Aus: klein & groß, November 2004
Norbert Kühne
An die Stiftung Lesen dachte sicher niemand im Team der "Kinderkiste im Nonnenbusch" (KIKINON), als wir uns daran machten, das Projekt "Lese-Initiative Lenkerbeck" (LIL) ins Leben zu rufen. Lenkerbeck ist ein Stadtteil im Osten von Marl (Westfalen) - nicht gerade das, was man ein besseres Wohnviertel nennen könnte. Am Ausgang von Lenkerbeck liegt eine kleine Ringstraße. Sie definiert den Nonnenbusch, der dieser dreigruppigen Kita den Namen gab. Inmitten der grünen Idylle, die keine ist, liegt auf einer großen Wiese KIKINON. Gewaltige Bäume rund um die Kita schaffen im Sommer eine heitere, sonnige Atmosphäre.
"Die guten Erfahrungen mit der speziellen Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund ermutigten uns, nach Wegen zu suchen, diese auch ohne Landesmittel und für alle Kinder anzubieten" (Projektbericht an die Stiftung Lesen).
"Sprachförderungsprojekt" klang mir aber zu unbescheiden. Ein solches Unternehmen könnte vielleicht jemand ins Leben rufen, der höhere Ansprüche hat. Zudem wussten wir nicht, wie sich alles entwickeln würde. Also fingen wir besser klein an. Eine spektakuläre Eintagsfliege allerdings war nicht das, was wir uns vorstellten. So verständigten wir uns sehr schnell auf die Bezeichnung "Lese-Initiative" - damit konnten wir und die Eltern der Kita etwas anfangen.
Claudius Reiman, Leiter der Kita, verheimlichte von Anfang an nicht, dass ihm eine Profilierung der Kita in Richtung Sprachförderung in der städtischen Vorschullandschaft willkommen sei. Die Schließung von Kindergarten-Gruppen in Marl war bisher am KIKINON vorübergegangen.
Doch es gab auch Bedenken: "Zu Beginn des Projekts stellten wir im Team Unsicherheiten im Umgang mit der Einbindung der behinderten Kinder in das LIL- Projekt fest. Die Frage, wie die behinderten Kinder an den Leseaktionen teilnehmen können, stellte sich" (Projektbericht).
Ich als adoptiertes und temporäres Mitglied es Teams fand aber die Erzieherinnen von Anfang an sehr interessiert und motiviert. Das erleichterte mir den Einstieg sehr. Zu keinem Zeitpunkt der Planung gab es Auseinandersetzungen um grundlegende Probleme, die das Projekt gefährdet hätten. Die gute Stimmung half später, die Eltern problemlos einzubinden. Mich interessierte darüber hinaus die konkrete Dynamik der Kinder beim Spracherwerb.
Unser Vorhaben passte übrigens auch gut zu einem Deutsch-Kurs für türkische Mütter, der aus privater Initiative für die Kita organisiert wurde. Der Kurs lief schon seit Wochen. Es nahmen zwar nur wenige türkische Mütter das Angebot wahr, dennoch bildete die Maßnahme einen wichtigen Baustein bei der Untermauerung der freundlichen Atmosphäre in der Einrichtung. Viele türkische Eltern kommen hier sehr offen auf das pädagogische Personal zu - der Kontakt ist herzlich.
Die Eltern als bedeutende Stütze des Projekts
Die Eltern sollten von Anfang an einbezogen werden. Sie sollten eine bedeutende Stütze des Projekts darstellen. Zur Vorbereitung der Lese-Initiative planten wir:
- Einen Elternabend für die gesamte Kita.
- Ein heiteres Lesefest zum Einstieg.
- Die Kontakte mit Institutionen und Personen, die uns unterstützen konnten.
- Die internen organisatorischen Details.
Beim Elternabend zu dem Thema "Gründung der Leseinitiative" herrschte Aufbruchstimmung. Ich informierte zu Beginn über neuere Aspekte der Sprachentwicklung und Sprachförderung. Arbeitspapiere und schriftliche Infos dazu hatte ich gemacht. Daraus entwickelte sich eine äußerst lebhafte Diskussion. Türkische Mütter ergriffen das Wort, ein portugiesisches Ehepaar berichtete über ihre Erfahrungen mit der Zweisprachigkeit, und deutsche Eltern wollten wissen, wie sich Sprachdefizite ihrer Kinder auffangen ließen. Das Team war euphorisch! So kam der Vorschlag der Erzieherinnen ausgezeichnet an, die mitarbeitenden Eltern zu Lesepaten zu machen.
Der Kita-Leiter fotografierte die Paten - es meldeten sich Mütter und ein Vater - und entwarf in den nächsten Tagen den "Ausweis"; der hatte vor allem die Funktion, den Kindern der Einrichtung jeden Tag an einer speziellen Tafel anzuzeigen, welcher Lesepate am kommenden Tag lesen wollte. So hatten die Kinder einen Überblick über die gesamte Woche.
Wir unterstützten die Eltern unter anderem, indem wir ein Merkblatt verfassten, wie sie sich zu Hause mit ihren Kindern sprachlich auseinander setzen könnten, um sie auch zu fördern. Wir hatten eine Information aus dem Headstart-Kindergarten in Colorado-City (Dorothea Schirner Moss, USA), in dem Eltern sehr detailliert vermittelt wird, wie sie ihre Kinder sprachlich fördern und unterstützen können. Unser Hinweis für die Eltern ist wesentlich bescheidener! Doch wir wollten auch diese Seite der Sprachförderung beachten.
Das Lesefest zu Beginn des Projekts war so gut besucht wie alle Feste der Kita. Entgegen allen soziologischen Vorurteilen sind die Eltern im Nonnenbusch daran interessiert, mit der Kita zu kommunizieren - ganz unabhängig von der Nationalität. Im Zentrum des Festes stand das Lesekino, das den ganzen Tag über lief und zu dem die Kinder Eintrittskarten erwarben (sie mussten nicht wirklich etwas zahlen). Alle Vorstellungen waren ausverkauft. Auch die Bürgermeisterin war vertreten, lächelte überzeugend und wünschte uns Erfolg, ebenso die Sozialdezernentin der Stadt. Beide hatten wir eingeladen. Selbstverständlich war die Presse anwesend und berichtete groß, worauf wiederum die Eltern sehr stolz waren.
Partner werden gesucht
"Am Donnerstag den 25. September 2003 nutzten wir die Stadtteilkonferenz in Sinsen-Lenkerbeck zur Vorstellung unserer Einrichtung und der gerade gegründeten Lese-Initiative mithilfe eines Info-Tisches und einer Stellwand. Zugleich bot sich hier die Möglichkeit, im persönlichen Gespräch mit Vertretern der Politik, des Jugendamtes und interessierter Eltern, die uns nicht kannten, das Projekt zur Sprachförderung in einer integrativ arbeitenden Kindertageseinrichtung und die Bedeutung dieser Initiative sowohl für die Kinder als auch für die Eltern zu diskutieren" (Projektbericht).
Die gehobene Stimmung verleitete uns zu der Annahme, dass sich alle Großmütter des Nonnenbuschs einfänden, um bei uns zu lesen. Wir dachten auch an interessierte Gymnasiasten der Sekundarstufe 2, die sicher nichts Besseres zu tun hätten, als Kindern unserer Einrichtung Texte vorzulesen. Sogar an Motivierte in örtlichen Vereinen und Parteien dachten wir. Unsere Einladung hatten wir an alle möglichen Menschen im Stadtgebiet verteilt und erhofften Großes. Aber wir hatten uns geirrt.
Glücklicherweise aber engagierte sich das Hans-Böckler-Berufskolleg in Marl mit einer Lehrerin und einer Klasse (AHR/Erzieherin). Die angehenden Erzieherinnen entwickelten wöchentlich Sprachaktionen, die sie mit den Kindern erprobten. Danach diskutierten sie mit ihrer Lehrerin und einer Erzieherin didaktisch-methodische Aspekte der Sprachförderung. Solche Ereignisse waren für die Kinder besonders interessant.
"Im Rahmen eines Projekts wird die Klasse ab November zirka zehn Einheiten dieser Nachmittagsaktivität selbstverantwortlich und in Absprache mit dem Team planen und umsetzen. Das Projekt wird von einem Lehrer des Berufskollegs vorbereitet und ein Mitarbeiter der Einrichtung wird die Durchführung begleiten" (Projektbericht).
Die städtische Kinder- und Jugendbücherei versorgt uns jetzt regelmäßig mit Kinderliteratur - zusätzlich zu den Büchern, die wir im Zuge der Projektentwicklung kauften. Intern definierten wir die ständigen Aufgaben für das Team:
- Motivation der Eltern,
- Kontaktaufnahme mit anderen Institutionen (z.B. Berufskolleg),
- Koordination der Vorlesetermine,
- Einbindung der Kinder mit Behinderung in das Projekt,
- Absprache mit dem örtlichen Träger,
- Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,
- Herbeischaffen geeigneter Literatur,
- Raumgestaltung.
Förderung braucht einen Ort, dachten wir, und richteten im ersten Stock des Gebäudes ein Zimmer ein, in dem alle Aktionen stattfinden konnten, die mit unserem Projekt zu tun hatten, und in dem man auch Material und entwickelte Produkte deponieren konnte, sodass man sie immer parat hatte. Vor allem die Kinder fanden es attraktiv, obwohl der Raum auf den ersten Blick nicht gerade begeisterte. Aber man konnte ungestört lesen, werkeln und experimentieren.
Wir entwarfen auch Protokollformulare für die einzelnen Aktionen der Lesepaten, weil wir den Überblick behalten wollten, ohne jedoch diese Berichte systematisch zu reflektieren.
Ein Gewinn für die Einrichtung
"Die Gründung der Lese-Initiative Lenkerbeck ist für unsere Einrichtung ein großer Gewinn. Zum einen, weil den Kindern ein zusätzliches Angebot geschaffen wurde, und zum andern, weil viele Eltern sich jetzt noch stärker mit der Einrichtung identifizieren" (Projektbericht).
Auch die Identifikation mit der Lese-Initiative schien bei einigen Eltern besonders ausgeprägt. Sie äußerten gegenüber dem Leiter und einer Erzieherin, dass ihnen das tägliche Vorlesen nicht genüge; sie hatten zum einen mehr gewollt und zum anderen beabsichtigten sie auch, ein wenig Wind in den inzwischen ruhig gewordenen Ablauf des Lesens zu bringen.
Dies Eltern schlugen ein Märchenprojekt vor. "Märchen sind allen Eltern bekannt und verleihen ihnen die nötige Sicherheit, sich stärker einzubringen. Der kleine Arbeitskreis aus Eltern und Erzieherinnen beschloss, parallel zum Vorlesen der Märchen, Gestaltungsangebote für Kinder anzubieten, die inhaltlich mit dem Vorgelesenen in Zusammenhang stehen. Es entstand ein Aushang im Eingangsbereich, der die Mitarbeit von Eltern, Großeltern und Freunden der städtischen Kita zu folgenden Aktionen suchte:
- Knusperhäuschen,
- Rotkäppchen basteln,
- Handpuppen gestalten,
- Raumgestaltung zum Märchenland,
- Märchen vorlesen,
- Märchen nachspielen" (Projektbericht).
Der Bücherbestand der Kita wurde überprüft - in der Kinder- und Jugendbücherei wurden weitere Bücher ausgeliehen. Im Januar wurden die Märchen dann ausgewählt (Prinzessin auf der Erbse, Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Dornröschen), und zwar so, dass sie auf den unterschiedlichen Entwicklungsstand der Kinder abgestimmt werden konnten. Vom Rotkäppchen gab es verschiedene Versionen (aus unterschiedlichen Büchern) - damit wuchs das Interesse der Erwachsenen am Märchen. "Die Bedeutung der Märchen an sich und die der einzelnen Erzählungen wurden lebhaft und zum Teil kontrovers diskutiert" (Projektbericht).
Die Illustration der Märchen war vor allem für die jüngeren Kinder interessant. Es entstanden beispielsweise rote Kappen aus Krepppapier, und es ergaben sich auf diese Weise viele Sprechanlässe über die Themen der Märchen hinaus. Es entwickelten sich Gespräche zwischen Eltern und Kindern. "Einige Jungen bestanden während der Aktion darauf, neben dem roten Käppchen auch den Jägerhut anzufertigen" (Projektbericht). Aus der ganzen Situation ergaben sich viele Anlässe für Rollenspiele. Die Schülerinnen des Berufskollegs widmeten sich besonders dem Dornröschen. Es entstand daraus ein Singspiel, das an mehreren Vormittagen mit allen Kindern eingeübt wurde.
Ein Kinderlexikon mit Kindern entwickeln
Ein weiteres Projekt interessierte mich: mit Kindern ein Buch zu entwerfen, das sie selbstständig entwickeln konnten und welches sie im wahrsten Sinne ihr eigenes nennen konnten. Eine Art Lexikon, welches ihre Handschrift trug.
So machte ich mich daran, über Wochen Material aus Zeitschriften, Katalogen und sonstigen Druckerzeugnissen zu sammeln. Dann begann ich mit sechs Kindern, Gegenstände oder Sachverhalte aus den Unterlagen auszuschneiden und sie auf weiße Blätter zu kleben. Wir verpassten den ausgeschnittenen Gegenständen und Dingen einen Namen - häufig mussten wir diesen zusammen festlegen - und klebten sie auf ein Blatt. Ich schrieb in Großbuchstaben darauf, worauf wir uns geeinigt hatten, und ordnete die Blätter alphabetisch.
Mit den ersten Blättern konstruierten wir so den Einstieg in unser Lexikon. Die Kinder waren derart eifrig, dass ich nicht nachkommen konnte. Sie palaverten ständig darüber, was sie in den Materialien fanden, und kreisten so die Lexikonbeiträge von sich aus definitorisch ein.
Mich überraschte völlig, dass einige Kinder großes Interesse daran hatten, die Bezeichnung für den aufgeklebten Gegenstand selbst zu schreiben. Ein türkisches Mädchen bat mich darum - und sie machte es wunderbar, auch wenn der eine oder andere Buchstabe nicht ganz korrekt war. Ich dachte mir: Explizit und systematisch wird das Interesse eigentlich nicht im Kindergarten aufgegriffen. Welch ein Jammer, diese Neugierde unbeachtet zu lassen! Ich erinnerte mich an die Äußerung von Dorle Moss, der Kindergartenleiterin aus Colorado Springs in den USA, dass sie damit begonnen hätten, die Bezeichnungen von Gegenständen im Raum der Gruppe mehrsprachig an die Gegenstände zu kleben (Englisch, Spanisch). So könne jedes Kind, hatte sie gesagt, sich selbst mit der Schrift auseinander setzen.
In weiteren Treffen vervollständigten wir das Buch. Jetzt haben die Kinder ihr eigenes Buch, das eine besondere Funktion unter all den Büchern der Einrichtung erfüllt.
Wettbewerb der Stiftung Lesen
Dem Leiter der Einrichtung kam schließlich die Idee, das gesamte Projekt zu dokumentieren und an einen Wettbewerb der Stiftung Lesen zu senden, bei dem es um Sprachförderprojekte ging. In wochenlanger Kleinarbeit stellte er alle Planungen und Aktionen sowie Presseberichte zusammen und schickte die Unterlagen an die Ausrichter des Wettbewerbs.
Wiederum nach Wochen erhielt die Kita die Nachricht, dass sie aus Tausenden von Einsendungen unter die ersten 100 gekommen waren. Sie erhielt eine Auszeichnung! Nun möchte sich die Sozialdezernentin der Stadt mit den Kindern und dem Team der Einrichtung für die Presse fotografieren lassen. Selbstverständlich auch die Bürgermeisterin.
Info und Kontakt
Städtische Kita KIKINON
Nonnenbusch 93
45770 Marl
Tel.: 02365/84370
Email: claudius.net@t-online.de