Sprachliche Bildung und Förderung – geschlechterbewusst?!

Simone Scheiner-Posch

In den letzten Jahren hat das Thema sprachliche Bildung und Förderung einen wahren Höhenflug erlebt und wurde im Kontext elementarer Bildungseinrichtungen intensiv diskutiert. Zahlreiche Konzepte, Programme und Materialien, die dabei entwickelt wurden, zeugen von der Popularität dieser Thematik. Ausschlaggebend für diese bereite Auseinandersetzung mit sprachlicher Bildung und Förderung waren nicht zuletzt theoretische und empirische Erkenntnisse zur Bedeutung der sprachlichen Kompetenzen eines Kindes für die Gestaltung einer erfolgreichen Bildungsbiografie und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten (vgl. CBI 2016, S. 9; Beckerle 2015, S. 14 ff.).

Die mannigfachen Funktionen von Sprache

Sprache ist zentral im menschlichen Leben und nimmt viele Funktionen ein, die über die verbale Kommunikation hinausgehen. Auch für die Kommunikation mit uns selbst im Sinne von Denk- und Reflexionsprozessen und mit der gesamten Welt ist Sprache das entscheidende Medium: Erinnerungen an bereits erlebte oder miterlebte Erfahrungen, die Regulation der Emotionen, das Nachdenken über bestimmte (Welt-) Verhältnisse etc. basieren auf Sprache (vgl. Albers et al. 2017, S. 13 f.; Ruberg/ Rothweiler 2012, S. 11 ff.). Auch unsere persönliche Identität ist eng mit der Sprache verbunden: Sprache verdeutlicht uns, wie wir von anderen Menschen wahrgenommen werden und bestätigt uns in unserer eigenen Identität. Ist es beispielsweise nicht irritierend, von einer bekannten Person mit dem falschen Vornamen angesprochen zu werden (vgl. Schneider 2011, S. 35 ff.)?

Die unterschiedlichen Funktionen, die der Sprache in unserer Gesellschaft zukommen, sind bereits für Kinder in elementaren Bildungseinrichtungen spürbar und so nutzen sie Sprache nicht nur, um auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen und mit anderen Kindern und Erwachsenen in Kontakt zu treten, sondern beispielsweise auch, um Aktivitäten zu planen und die eigenen (Handlungs-)Möglichkeiten auszuloten (vgl. Albers et al. 2017, S. 13 f.).

Sprache ist für Kinder der Schlüssel zur Welt. Über sie lernen sie ihre Umwelt kennen und treten mit ihr in Interaktion. Indem sie zunehmend Sprache beherrschen, in Wörtern und Sätzen formulieren, was ihre Ideen, Wünsche und Vorstellungen sind, entdecken sie, was sich mit Sprache bewirken lässt: Sie können sich anderen mitteilen und sie zu Handlungen in ihrem Sinne bewegen. Sie erfahren etwas darüber, wie die Welt beschaffen ist und was andere Menschen meinen, denken und fühlen. Und sie können mit Hilfe der Sprache über das unmittelbare Handeln hinaus auch über das Handeln nachdenken und es im Vorfeld planen“ (Jamerpt et al. 2006, S. 9)

Sprache ermöglicht es Kindern, die sie umgebende Welt zu verstehen, sich in diese einzubringen und diese zu gestalten (vgl. ebd.). Sprachentwicklung und kognitive Entwicklung sind eng miteinander verbunden und beeinflussen einander wechselseitig: Sprache beeinflusst die Kognition und die kognitive Entwicklung wirkt auf die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten ein. Das bedeutet, dass die Sprache auch an der Entstehung von Gedanken beteiligt ist (vgl. CBI 2016, S. 19). Durch den fortschreitenden Erwerb von sprachlichen Kompetenzen erhalten Kinder die Möglichkeit, über die eigenen Erfahrungen hinauszugehen und sich auch die Erfahrungen und Wissensinhalte der anderen, der sozialen Gemeinschaft einer Kultur zu erschließen.

Damit ist es nicht mehr nur auf seine subjektiven Verständnishorizonte angewiesen, wenn es sich die Welt erschließen möchte, sondern kann prinzipiell auf alles zurückgreifen, was eine soziale Gemeinschaft, eine Kultur zur Interpretation von Wirklichkeit an Denkmodellen bereitstellt“ (Schäfer 2011. S. 143).

Sprache ist daher mehr als nur zwischenmenschliche Kommunikation. Mit dem Erwerb der Sprache als kulturelles Symbolsystem erhalten Kinder auch den Zugang zu einem gesellschaftlich geteilten kulturellen Wissens- und Erfahrungsschatz.   

Sprachliche Bildung und Förderung im Kontext elementarer Bildung

Unbestritten ist mittlerweile, dass sprachliche Förderung und Bildung hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes, aber auch der gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten und Bildungschancen zum Aufgabengebiet von elementaren Bildungseinrichtungen gehören (vgl. Ruberg/ Rothweiler 2012, S. 12). Dies zeigt sich u.a. auch daran, dass die sprachliche Bildung und Förderung bereits Eingang in Bildungspläne erhalten hat und darin auch einen zentralen Stellenwert einnimmt. Im Bundesländerübergreifenden BildungsRahmenPlan (BMBWF 2020) wird Sprache und Kommunikation beispielsweise als einer von sechs Bildungsbereichen, die als Bezugsrahmen für die elementarpädagogische Praxis formuliert wurden, angeführt (vgl. ebd., S. 14 ff.).

Dieser Fokus auf die frühe sprachliche Bildung und Förderung hat dazu geführt, dass in denen letzten Jahren zahlreiche Publikationen zur sprachlichen Bildung und sprachlichen Förderung veröffentlicht wurden, die unterschiedliche Perspektiven, Zielsetzungen, Interessen etc. verfolgen (vgl. Ruberg/ Rothweiler 2012, S. 11 ff.).

Die unterschiedlichen Funktionen von Sprache deuten bereits daraufhin, dass sprachliche Bildung und Förderung in elementaren Bildungseinrichtungen nicht nur den sprachstrukturellen Aspekt berücksichtigen muss, sondern auch die kognitiven und sozialen Funktionen (vgl. Jampert 2006, S. 13). Hinsichtlich der sozialen Funktion von Sprache ist neben den sich durch die wachsenden sprachlichen Fähigkeiten auftuenden Partizipationsmöglichkeiten auch der Zusammenhang von Sprache und kulturellen Strukturen zu berücksichtigen.

Sprache und Gesellschaft

Sprache steht als Teil einer Kultur auch unmittelbar in Zusammenhang mit der Gesellschaft. Durch unsere Sprache drücken wir auch gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen aus. Dies spielt vor allem in der Bildung, Betreuung und Erziehung der nachfolgenden Generation eine große Bedeutung – werden über die Sprache doch auch wesentliche Aspekte der Kultur und der Gesellschaft vermittelt (vgl. Schneider 2011, S. 35 ff.). Durch Sprache, indem wir beispielsweise einen Text lesen oder von einer Situation erzählen, erzeugen wir Bilder und Vorstellungen in den Köpfen der Menschen, die an dieser sprachlichen Situation beteiligt sind. Beispielsweise wird jede/r von uns ein bestimmtes Bild im Kopf haben, wenn uns von einem Urlaub am Meer erzählt wird (vgl. BJV 2013, S. 32).

Menschen bilden mit Sprache ihre Umwelt, ihre Realität nicht nur ab, sondern schaffen damit auch eine Form von Wirklichkeit. Sprache formt und gestaltet unsere Umwelt. Doch es geht nicht nur darum, was mit Sprache tatsächlich ausgedrückt wird. Auch das, was nicht angesprochen werden kann, ist zu beachten: „Was in einer Sprache nicht benannt wird, wofür es keine Ausdrücke gibt, das hat auch keine Funktion in der Gesellschaft, und damit keinen gesellschaftlichen Wert“ (Schneider 2011, S. 35). Es fällt uns schwer über Dinge nachzudenken, für die es keine Begriffe gibt. Ein Bild in unserem Kopf entsteht durch die dazugehörige Sprache – ohne Sprache fehlen uns auch die Bilder im Kopf (vgl. BJV 2013, S. 32).

Ein Blick auf unsere Sprache bzw. auf unseren Sprachgebrauch verdeutlicht, dass unsere Sprache auch mit den in der Gesellschaft präsenten Geschlechterbildern verbunden ist und sich die Erwartungen an die Geschlechter vielfach auch in den verwendeten Begriffen und Redewendungen niederschlagen.

Wer wird in einem Baumarkt von einem Fachmann beraten oder baut im Winter im Garten einen Schneemann? Eine Milchmädchenrechnung scheint uns vor keine große Herausforderung zu stellen und im Kaufmannsladen suchen wir nach der Verkäuferin. Setzt sich beim Essen nun jeder an seinen Tisch? Wie oft haben wir einen Arzttermin bei einer Ärztin?

Auch wenn beispielsweise von Tratschtanten und Rabenmüttern, von der Bruderschaft und Mannschaft oder vom Bemuttern die Rede ist, wird die Suche nach dem gegengeschlechtlichen Pendant zur Herausforderung. Mit Sprache vermitteln wir gesellschaftliche Bilder, diese Bilder enthalten nicht selten unterschwellig auch Erwartungen und Einstellungen zu den Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft. Warum wird ansonsten von der Rabenmutter gesprochen, aber kaum vom Rabenvater? Warum bezeichnen wir ansonsten das umsorgende, sich kümmernde Verhalten eines Menschen als bemuttern?

Außerdem neigen wir in unserem Sprachgebrauch dazu, die männliche Form der Sprache auch dann zu verwenden, wenn Frauen und Männer, Mädchen und Buben gemeint sind. Bei dieser historisch geläufigen und weit verbreiteten Form wird gerne argumentiert, dass der Einfachheit halber Frauen mitgemeint und daher auch nicht explizit benannt werden. „Es handelt sich hierbei um das so genannte ‚generische Maskulinum‘, eine verallgemeinernd verwendete männliche Personenbezeichnung“ (Gäckle 2014, S. 4). Zahlreiche alltagspraktische Beispiele und psychologische sowie sprachwissenschaftliche Studien verdeutlichen jedoch, dass „Frauen zwar häufig mitgemeint, selten jedoch mitgedacht werden“ (ebd.). Mitgemeint funktioniert nach diesen Ergebnissen zufolge einfach nicht.

In unserer Alltagssprache haben wir uns weitestgehend an diesen Sprachgebrauch gewöhnt. Oder brüskiert es Sie als Frau, wenn Sie als Kunde angesprochen werden? Wahrscheinlich fühlen sich weibliche Kundinnen und männliche Kunden gleichermaßen angesprochen. Spannend wird es jedoch im Umkehrschluss: Wie reagieren Sie als Mann, wenn Sie als Autofahrerin oder als Teilnehmerin benannt werden? Während die männliche Form anscheinend für Frauen und Männer gilt, darf die weibliche Form nur dann verwendet werden, wenn es tatsächlich um eine weibliche Person geht. Doch diese Sprache vermittelt gesellschaftliche Bilder – Männlichkeit ist die Norm, Weiblichkeit die Ausnahme.

Unserer Sprache steckt voller Indizien, die auf das Geschlecht der Person hinweisen: Die Mechanikerin sucht ihre Jacke, während der Koch seine Schürze umhängt. Der Fachmann gibt jemandem eine Auskunft und die Krankenschwester teilt die Medikamente an die Patienten aus (vgl. Schneider 2011, S. 35 ff.)

Es lässt sich festhalten, dass Sprache nicht nur unsere gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen abbildet, sondern auch die Wahrnehmung prägt. Damit drücken sich auch gesellschaftlich präsente Geschlechterverhältnisse – mit den darin inhärenten Machtstrukturen – in der Sprache aus. Beispielsweise wird durch die Verwendung von bestimmten Berufsbezeichnungen in einer Form auch ein dementsprechendes Bild an Kinder weitergegeben. Kinder sind an den Strukturen und Mechanismen unserer Gesellschaft interessiert, Kinder wollen diese kennenlernen und Kinder sind bestrebt, ihren eigenen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Und diese Gesellschaft ist nun mal eine zwischen zwei Geschlechtern differenzierende Gesellschaft (vgl. Gildemeister/Robert 2008, S. 55 ff.). Dies drückt sich auch in der Sprache aus.

Geschlechterbewusste Sprachförderung

Mit diesem Artikel soll deutlich werden, dass sprachliche Bildung und Förderung mehr als nur den Blick auf die strukturellen Aspekte von Sprache benötigt. Auch ein sensibler Umgang mit den gesellschaftlichen Strukturen, die sich in der Sprache niederschlagen, ist notwendig. Sprache bildet die gesellschaftliche Realität, die Wirklichkeit nicht nur ab, sondern generiert in ihrem Tun diese Wirklichkeit. Sprache vermittelt Kultur und trägt zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Strukturen bei (vgl. Gildemeister/Robert 2008, S. 55 ff.). Oder anders ausgedrückt: Sprache bildet Wirklichkeit nicht nur ab, sondern konstruiert diese immer wieder neu. Zu dieser konstruierten gesellschaftlichen Wirklichkeit gehört auch das Geschlechterverhältnis.

Eine Konsequenz aus den in diesem Artikel formulierten Gedanken ist daher, dass sprachliche Bildung und Förderung in elementaren Bildungseinrichtungen auch einen geschlechterbewussten Umgang mit Sprache erfordert. Dies leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, tradierte Rollenbilder und das gesellschaftliche hierarchische Geschlechterverhältnis aufzubrechen.  

Literatur

Albers, Timm/ Bereznai, Anja/ Dintsioudi, Anna/ Hormann, Oliver/ Jungmann, Tanja/ Koch, Katja/ Kwa´snik, Nicole/ Lamm, Bettina/ Licandro, Ulla/ Lüdtke, Ulrike/ Firmino, Nadine Madeira / Schröder, Lisa/ Stitzinger; Ulrich/ Zimmer, Renate (2017): Sprachliche Bildung und Förderung aus interdisziplinärer Perspektive. In: nifbe (Hrsg.): Mehr Sprache im frühpädagogischen Alltag. Potenziale erkennen – Ressourcen nutzen. Freiburg im Breisgau, Verlag Herder. S.13-25

Beckerle, Christine (2015): Alltagsintegrierte Sprachförderung im Kindergarten und in der Grundschule. Evaluation des „Fellbach-Konzepts“. Weinheim/Basel: Beltz Juventa

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (2020): Bundesländerübergreifender Bildungsrahmenplan. Online verfügbar unter: https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/bef/sb/bildungsrahmenplan.html [10.12.2020]

Charlotte Bühler Institut (2016): Sprachliche Förderung am Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Online verfügbar unter: https://www.charlotte-buehler-institut.at/wp-content/uploads/2016/12/Sprachleitfaden-BMB-final-2016-1.pdf [10.12.2020]

Gäckle, Annelene (2014): ÜberzeuGENDERe Sprache. Leitfaden für eine geschlechtersensible und inklusive Sprache. Online verfügbar unter: https://static.uni-graz.at/fileadmin/Akgl/4_Fuer_MitarbeiterInnen/Sprachliche_Gleichbehandlung/2014_Leitfaden_UeberzeuGENDEReSprache_11032014.pdf [08.12.2020]

Gildemeister, Regine/Robert, Günther (2008): Geschlechterdifferenzierungen in lebenszeitlicher Perspektive. Interaktion - Institution – Biografie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Jampert, Karin/ Leuckefeld, Kerstin/ Zehnbauer, Anne/ Best, Petra (2006): Sprachliche Förderung in der Kita. Wie viel Sprache steckt in Musik, Bewegung, Naturwissenschaften und Medien? Weimar/Berlin: verlag das netz

Österreichische Kinder- und Jugendvertretung (BJV) (2013): Toolbox. Alles Gender, aber wie? Gender in der Kinder- und Jugendarbeit. Online verfügbar unter: https://bjv.at/wp-content/uploads/2020/03/toolbox-bjv_19-web-1.pdf [10.12.2020]

Ruberg, Tobias/ Rothweiler, Monika (2012): Spracherwerb und Sprachförderung in der Kita. Stuttgart: W.Kohlhammer GmbH

Schäfer, Gerd E. (2011): Bildung beginnt mit der Geburt: Für eine Kultur des Lernens in Kindertageseinrichtungen. Berlin: Cornelsen Scriptor

Schneider, Claudia (2011): Online verfügbar unter:  https://www.wien.gv.at/menschen/frauen/pdf/geschlechtssensible-paed-leitfaden.pdf [08.12.2020]

Autorin

Dr.in Simone Scheiner-Posch, M.A.
Pädagogische Hochschule Steiermark

https://www.phst.at/phst/organisation-leitung/institute-lernwerkstaetten/institut-fuer-elementar-und-primarpaedagogik/

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