Martin R. Textor
Mit dem Begriff "Literacy" werden nicht nur die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bezeichnet, sondern auch Text- und Sinnverständnis, Erfahrungen mit der Lese- und Erzählkultur der jeweiligen Gesellschaft, Vertrautheit mit Literatur und anderen schriftbezogenen Medien (inkl. Internet) sowie Kompetenzen im Umgang mit der Schriftsprache. Letztere ist abstrakter und umfasst einen reichhaltigeren Wortschatz, einen komplizierteren Satzbau und mehr Nebensätze als die gesprochene Sprache. Zudem ist die Schriftsprache "de-kontextualisiert" (unabhängig vom Kontext), d.h. Schreiber und Leser befinden sich in der Regel nicht in derselben Situation und können sich somit nicht miteinander austauschen. Deshalb muss der Schreiber den Text so verfassen, dass er für eine Person nachvollziehbar ist, die nur dessen Inhalt aufnimmt. So müssen z.B. bei Geschichten oder Märchen neben der Handlung auch die Personen, Räume und Situationen beschrieben werden, die eine Rolle spielen, damit der Text verständlich wird.
Literacy wird bereits in der frühen Kindheit grundgelegt. Da Kleinkinder in ihren Familien unterschiedliche Erfahrungen mit der Lese-, Erzähl- und Schriftkultur ihrer Gesellschaft machen, sind Erzieher/innen gefordert, hier ausgleichend bzw. kompensatorisch tätig zu werden. Außerdem sollen sie generell relevante Vorläuferfähigkeiten fördern, da Literacy in der heutigen Wissensgesellschaft von größter Bedeutung ist. Wissenschaftliche Untersuchungen haben belegt, dass diejenigen Kinder in der Schule bessere Sprach-, Lese- und Schreibkompetenzen aufweisen, die in der frühen Kindheit vielfältige Erfahrungen mit Sprache, Vorlesen, (Bilder-) Büchern, Schrift usw. gemacht haben.
Deshalb ist die "Literacy-Erziehung" in nahezu allen Bildungsplänen für Kindertageseinrichtungen verankert worden. Sie kann beispielsweise durch folgende Aktivitäten realisiert werden:
- Bilderbuchbetrachtung: Kleinkinder profitieren am meisten davon, wenn sie in dieser Situation nur mit wenigen anderen Kindern zusammen sind und aktiv einbezogen werden. Dabei ist ihr Alter zu beachten: Beispielsweise können ganz kleine Kinder die Gegenstände auf den Bildern benennen, ältere Kinder den Inhalt der Bilder beschreiben und Beziehungen zwischen Bildern herstellen und Schulkinder über den weiteren Verlauf der Geschichte fantasieren oder Bezüge zu ihrem eigenen Leben herstellen. Wird ein Bilderbuch wiederholt betrachtet, können auch schon kleinere Kinder die Handlung (teilweise) nacherzählen. Wichtig ist also, dass es sich bei der Bilderbuchbetrachtung um eine für das Kind sprachintensive Situation, um "dialogisches Lesen" handelt.
Wenn sich Kinder in einer attraktiv gestalteten, ruhigen Bilderbuchecke selbständig Bücher anschauen können, entwickeln sie oft schon "Lesefreude" - die frühe literarische Sozialisation bedingt weitgehend, ob Literatur zu einem Wegbegleiter durchs Leben wird. Zudem erbringen Schulkinder, die von sich aus viel lesen, zumeist bessere Leistungen.
- Vorlesen/Nacherzählen: Auf diese Weise lernen die Kinder Geschichten, Märchen und Gedichte, aber auch Sachtexte, Lexikonartikel u.a. kennen. Prinzipiell ist in der frühen Kindheit das Nacherzählen dem Vorlesen vorzuziehen (sofern sich der Erzählstil an der de-kontextualisierten bzw. Schriftsprache orientiert), da die Erzieherin dann leichter Blickkontakt mit den Kindern halten und entsprechend ihrer Beobachtungen reagieren, also z.B. Unverstandenes erklären oder bei ersten Anzeichen von Langeweile dramatisieren kann. Auch beim Vorlesen und Erzählen ist eine Kleingruppensituation sinnvoll, da das Tempo leichter auf die Kinder abgestimmt, ihnen mehr Zuwendung gezeigt und sie berührt werden können. Zudem kann es dann wie bei der Bilderbuchbetrachtung zum "dialogischen Lesen" kommen - dass also die Kinder durch das Vorgelesene oder Erzählte zum Sprechen angeregt werden (z.B. Kommentieren oder "Weiterdichten" der Geschichte). Da Erzieher/innen für derartige Aktivitäten nur begrenzt Zeit haben, können z.B. Eltern oder Großeltern als "Vorlesepaten" gewonnen und entsprechend eingesetzt werden.
- Freies Erzählen: Kleinkinder sollten generell ermutigt werden, viel und möglichst lange zu erzählen (z.B. im Stuhlkreis, in Zweier- oder Dreiersituationen). Zum einen fördert dies kommunikative und soziale Kompetenzen, zum anderen lernen die Kinder, sich immer besser der de-kontextualierten Sprache zu bedienen, also z.B. Erlebnisse am Wochenende oder in den Ferien so zu schildern, dass sie für die anderen Kinder nachvollziehbar sind. Das freie Erzählen kann auch dadurch gefördert werden, dass mit den Kindern Fantasiegeschichten erfunden, Theaterstücke entwickelt oder Puppenspiele mit selbst entwickelter Handlung aufgeführt werden.
- Buchkultur: Sowohl bei der Bilderbuchbetrachtung als auch beim Vorlesen lernen die Kleinkinder Bücher als solche kennen, d.h. sie nehmen deren Charakteristika (Einband, Titelblatt, Inhaltsverzeichnis, Text usw.) wahr, erlernen deren Handhabung (richtiges Halten, Umblättern etc.) und beginnen, zwischen verschiedenen Arten von Büchern zu differenzieren (Bilderbücher, Sachbücher, Lexika usw.).
- Schrift: Nicht nur bei der Bilderbuchbetrachtung und beim Vorlesen werden Kinder im Kindergarten mit den Schriftzeichen ihrer Kultur konfrontiert, sondern auch in vielen anderen Situationen - wenn die Erzieherin etwas aufschreibt oder tippt, wenn sie am Computer E-Mails abruft oder im Internet recherchiert, wenn im Gruppenraum Kataloge oder Zeitschriften herumliegen und wenn Kinder bei Ausflügen Autokennzeichen, Straßenschilder oder Werbeplakate sehen. Erzieher/innen können sie zur Schrift hinführen, indem sie z.B. in ihrer Anwesenheit vom Schreiben bewusst Gebrauch machen (Vorbild!), indem sie mit ihnen verschiedene Schriften erkunden (lateinische, arabische, chinesische Schriftzeichen, Runen, Hieroglyphen, Blindenschrift usw.) oder sie bei Rollenspielen anhalten, Schreibszenen zu integrieren. Wenn Kleinkinder eine Fantasieschrift verwenden oder unbedingt ihren Namen schreiben lernen möchten, ist dies zu unterstützen - allerdings ist es nicht Aufgabe von Erzieher/innen, Kindern das Lesen und Schreiben zu lehren.
Wie bereits am Anfang dieses Artikels angedeutet, sollten Kinder aus solchen Familien besonders gefördert werden, in denen (bisher) wenig Wert auf die Förderung von Sprach- und Literacyentwicklung gelegt wurde. Neben vielen Migrantenkindern sind hier vor allem Kinder gemeint, die zu Hause keine oder nur wenige (Bilder-) Bücher haben, deren Eltern wenig lesen und oft auch das Schreiben nur begrenzt beherrschen. Insbesondere für solche Kinder können Erzieher/innen Ausleihmöglichkeiten von Bilderbüchern, CDs, MCs, Lernspielen usw. schaffen. Oder sie können mit Eltern und Kindern gemeinsam die örtliche Bücherei besuchen, sodass die Eltern diese Institution kennen lernen und die Schwellenangst vor deren Nutzung abgebaut wird. Eltern könnten durch entsprechende Elternabende oder Beiträge in Elternbriefen - vor allem aber bei Entwicklungsgesprächen - dazu motiviert werden, ihren Kindern mehr vorzulesen, ihnen Geschichten zu erzählen oder immer wieder längere Gespräche mit ihnen zu führen.
In einigen wenigen Städten in Deutschland (z.B. in Hamburg oder Nürnberg) können Erzieher/innen (Migranten-) Eltern auch "Family Literacy"-Angebote erschließen. Dies sind in der Regel Hausbesuchsprogramme, bei denen (ehrenamtlich tätige und) besonders geschulte Personen Eltern regelmäßig daheim aufsuchen, um mit ihnen über die Bedeutung der Sprach- und Literacy-Förderung zu sprechen. Sie geben ihnen dann (Bilder-) Bücher, Arbeitsblätter und/oder Spiele, die von den Eltern in den kommenden Tagen bei ihren Kindern eingesetzt werden. Beim nächsten Besuch werden dann die gesammelten Erfahrungen reflektiert. Manchmal werden diese Hausbesuche durch Gruppentreffen oder Sprachkurse ergänzt.
Literatur
Rabkin, G./Elfert, M. (2007): Sprachförderung von Migrantenkindern - Family Literacy in Hamburg. http://www.kindergartenpaedagogik.de/1697.html
Ulich, M. (2003): Literacy - sprachliche Bildung im Elementarbereich. Kindergarten heute 33 (3), S. 6-18