Aus: Pädagogik Unterricht 2004, Heft 1
Norbert Kühne
Beschreibung
In der Kleingruppe mit ca. 5-6 Kindern (ca. 5-6 Jahre alt) werden Bilder aus Werbeprospekten, Informationen, Reiseprospekten usw. ausgeschnitten, die jeweils mit einem Wort bzw. Begriff identifizierbar sind (z. B. Haus, Hirsch, Mann, Mädchen usw.). Die Begriffe ergeben sich zum Teil aus dem Gespräch mit Kindern, ein Teil aber ist auch von vorneherein geklärt (Gelegentlich muss man fragen: Was ist das? Was meinst Du?).
Die Bilder werden auf ein Blatt geklebt und mit dem gefundenen Begriff (von mir) in Großbuchstaben am oberen Rand des Blattes versehen. Die Blätter können so alphabetisch geordnet werden - eben als Lexikon.
Mögliche Funktionen des Lexikons
- Die Kinder können nach Fertigstellung nachschlagen, um zu sehen, wie Gegenstände aussehen (u.U. auch wie Buchstaben geschrieben werden).
- Durch die Auseinandersetzung mit Bildern und Worten erwerben Kinder Vorstellungen und zusätzliches Vokabular.
- Durch die Konfrontation von Bild und Schrift (Begriff), auch durch den Entstehungsprozess begünstigt, entwickeln Kinder Interesse für das Aufschreiben und für die Schrift.
- Die Kindergruppe kann das Lexikon als "Literatur" (im Gruppenraum) verwenden, die selbst hergestellt wurde. Auf diese Art kann ein Verhältnis zum Buch als Medium entstehen, was z.B. im US-Head-Start-Programm ein wichtiger Zielaspekt ist.
Kurzbericht zur ersten Sitzung (27.10.2003)
Um 9.30 versammelte ich fünf Kinder (drei Mädchen - zwei davon türkisch, zwei Jungen - einer davon türkisch) im "Leseraum". Nach einem Vorstellungsspiel und einem Kindergedicht ("Was denkt die Maus am Donnerstag") erklärte ich den Kindern das Projekt und stellte das Prospekt- und Info-Material, das ich wochenlang gesammelt hatte, zur Verfügung. Die Kinder begannen ohne Probleme mit der Arbeit und kommunizierten lebhaft mit mir und in der Gruppe über die Bilder, über das technische Verfahren und die Beschriftung.
Ein türkisches Mädchen wollte schon zu Beginn die Begriffe auf den Bildern ein zweites Mal in Großbuchstaben schreiben. Das tat sie auch. Mit der Zeit ging das Beschriften einiger Blätter in ihre Regie über; sie wollte nur noch wissen, wie man einige Buchstaben schreibt. Ich schrieb sie ihr vor. Ein sehr interessierter Junge, der durchweg intelligente Bilder ausgesucht hatte, wollte zum Schluss wissen, wie man seinen Namen und "Bergmann" schreibe. Die Kinder arbeiteten so schnell, dass ich mit dem Beschriften nicht mitkam. Gelegentlich mussten wir besprechen, was wir vor uns hatten bzw. mit welchem Begriff wir das Bild versehen sollten. Ein (türkischer) Junge aber wollte weder ausschneiden noch mitdiskutieren; allerdings schaute er uns 80 Minuten interessiert zu. Ich sprach ihn zwei Mal an, ließ ihn aber in Ruhe. Er sollte sich nicht gedrängt fühlen.
Als nach 75 Minuten ein Streit (zwischen zwei eifrigen Mädchen) über einen Stift ausbrach, drängte ich die Kinder, langsam aufzuräumen. So konnte ich die Schlussbetrachtung, die ich vorhatte, nicht mehr realisieren. Trotzdem war die Atmosphäre bis zum Schluss heiter und entspannt. Auch das Interesse für das Projekt blieb bis zum Schluss erhalten.
Ich habe die Bilder in einem Aktenordner alphabetisch geordnet. Ich glaube, wir haben ca. 30 Blätter/ Begriffe gesammelt (gezählt habe ich sie nicht). Auf einigen Blättern haben wir mehrere Beispiele für ein Objekt; z.B. auf dem Blatt "Haus": Da gibt es nicht nur mehrere Häuser, sondern auch mehrere "Haus"-Blätter
Ausblick: folgende Sitzung
Nach einem Spiel und einem Gedicht werde ich mit der Reflexion einiger Blätter einsteigen, um eine Perspektive für die Weiterarbeit zu entwickeln:
- Was sehen wir?
- Was haben wir bereits gesammelt?
- Über einige Blätter werde ich inhaltlich mit den Kindern palavern.
- Anschließend können wir überlegen, was wir noch aus dem Info-Material verwenden und in das Lexikon übernehmen können.
Erste Reflexion
- Meine Erwachsenen-Seele zuckte zusammen, als ein Kind den Begriff falsch auf das Blatt schrieb. Ich entschied mich aber dafür, das nicht zu ändern, weil nicht der Erwerb des Schreibens im Mittelpunkt steht. Soll es so bleiben? Ich werde es lassen, vermute ich.
- Sorge macht mir das eine türkische Kind, das sich überhaupt nicht beteiligte; es ist sprachlich offenbar nicht auf dem Stand des 5/6-Jährigen. Ich werde mir etwas überlegen.
- Besonders interessant fand ich das allmählich entstehende Interesse an der Beschriftung bei zwei Kindern. Ich habe das auch gefördert, jedoch nicht forciert. (Kindergärten im Head-Start-Programm, Colorado Springs, beschriften z.B. Gegenstände, Möbel usw., damit die Kinder, die Interesse an der Schrift haben, sich langsam "einlesen" können.)
- Ich glaube nicht, dass die Kinder schon begriffen haben, dass das "Endprodukt" das Lexikon sein soll - das "Buch" also. Das macht aber nichts. Ich lasse mir Zeit.
Perspektiven (Anmerkungen am 02.12.2003)
Inzwischen eröffnen sich neue Möglichkeiten für das "Lexikon":
- Die Kinder beobachten Sachverhalte um sie herum und malen sie. Mit diesen Darstellungen, über die man noch besser ins Gespräch mit ihnen - z.B. über Details der Realität - kommt, wird das "Lexikon" vervollständigt. Häufig bestehen Kinder darauf, unter ihre Darstellungen den Namen zu schreiben. Sie wollen teilweise sogar selbst darunter schreiben, um welchen Gegenstand es sich handelt. Und wenn ich die großen Buchstaben zu hastig schreibe, kritisiert mich Zeynep, ein türkisches Mädchen, das sei nicht richtig geschrieben.
- Claudius Reimann, der Leiter des Kindergartens, machte mich später auf eine weitere Möglichkeit aufmerksam: Das Lexikon kann für den Deutsch-Unterricht mit den Migranten-Müttern genutzt werden. Diese erhalten Unterricht im Kindergarten. Die Mütter könnten nun die türkischen Worte dazu schreiben - und müssten sich damit auseinander setzen, welche Bedeutung ein deutsches Wort in der türkischen Sprache hat.