Petra Adolph
Schön, dass sich nach dem PISA-Schock auch die Ministerien das wichtige Thema der Bildung von Anfang an vorgenommen haben. Dem gesetzlichen Ziel (KJHG) folgend, eine eigenverantwortliche und gemeinschaftsfähige Persönlichkeit zu fördern, bezieht sich die Bildungsarbeit von Tageseinrichtungen für Kinder auf individuelle und soziale Lerninhalte. Schade allerdings, dass das Kultusministerium die Bildung auf die Sprachförderung reduziert hat und dass von der Sprachförderung ein auch fachlich umstrittener Sprachtest übrig geblieben ist.
In einer interministeriellen Arbeitsgruppe Sprachförderung im vorschulischen Bereich unter Federführung des Kultusministeriums wirkten das Sozialministerium, das Innenministerium, das Justizministerium als Ministerium des Ausländerbeauftragten der Landesregierung, die Kommunalen Landesverbände, die Landesjugendämter sowie die Kindergartenträgerverbände mit. In der Arbeitsgruppe wurde v.a. von den Trägerverbänden die Wichtigkeit einer ganzheitlichen Sprachförderung hervorgehoben sowie die Einbettung in ein Gesamtkonzept frühkindlicher Bildung gefordert. Um so ärgerlicher, dass die Kultusministerin Dr. Annette Schavan bereits vor Beendigung der Arbeitsgruppe gegenüber dem Landtag und der Presse über freiwillige Sprachtests sowie eine Sprachförderung von sechs Unterrichtsstunden pro Woche berichtete!
Geplant ist, dass freie Träger wie Volkshochschulen oder Kirchen, aber auch Gemeinden selbst die Sprachkurse veranstalten. Sie müssen sich bei der Landesstiftung bewerben, die für das Vorhaben im ersten Jahr (!) fünf Millionen Euro zur Verfügung stellt. Die Tests finden zum ersten Mal im Herbst 2003 statt; die Träger sollen die Eltern darauf hinweisen. Weil die Landesstiftung nur 80 Prozent der Kursgebühren übernehmen wird, bleiben an den Eltern möglicherweise 48 Euro hängen.
Stellungnahme
Sprachförderung beginnt nach der Geburt, sie kann nur gelingen, wo Kommunikation stattfindet, im sozialen Handeln und täglichen Umgang. Wie die Vermittlung aller Lerninhalte ist auch die Sprache nur in einem ganzheitlichen Prozess und in Lebenssituationen der Kinder transportierbar. Kinder erst ab fünf Jahren zu fördern, ist zu spät; das sensible Entwicklungsfenster - so die Neurobiologen - für Sprache ist ab zwei Jahren "offen", also entwicklungsbereit. Kinder aus ihrem Umfeld des Kindergartens herauszunehmen, sie von fremden Erwachsenen schulartig fördern zu wollen, führt höchstens zu einer Stigmatisierung, aber nicht dazu, dass Sprache gelernt wird.
Es gibt eine unauflösliche Wechselbeziehung zwischen bildnerischen, musikalischen, gestischen, körper-betonten und tänzerischen Ausdrucks- und Kommunikationsformen und verbaler Sprachentwicklung. Deshalb bewirken reine Sprachförderprojekte oft Desinteresse und Unlust. Um Kinder zu einer Weiterentwicklung ihrer Sprache zu motivieren, ist es wichtig, dass sie an ihr bereits vorhandenes sprachliches Wissen anknüpfen können. Die Grundvoraussetzung für die Entwicklung der Sprache sind:
- die sensorische Integration (die Entwicklung der Sinne und der Wahrnehmungsfähigkeit und das Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung und Motorik)
- eine sichere und vertrauensvolle Beziehung zwischen den Kindern und den Erzieherinnen
- das Erlernen der Erstsprache (Muttersprache) und deren Akzeptanz
Für die Sprach- und später auch die Schriftsprachkompetenz sind die folgenden Fähigkeiten von Kindern in der "Lernzeit" der Kindertageseinrichtungen zu fördern:
- visuelle Wahrnehmung, d.h. die Aufmerksamkeit für feine Unterschiede, Details
- Bewegung für die Fein- und Grobmotorik und die Balance: Das Schreiben ist das Denken mit der Hand, schon Säuglinge machen Probebewegungen mit der Hand. Es ist nachgewiesen, dass Kindern, die viele unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten haben, alle Koordinationstätigkeiten leichter fallen.
- Konzentrations- und Erinnerungsfähigkeit
- Einfühlungsvermögen in Personen und Situationen
- sprachliche Ausdrucksmöglichkeit
- Rhythmik, Taktgefühl, Reime, Lieder - unter anderem als Vorbereitung auf ein Gefühl für Laute und Sprachmelodie
Für das Kind ist es hilfreich, bei Schuleintritt über folgende Sprachkompetenzen zu verfügen:
- Lautsprache (korrekte Aussprache von Lauten und Lautverbindungen)
- Lexik und Semantik (ausreichender aktiver und passiver Wortschatz)
- Grammatik (die Sprache sollte weitgehend grammatikalisch korrekt sein)
- Erzählen (Erlebnisse und kleine Geschichten inhaltlich zusammenhängend, grammatisch korrekt und ausdrucksvoll erzählen)
- Verstehen (Fähigkeit, die Bedeutung von Sätzen zu verstehen, Verstehen von Märchen und kleinen Geschichten)
- Gedächtnis (Behalten von Wörtern und einfachen Sätzen sowie Reproduktion des wesentlichen Inhalts von kleinen Geschichten)
- sozial-kommunikative Funktion der Sprache (eigene Bedürfnisse artikulieren, Verständnis sichern, Hilfen einfordern, soziale Beziehungen herstellen, Konflikte regulieren, sich auf Gesprächspartner einstellen können)
Der vom Ministerium bevorzugte Test und Ideen zur Sprachförderung berücksichtigen nur kleine Teile. Ähnlich wie das Würzburger Modell wird allein die Einübung der Lautsprache als Ausgangpunkt für das Sprachelernen verstanden. Das Würzburger Modell als eigentliches Präventionsprogramm für Legastheniekinder wird überschätzt als Sprachlernmodell für alle Kinder.
Auch das Konzept des Kultusministeriums ignoriert andere wichtige Aspekte der Sprache sowie die spezifischen Lernwege von Kindern. Das sogenannte Sprachförderkonzept nimmt neuere Forschungsergebnisse der frühkindlichen Bildung nicht zur Kenntnis und stellt damit das Land Baden-Württemberg einmal mehr in die Schlussposition bei der Qualität der Kinderbetreuung. Nach außen wirkt: Die Landesregierung tut etwas nach PISA und es wurde eine Arbeitsgruppe gegründet. Der Blick nach innen zeigt: Kinder mit Sprachschwierigkeiten werden kurz vor Eintritt in die Schule ausgesondert, einseitig gefördert und damit die Lust am Lernen genommen. Die Ideen der Arbeitsgruppe wurden kaum aufgegriffen.
Forderungen
Das Stuttgarter Projekt "Ganzheitliche Sprachförderung" macht vor, wie ein angemessenes, für Kinder sinnvolles Sprachförderkonzept aussehen könnte. Hier wird Sprachförderung als gemeinsame Aufgabe der Familien und der Tageseinrichtungen im Kinder-Alltag verstanden. "Das heißt, die Eltern in ihrer eigenen Sprachkompetenz zu bestärken, die Fachkräfte zu qualifizieren und ihnen mehr Zeit für Gesprächsanlässe mit den Kindern einzuräumen." (Angelika Friedrich, KiTa BW 12/2002).
Dafür braucht man Konzepte, die verknüpft mit dem ganzen Entwicklungsprozess von Kindern alle Bereiche der Sprachentwicklung (siehe oben) einbeziehen und professionell (!) in Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen vermittelt werden. Tests (Alternativen zu Breuer-Weuffen) können dabei nur zur Diagnose dienen, um eine individuelle Förderung effektiv zu machen - von Anfang an. Man darf nicht länger weder dem Irrtum auflaufen, dass man Bildungserfolge durch Aussonderung erzielen könnte, noch dem veralteten Glauben nachhängen, dass das Gehirn ein Wissensspeicher ist, den man nur gut füllen muss.
Wenn der Sprache für die Lesekompetenz und damit laut der PISA-Studie auch für die Lebensbewältigung eine so bedeutende Rolle zukommt, muss jedem Mädchen und jedem Jungen eine sinnvolle und angemessene Sprachförderung ermöglicht werden.