit in Partizipation zu garantieren und zu schaffen.
  • Letztes kann nur dadurch gelingen, wenn ich selbst bereit bin, eigene Wertvorstellungen und Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und nach Prüfung abzulegen und die eigene Sprechhandlungsbewusstheit weiterzuentwickeln.

Literatur

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Internetquellen

Dümig, S. (2018): Dreidimensionale Phonologie und der Erwerb von Protowörtern. Universität Frankfurt. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/47167 (abgerufen: 5. Dezember 2021, 12:00).

Dümig, S. (2021a). Meine, deine, unsere Kita – Deklarative Sprechakte, Projektmethode und der Erwerb von Institutionenverständnis. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/meine-deine-unsere-kita-deklarative-sprechakte-projektmethode-und-der-erwerb-von-institutionenverstaendnis (abgerufen: 5. Dezember 2021, 13:00).

Dümig, S. (2021b). Das Konzept der Partizipationssphären und seine Berücksichtigung in der Projektmethode. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/gruppenleitung-erzieherin-kind-beziehung-partizipation/mitbestimmung-der-kinder-partizipation/das-konzept-der-partizipationssphaeren-und-seine-beruecksichtigung-in-der-projektmethode (abgerufen: 5. Dezember 2021, 13:30).

London, S., Safransky, S. & Zeiger, G. (2012). Conversations with a remarkable man. Honoring the late James Hillman. https://www.thesunmagazine.org/issues/439/conversations-with-a-remarkable-man (abgerufen: 5. Dezember 2021, 14:00).

Autor

Dr. phil. Sascha Dümig arbeitet zurzeit als Dozent an den Ludwig Fresenius Schulen, Frankfurt am Main. Er ist staatlich anerkannter Erzieher, Germanist und Psychologischer Berater.

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