Literacy-Erziehung im Kindergarten Im Interview mit Claudia Wirts

Claudia Wirts

Die Bedeutsamkeit von Lese- und Schreibkompetenzen in der Elementarpädagogik

Eine Gruppe von Vorschulkindern sitzt gebannt im Kreis und bekommt von der pädagogischen Fachkraft ein spannendes Märchen vorgelesen. Nachdem die Geschichte zu Ende erzählt wurde, stellen sich die Kinder angeregt Fragen und schildern ihre Eindrücke.

Das Textverständnis und die sprachliche Abstraktionsfähigkeit sind wesentliche Kompetenzen, die Kinder bereits in der Kita erwerben. Im Kindergarten und in der Vorschule werden grundlegende erste Erfahrungen mit der Schreibkultur gemacht sowie erste Schreibkompetenzen erlernt. In diesem Interview befragen wir Dr. Claudia Wirts, zum Thema Literacy-Erziehung im Kindergarten.

Was verbirgt sich hinter dem Begriff Literacy in der Elementarpädagogik?

„Literacy“ bedeutet übersetzt „Lese- und Schreibkompetenz“, diese Übersetzung umfasst aber viele Aspekte nicht mit, die im englischen Begriff „Literacy“ mit gemeint sind, daher verwenden wir auch im Deutschen oft einfach den Begriff „Literacy“. Gemeint sind damit alle Erfahrungen und Kompetenzen rund um den Umgang mit Schrift, Erzählkultur und Büchern. Also Themen wie Textverständnis, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, Lesefreude, Vertrautheit mit Büchern u.v.m. fallen darunter, aber teilweise werden auch Vorläuferfähigkeiten zum Schriftspracherwerb mit inkludiert, also alles rund um das Thema der phonologischen Bewusstheit.

Können Sie uns Literacy-Kompetenzen nennen, die Sie für besonders wichtig erachten und die bereits im Kleinkindalter vermittelt werden können?

Im Bereich der Elementarpädagogik sind insbesondere die Vermittlung von Freude am Umgang mit Büchern und der Spaß am Ausprobieren und Entschlüsseln von Schriftzeichen, sowie der spielerische Umgang mit der „Form der Sprache“ (z.B. Reimen, Anlauterkennung, Silbengliederung), wichtige Bildungsthemen im Bereich Literacy.

Können Sie uns praktische Methoden oder Beispiele für eine gelungene Literacy-Erziehung im Kindergarten nennen?

Das Erlebnis, das mich am meisten beeindruckt hat, war in einer Kinderkrippe. Die Fachkraft hatte mit den ein- bis dreijährigen Kindern gerade ein Bilderbuch angeschaut und kümmerte sich dann um andere Kinder in der Bauecke. Ein einjähriges Kind nahm sich ein Buch, setzte sich damit auf den Boden und blätterte darin, daraufhin kam ein Dreijähriger dazu und „las dem jüngeren Kind aus dem Buch vor“, er imitierte das Verhalten der Fachkraft, stellte Fragen und erzählte zu den Bildern, was ihm gerade einfiel. In dieser Kita war ganz offensichtlich der Umgang mit Büchern so selbstverständlich und so positiv besetzt für die Kinder, dass ich mir sicher bin, dass sie davon wirklich positiv geprägt wurden.

Praktische Methoden fallen mir viele ein, die selbstverständlicher Alltag in den meisten Kitas sind, aber vielleicht nenne ich hier ein paar besonders wichtige oder etwas ungewöhnlichere Ideen. Zum einen gibt es inzwischen viel Forschung dazu, wann sich die Beschäftigung mit Büchern besonders förderlich auf die Sprachentwicklung der Kinder auswirkt. Dabei schneidet die dialogische Bilderbuchbetrachtung besonders gut ab, wenn also über ein Buch mit den Kindern gesprochen wird, die Kinder z.B. durch offene Fragen zum Erzählen angeregt werden, oder Mutmaßungen zum Fortgang der Geschichte anstellen.

Die Einrichtung eines Literacy-Centers ist für mich auch ein schönes Beispiel. Literacy-Center sind Bereiche in der Kita zu einem bestimmten Thema, wie z.B. Bücherei, Reisebüro, Post. Am besten richtet man ein Literacy-Center im Rahmen eines Projektes ein, z.B. gestaltet man nach dem Besuch einer Buchhandlung gemeinsam mit den Kindern eine Rollenspielecke entsprechend um (viele Bücher, eine Kasse, ein Verkaufstresen, Zettel für Rechnungen etc.). Durch die Materialien und das Setting, das zu Rollensielen herausfordert, kann die Beschäftigung Literacy-Themen bei den Kindern gut angeregt werden. Auch so genannte Schreibecken, in denen ein Schreibtisch, vielfältige Schreibutensilien (vielleicht sogar eine alte Schreibmaschine oder PC-Tastatur) und z.B. Bilder von Buchstaben oder eine Anlauttabelle hängen, motivieren ebenso zur Aneignung von Schrift, wie Kinderdiktate, bei denen Erwachsene die Geschichten oder auch nur die Beschreibung eines Kinderbildes verschriften und über das Geschriebene sprechen. Im Alltag ergeben sich immer wieder einfache Möglichkeiten zur Thematisierung von Schrift und phonologischer Bewusstheit, z.B. Garderobenhaken oder Stühle mit den Anfangsbuchstaben der Kindernamen, Reimspiele und natürlich eine ansprechende und für die Kinder frei zugängliche Bücherecke, die vielfältige Interessen abdeckt.

Inwiefern können digitale Medien eingesetzt werden, um die Literacy-Erziehung im Kleinkindalter zu unterstützen?

Digitale Medien eignen sich dann für die Literacy-Bildung, wenn sie passend ausgewählt und bewusst eingesetzt werden. Digitale Bilderbücher in verschiedenen Sprachen können z.B. für mehrsprachige Kinder eingesetzt werden, um das Sprachverständnis abzusichern und gleichzeitig die anderen Kinder neugierig auf verschiedene Sprachen und Schriftsysteme zu machen (z.B. App „Polylino“ (ILT Inläsningstjänst AB)). Die Erstellung eigener kleiner Comics mit Sprechblasen, deren Inhalt von den Kindern diktiert wird, ist ebenfalls sehr motivierend (App „Comic Life“ (plasq, LLC für iOS) oder „Comic Strip It!“ (Roundwood Studio für Android)), man kann aber auch inzwischen auch sehr einfach ein eigenes Buch (z.B. App „Book Creator“ (Tools for Schools Limited, für iOS)) mit den Kindern gestalten, Bilder und eigene Texte einfügen und als PDF auch den Kindern mit nach Hause geben, dann wirkt die Literacy-Bildung gleich noch über die Kita hinaus.

Literaturempfehlung

Wer sich mit dem Thema näher befassen möchte, dem empfehle ich das Buch von Reber & Wildegger-Lack (2020) Sprachförderung mit Medien: Von real bis digital. Wissenswertes für Eltern, Pädagogen und Therapeuten.

Autorin

Dr. Claudia Wirts, Sonderpädagogin und Sprachheilpädagogin, ist seit 2007 wissenschaftliche Referentin am Staatsinstitut für Frühpädagogik, Schwerpunktbereiche: Sprache, Interaktionsqualität, Literacy, Mehrsprachigkeit, Inklusion, Fortbildungstätigkeit im Bereich der frühen Sprachförderung (Frühtherapie und Interaktionsberatung) und Sprachförderung in Kindertagesstätten.

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