Das zeitgenössische BilderbuchChancen literarischen, bildlichen und medialen Lernens

Eva-Maria Dichtl und Claudia Vorst

In Kindertageseinrichtungen gehören Bilderbücher zum festen Bestandteil alltäglicher Bildungs- und Sozialisationsprozesse und gelten als Türöffner in die Welt der Literatur. Bevorzugt werden meist Werke aus dem bewährten literarischen Kanon und eher traditionell auftretende Neuerscheinungen. Beliebt sind Longseller wie Der Regenbogenfisch (Pfister 1992), bei denen zum einen Bildsprache und Bild-Text-Verhältnis als kindgerecht eingeschätzt, zum anderen die klassischen Themen rund um Freunde, Familie und die eigene Entwicklung nicht zu innovativ variiert werden. Hinzu kommen Klassiker wie Frederick (Lionni 1967) oder Die kleine Raupe Nimmersatt (Carle 1969), deren Bildsprache einst in hohem Maße innovativ war, was aber heute angesichts einer veränderten bildnerischen und medialen Sozialisation nicht mehr so wahrgenommen wird.

Die Bilderbücher werden sorgsam ausgewählt, inhaltlich gezielt zur Unterstützung der sozialen und persönlichen Entwicklung der Kinder verwendet und zur sprachlichen Förderung eingesetzt. Damit einher gehen methodische Arrangements, in denen Kinder zumeist der vorlesenden Erwachsenenstimme lauschen, zwischendurch ihre eigenen Imaginationen äußern dürfen und aufgefordert werden, gezielt zu den Bildern zu erzählen.

Dass gerade das moderne Bilderbuch über das Geborgenheit vermittelnde Vorleseritual oder die Funktionalisierung als Sprechanlass hinaus noch vielfältige weitere Chancen bietet - für literarische, bildliche, mediale Lernprozesse - ist vielen Erzieher/innen und Lehrkräften weniger bewusst; oft mangelt es auch an methodischem Wissen, wie adäquat und gewinnbringend mit den neuartigen Bildsprachen und Bild-Text-Korrespondenzen umgegangen werden könne. Der folgende Beitrag erläutert deshalb wichtige Neuerungen und gibt Impulse zu ausgewählten Werken, die an deren spezifische Lernchancen anschließen (zur Methodik der Bilderbuchbetrachtung generell verweisen wir auf bereits publizierte und bewährte methodische Anregungen und Modelle, vgl. beispielsweise Schlinkert o.J.).

Das zeitgenössische Bilderbuch

Während im traditionell gestalteten Bilderbuch, vor allem dem für jüngere Adressaten, Bild und Text weitgehend parallel erzählen, weisen zeitgenössische Werke vielfältige Spielvarianten zwischen Bild und Text auf. Im deutschsprachigen Raum zeigen sich erste Brüche mit klassischen Vorstellungen von der Bild-Text-Erzählstruktur sowie vom kindgemäßen Bild und Inhalt vor allem in den Bilderbuchproduktionen der 1980er- und 1990er-Jahre. So lösen sich beispielsweise Wolf Erlbruch und Nikolaus Heidelbach von stereotypen Vorstellungen vom Kindgemäßen. Heidelbach entwickelt bereits seit 1982 im Anschluss an problemorientierte Themen der 1970er-Jahre sehr eigenwillige, realistische, keineswegs niedliche Kinderfiguren, deren komplexe Charaktere zum Kichern, zu Widerspruch oder Mitgefühl herausfordern (z.B. Das Elefantentreffen oder 5 dicke Angeber, 1982; aktuell: 13 Geschichten von Bösen und Wichten für Neffen und Nichten, 2013). Erlbruch gestaltet neben witzigen Geschichten wie beispielsweise Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat (Erlbruch 1990) auch komplexere Erzählungen in Bild und Text von kindlichen Ängsten und Konflikten wie in Leonard (1991) oder Ente, Tod und Tulpe (2007) und begründet eine bis heute immer wieder kopierte Bildsprache unter Verwendung collagierter Papiere und Bildzitate unterschiedlichster Herkunft, die mit Buntstift, Kreide oder Tusche überzeichnet und neu arrangiert werden.

Die Verwendung vor allem von Zitaten aus Medien und Bildender Kunst kennzeichnet das Werk vieler zeitgenössischer Illustratoren, von Anthony Browne über Isabel Pin bis Michael Sowa. Dabei handelt es sich nicht nur um die bekannte Mehrfachcodierung oder Doppelsinnigkeit von Kinderliteratur, diesen Bedeutungsüberschuss, der nur von mitlesenden oder -schauenden Erwachsenen verstanden werden kann bzw. soll. Die Bilderbuchkünstler tragen damit vielmehr auch der Tatsache Rechnung, dass die kindliche visuelle Wahrnehmung eine medial geprägte ist (vgl. die Illustratorenbefragung bei Oetken 2008). In eine ähnliche Richtung führen zum einen Pop-up-Bilderbücher mit interaktiven Angeboten zum Klappen und Drehen, zum anderen Bücher mit verschiedenen Enden (bildsprachlich konventionell: Mats und die Wundersteine. Eine Geschichte - zwei Enden von Marcus Pfister; ästhetisch komplexer, aber bildsprachlich erfahrungsgemäß vielen Erwachsenen zu schroff: Bertas Boote. Eine Geschichte mit drei Enden in Bildern und Worten von Wiebke Oeser) oder auch Werke mit parallelen Bildgestaltungen, aus denen es auszuwählen gilt. Sie stellen quasi hypertextuelle Verlinkungen auf Papier dar.

Eine solche Möglichkeit, Kinder ihre eigene Bildgestaltung im Bilderbuch wählen zu lassen, bietet das Bilderbuch Bärensache (2008) von Heinz Janisch. Drei Illustratorinnen, Helga Bansch, Daniela Bunge und Manuela Olten, haben Janischs Text vom Bären in ihren jeweils eigenen Bildsprachen interpretiert. So können die Kinder sich die Geschichte mit den von ihnen präferierten Bildern vorlesen lassen bzw. die Wirkung der Bildgestaltung im Vergleich der unterschiedlichen Illustrationen bewusst wahrnehmen.

In vielfältigen Bild-Text-Bezügen löst sich das ästhetisch anspruchsvolle Bilderbuch von der traditionellen Parallele von Bild und Text und schafft im Wechselspiel spannungsvolle Leerstellen und Irritationen, die zu einer vertieften Rezeption einladen. In Ein Buch für Bruno (1997) verlagert Heidelbach nach der Exposition das Erzählen ausschließlich auf die Bildebene. Der Leser steigt mit den beiden Protagonisten in das Abenteuer des Buches, taucht ein in eine mittelalterliche Fantasiewelt und rettet gemeinsam mit Bruno Ulla vor einem Drachen.

Ästhetisch komplexe Bilderbücher erweitern die traditionellen Vorstellungen der Bild-Text-Erzählstruktur um eine Vielfalt an unterschiedlichen Bezügen. Mal erzählt das Bild den Inhalt, mal der Text, mal widersprechen Text und Bild einander. Auch Schriftgestaltung und Malweise können die Geschichte formal miterzählen (vgl. Wildeisen 2013). Andere Werke verzichten gleich ganz auf den Text, wie etwa die Hühnerdieb-Trilogie von Béatrice Rodriguez (Der Hühnerdieb - Das Zauberei - Das Hühnerglück; Rodriguez 2008-2012), und präsentieren eine oder mehrere fortlaufende Geschichten als textlose Narration.

Hierin stecken Chancen, Kinder auf unsere bilddominierte Gesellschaft vorzubereiten (vgl. Niehoff 2007), haben doch gerade in Bereichen wie der Werbung Bilder Texte längst überholt und dominieren die damit intendierten Botschaften. Kinder, als kleine und dabei nicht unwesentliche Konsumenten unserer Gesellschaft, müssen verstehen, dass Bilder gezielt genutzt werden und dabei keineswegs immer die Wirklichkeit abbilden. Sie werden konstruiert, um damit Wirkungen, Gefühle und Einstellungen zu wecken. Diesen Einflüssen sind Kinder tagtäglich ausgesetzt. Im ästhetisch komplexen Bilderbuch bieten sich Chancen, Kinder auf das Erzählmedium Bild aufmerksam zu machen, ihnen individuell bedeutsame und literarästhetische Erfahrungen zu ermöglichen (vgl. Thiele 2003). Sie können die bewusste Wirkung konstruierter Bildwelten untersuchen und mit dem Text in Beziehung setzen. Die neuesten Ergebnisse der KIM-Studie (2012) bestätigen, wie stark die Ersterfahrungen von Kindern mit Bildern von der visuellen Flut des Fernsehens geprägt sind; ab einem Alter von drei Jahren nutzen sie es regelmäßig. Im Bilderbuch als langsamerem Medium bekommen sie die Chance innezuhalten, zu verweilen und bei Bedarf noch einmal zurückzublättern.

Trotz der genannten Entwicklungen dominieren, mit bedingt durch Einzelhandel und Empfehlungslisten einschlägiger E-Commerce-Händler, traditionelle Vorstellungen vom Kindgemäßen das Bilderbuch und bestimmen dessen Bild und Inhalt; darauf weisen Ergebnisse einer aktuellen Vorstudie von Eva-Maria Bertele im Elementarbereich hin. Kunstpädagogische Untersuchungen darüber, welche Bilder Kinder tatsächlich bevorzugen, welche Bildstile sie präferieren oder ablehnen, kommen zu dem Schluss, dass kindliche Bildpräferenzen biografisch und soziokulturell verankert sind (vgl. Kirchner 1999; Uhlig 2007). Ein allgemein gültiger Kriterienkatalog geeigneter Bilder und Bildstile für Kinder lässt sich daher gar nicht erstellen; statt von kindgemäßen sollte lieber von kindgerechten Darstellungen gesprochen werden (vgl. Lieber/ Flügel 2009). Beim Blick in Buchhandlungen und Büchereien scheint es trotzdem immer noch einen heimlichen Kanon an kindgemäßen Bildern zu geben, die der Buchmarkt nutzt: farbige Bilder, neutrale, flächige Hintergründe, malerische Bildstile, klare Konturierungen, einfache Bildkompositionen und eindeutige Bildinhalte.

Ähnlich traditionell gestaltet sich oft (so beobachtet in schulischen Kontexten) die Vermittlung des Bilderbuches; Literaturvermittler/innen orientieren sich nach wie vor dominant an klassischen Rezeptionsweisen wie dem monologischen Vorlesen und Wiederentdecken des Gehörten auf den Bildern (vgl. Kruse 2012). Hier wird deutlich, dass dem Bild kein eigener Erzählraum zugestanden wird. Das Bild illustriert ja, so die unausgesprochene Meinung der Vorlesenden, eigentlich nur das, was im Text bereits beschrieben wurde. Chancen, Zusammenhänge zwischen Text und Bild zu prüfen, zu entdecken und die Bedeutung im Beziehungsgeflecht zwischen Bild und Text beim gemeinsamen Betrachten und Vorlesen auszuhandeln, werden nicht ausreichend genutzt.

Je nach Bilderbuch können nämlich Kinder mithilfe der Bilder den Fortgang der Geschichte antizipieren, die Geschichte nur durch die Bilder erzählen oder anhand der Bilder über die Gefühle der handelnden Figuren nachdenken. Durch das Sprechen über eigene Erfahrungen können die Kinder die Perspektive der Figuren übernehmen und sich in die Situation hineindenken. Bereits im Kindergarten verfügen Kinder über visuelle Fertigkeiten, so genannte erste visuelle Codes (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012), und literarische Muster. Die Aktivierung dieser individuellen Erfahrungen unterstützt das literarische und bildliche Verstehen im Bilderbuch.

Welche Chancen bieten diese vielfältigen Wechselspiele zwischen Bild und Text? Zu welchen Gesprächen und Handlungen laden sie Kinder und Erwachsene ein? Nachstehend sollen an ausgewählten Beispielen Lernchancen des Erzählens in Bild und Text deutlich werden.

Bitte anstellen zum Wellenreiten der besonderen Art

Tomoko Ohmura: Bitte anstellen!
Frankfurt am Main: Moritz, 3. Aufl. 2012

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Die Situation des enervierenden Schlangestehens vor Achterbahn oder Schiffschaukel ist weidlich bekannt. 50 Tiere, der Größe nach sortiert, harren in diesem Bilderbuch darauf, endlich an die Reihe zu kommen. Während das Wiesel noch gar nicht weiß, was ihm bevorsteht, können es Gecko und Maus nicht erwarten, erneut auf dem Rücken des Wals zu reiten. Nur das ängstliche Schaf blockiert das gleichmäßige Voranschreiten der Reihe und muss von der Möwe zurechtgewiesen werden: "Bitte aufrücken!" Und auch sonst hat die kleine Möwe alle Hände voll damit zu tun, die wartenden Tiere zu beruhigen, zu vertrösten oder mit etwas Nahrhaftem zu versorgen.

Nachdem alle 50 Tiere auf dem Walrücken Platz gefunden haben (dargestellt auf einer aufklappbaren Doppelseite) beginnt der Wellenritt der besonderen Art. Auf einen Riesenslalom mit Looping und Tauchgang folgt der krönende Abschluss mit dem Tanz auf der Walfontäne. Glücklich und voller Euphorie verlassen die Tiere das Wal-Gefährt.

Didaktisch-methodische Perspektiven zu literarischen Lernprozessen

Tomoko Ohmura verlagert das Erzählen auf die bildliche Ebene. Das eigentliche Geschehen erzählen die Bilder, die durch Sprechblasen der Tiere oder Schilder unterstützt und ausdifferenziert werden.

Als Einstieg in die Geschichte können die Aussagen der wartenden Tiere genutzt werden, um auf die Situation des Schlangestehens aufmerksam zu machen. Gemeinsam kann überlegt werden, auf was die Tiere wohl warten und wofür sie sich anstellen. Wovor könnte das Schaf Angst haben und worauf freuen sich der Gecko und die Maus? Die Kinder antizipieren und bilden erste Vorstellungen zum Inhalt des Textes.

Es bietet sich an, die spielerischen Elemente des Wartens handlungsorientiert mit Kindern nachzustellen. Die Ideen der Tiere im Buch können genutzt werden, um sich das Warten zu vertreiben. Beim Wetthochspringen wird ermittelt, wer am höchsten springt. Bei der Wörterkette versuchen die Kinder, die Aufeinanderfolge nicht unterbrechen zu lassen (Schulkinder - Kindergarten - Gartenschuhe - Schuhschrank etc.). Dabei fühlen sich die Kinder in die Situation des Wartens ein, nehmen unterschiedliche Perspektiven ein, wie die des ängstlichen Schafes, der hibbeligen Maus oder des müden Krokodils. Dabei können sie eigene Erfahrungen des Wartens einfließen lassen.

Desgleichen lässt sich der Wellenritt spielerisch als Bewegungsparcours umsetzen. In einer Rennstrecke mit Slalom (Lauf um Hindernisse) und Tanz auf der Fontäne (Trampolin oder Weichbodenmatte) kann der spannende Ritt nacherlebt werden.

Zum Abschluss berichten die 'Tiere' von ihrem Ritt durch den Parcours. Dabei soll deutlich werden, dass ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden. Das 'Schaf' hat sicherlich die eine oder andere Angstträne vergossen, während der kleine 'Gecko' nicht genug vom Nervenkitzel bekommen hat. So stoßen die Kinder auf bekannte und neue Empfindungen und schulen ihre Toleranz für andere Erfahrungen und Gefühle.

Gefühlschaos in der Fischwelt

Mies van Hout: Heute bin ich
Baar: aracari, 6. Aufl. 2012

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Mies van der Hout spiegelt in ihrem Bilderbuch menschliche Gefühle in Form von Fischen wider. Jede Doppelseite zeigt eine Gefühlslage in Wortbild und passender Fischdarstellung. Gerade den sonst an Mimik und Gestik eher armen Fischen beschert die Autorin und Illustratorin eine Lebendigkeit, die in Bild- und Schriftgestaltung Ausdruck findet. So zeigt sie einen verwirrten Fisch, dessen Wortbild verschwimmt und dessen Darstellung sich nahezu auflöst, oder einen bösen Fisch, mit kräftigem, mehrfach geschriebenem Begriff, kräftigen Farben und energischer Strichführung. Das Bilderbuch lädt Kinder und Erwachsene zum gemeinsamen Staunen und Entdecken ein. Was hat den Fisch nur so zornig gemacht? Wovon fühlt sich der blaue Fisch gelangweilt, und warum nur ist der lange Fisch so schrecklich nervös?

Didaktisch-methodische Perspektiven zu bildlichen Lernprozessen

Der Titel nimmt den Umgang mit dem Buch eigentlich vorweg: "Heute bin ich... Und wie fühlst du dich?" Dieses Buch kann in Ermangelung eines fortlaufenden Erzähltextes nicht traditionell vorgelesen werden. Sein Inhalt entsteht im gemeinsamen Aushandeln der Bedeutungen und Wirkungen. Großzügig angelegt, eignet sich das Bilderbuch zum genauen Betrachten der Bilder in der Klein- und Großgruppe.

So entdecken Erwachsene und Kinder gemeinsam die Gefühlswelt der Fische. Die reduzierten Doppelseiten laden ein, über die Auslöser der Gefühle zu sprechen und auf eigene Erfahrungen der Kinder zu beziehen. Dabei werden die Aussagen der Kinder immer wieder auf die Gestaltungsweise der Bilder bezogen, um Zusammenhänge zwischen Farbigkeit, Malweise, Größe, Bildkomposition und intendiertem Gefühl aufzuzeigen. So unterscheidet sich der wütende Fisch durch seine kontrastreiche Farbigkeit und aggressive, harte Strichführung vom ängstlichen Fisch mit seinen zurückhaltenden Farben und weichen Konturen.

Auch ohne das Wortbild wird die Gefühlslage durch die spezifische Gestaltungsweise deutlich und kann von den Kindern benannt und mit eigenen Erfahrungen beschrieben werden. Als Bildkarten lassen sich die Fische paarweise sortieren oder Plakaten mit positiven und negativen Gefühlen zuordnen. Darüber hinaus können sie als Stimmungsbarometer genutzt werden, indem die Kinder ihr Foto dem entsprechenden Fisch zuordnen dürfen. In eigenen Zeichnungen können Strichstärke, Farbauswahl und -auftrag die eigene Gefühlslage widerspiegeln und sogenannte Stimmungsbilder entstehen.

Vielfältige Sprechanlässe, das genaue, analysierende Sehen sowie Perspektivwechsel zeichnen die didaktischen Chancen im Umgang mit diesem Bilderbuch ebenso aus wie die veränderte Haltung der Erzieherin beim gemeinsamen Betrachten und Staunen.

Mobile - Freundschaft nach wilden Suchbewegungen

Verena Fels: Mobile. Eine Kuh auf der Suche nach Freundschaft
Stuttgart: Thienemann 2011 (mit DVD)

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Eine Kuh hängt allein links am Mobile und garantiert durch ihr Gewicht, aber um den Preis der eigenen Einsamkeit, dass Hund, Hühner, Schwein, Schafe und Maus auf der rechten Seite ausbalanciert hängen können. Die anderen Tiere lehnen deshalb alle ihre Kontaktversuche ab - bis auf die winzige Maus, die ihr fröhlich zuwinkt. Aber: Wie sollen nun Kuh und Maus zueinander kommen? Ohne Kraftanstrengungen, wilde Bewegungen und entsprechende Verwicklungen geht dies nicht ab, das Mobile löst sich auf... Endlich sind alle Tiere neu geordnet, das Gleichgewicht ist wieder hergestellt, die Freunde sind glücklich vereint.

Mobile war zuerst ein vielfach preisgekrönter Animationskurzfilm und wird mittlerweile als kleiner Medienverbund, gemeinsam mit einem nachträglich entwickelten Bilderbuch (mit Versen von Marcus Sauermann), vermarktet (vgl. Vorst 2013).

Didaktisch-methodische Perspektiven zu (inter)medialen Lernprozessen

Für Buch und Film gilt: Erzählimpulse zum Thema Freundschaft vs. Ausgestoßensein liegen bei Mobile auf der Hand: Wie fühlt sich die Kuh, als sie merkt, dass niemand sie mag? Woran siehst du, dass Hund, Hühner, Schafe und Schwein sie ablehnen? Was könnten die Tiere (die weder im Film noch im Buch sprechen) wohl zu ihr sagen? Ein vorausgehender Arbeitsauftrag zum Film könnte lauten, eine der Tierfiguren genau zu beobachten, ihre Stimme zu imitieren, etwas auf 'Hündisch' oder in 'Hühnersprache' zu sagen (evtl. Ton hierzu stumm schalten). Die witzigen Verse im Bilderbuch bieten sich zum rhythmischen Mitsprechen an, begleitet mit entsprechenden Bewegungen: "Es kippt und wippt, / es fällt und schnellt, / es propellert und karussellert, / [...] Einmal herum, zweimal herum, / dreimal herum, und - bumm..." (Mobile, S. 17).

Besondere Lernchancen birgt überdies der Vergleich zwischen Film und Bilderbuch, die Reflexion der je unterschiedlichen Darstellungsästhetiken. So können auch Vorschulkinder, die aus ihrer familiären Medienrezeption Trickfilme kennen, schon gut benennen, wie der Film Spannung erzeugt, ohne dabei Begriffe wie Perspektive, Kippbewegungen, Atmosphäre und Musik zu verwenden. Ein Bilderbuch kennt keine bewegten Bilder, dieses hier setzt aber die wilden Bewegungen des Films überzeugend um: Wie schafft es das? Welche Seiten könnten aus dem Film abfotografiert sein, wo hat sich etwas verändert? So wurden beispielsweise an manchen Stellen - zurückhaltend - Bewegungslinien hinzugefügt oder auf einer pluriszenischen Seite eine Art 'Bewegungstorte' mit einzelnen Segmenten erfunden. Aber: Anders als beim Film kann hier immer wieder zurückgeblättert und angehalten werden.

Der Medienverbund Mobile bietet vielerlei tiefgründige Gesprächsanlässe über existenzielle Bedürfnisse und Ängste, daneben aber auch Chancen zum verlangsamten Sehen, zum Nachspielen (mit eigenen Kuscheltieren), zur spielerischen Analyse von Animationsfilmen und zum Vergleich zweier Medien, die in der literarischen Sozialisation von Vorschulkindern eine wichtige Rolle spielen.

Ausblick

Die ausgewählten Bilderbücher mit ihrer Vielfalt an neuen Bild-Text-Strukturen zeigen exemplarische Chancen literarischen, bildlichen und medialen Lernens auf. Nicht explizit ausgeführt wurden hierbei die Chancen sprachlicher, personaler und sozialer Förderung, die selbstverständlich auch mit Hilfe der lieb gewonnenen traditionell angelegten Werke weiterhin verfolgt werden sollten. Die didaktischen Perspektiven sind Anregungen, neue Bildsprachen unvoreingenommen zu entschlüsseln und mit vielleicht gewohnten Vorstellungen zum Bilderbuch zu brechen. So haben schlussendlich auch Erwachsene die Chance, im gemeinsamen Entdecken und Staunen aktiv am Bilderbuch teilzuhaben.

Bilderbücher

Bei allen Büchern wurde das Jahr der Originalausgabe (OA) vermerkt. Die weitaus meisten älteren Werke sind auch heute noch - in neueren Auflagen - bestellbar.

Carle, Eric (OA 1969): Die kleine Raupe Nimmersatt. Hildesheim: Gerstenberg

Erlbruch, Wolf (OA 1990): Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat. Wuppertal: Peter Hammer

Erlbruch, Wolf (OA 1991): Leonard. Wuppertal: Peter Hammer

Erlbruch, Wolf (OA 2007): Ente, Tod und Tulpe. München: Kunstmann

Fels, Verena (OA 2011): Mobile. Eine Kuh auf der Suche nach Freundschaft. Text von Marcus Sauermann. Stuttgart: Thienemann (Bilderbuch mit DVD)

Heidelbach, Nikolaus (OA 1997): Ein Buch für Bruno. Weinheim, Basel: Beltz & Gelberg

Heidelbach, Nikolaus (OA 2013): 13 Geschichten von Bösen und Wichten für Neffen und Nichten. Weinheim, Basel: Beltz & Gelberg

Heidelbach, Nikolaus (OA 1982): Das Elefantentreffen oder 5 dicke Angeber. Weinheim, Basel: Beltz & Gelberg (vergriffen, antiquarisch erhältlich)

Hout, Mies van (OA 2012): Heute bin ich. Baar: aracari

Janisch, Heinz (Text)/Bansch, Helga/Bunge, Daniela/Olten, Manuela (Ill.) (OA 2008): Bärensache. Zürich: Bajazzo

Jeram, Anita/McBratney, Sam (OA 2000): Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab? Aarau: Sauerländer

Lionni, Leo (OA 1967): Frederick. Weinheim: Beltz & Gelberg

Oeser, Wiebke (OA 1997): Bertas Boote. Eine Geschichte mit drei Enden in Bildern und Worten. Wuppertal: Peter Hammer (vergriffen, antiquarisch erhältlich)

Ohmura, Tomoko (OA 2012): Bitte anstellen! Frankfurt am Main: Moritz

Pfister, Marcus (OA 1992): Der Regenbogenfisch. Zürich: Nord-Süd-Verlag

Pfister, Marcus (OA 1997): Mats und die Wundersteine. Zürich: Nord-Süd-Verlag

Rodriguez, Béatrice (OA 2008): Der Hühnerdieb. Wuppertal: Peter Hammer [Folgebände: Das Zauberei - Das Hühnerglück]

Literatur

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) (2013): KIM-Studie 2012: Kinder + Medien, Computer + Internet. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6-bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart: Selbstverlag, http://www.mpfs.de/fileadmin/KIM-pdf12/KIM_2012.pdf (30.05.13)

Kirchner, Constanze (1999): Kinder und Kunst der Gegenwart: Zur Erfahrung mit zeitgenössischer Kunst in der Grundschule (Diss.). Seelze: Kallmeyer 1999

Kruse, Iris (2012): Gut vorlesen: Textpotenziale entfalten. In: Pompe, Anja (Hrsg.): Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen - Empirische Befunde - Unterrichtspraktische Entwürfe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 102-121

Kümmerling-Meibauer, Bettina (2012): Bilder intermedial: Visuelle Codes erfassen. In: Pompe, Anja (Hrsg.): Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen - Empirische Befunde - Unterrichtspraktische Entwürfe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 89-101

Lieber, Gabriele/Flügel, Birgit (2009): Kindgemäß oder kindgerecht? - Über den (Un-)Sinn "kindgemäßer" Auswahl und Gestaltung von Bildern und bildgestützten Medien. In: Lieber, Gabriele/Jahn, Ina Friederike/Danner, Antje (Hrsg.): Durch Bilder bilden. Empirische Studien zur didaktischen Verwendung von Bildern im Vor- und Grundschulalter. Baltmannsweiler: Schneider, S. 28-39

Niehoff, Rolf (Hrsg.) (2007): Denken und Lernen mit Bildern. Interdisziplinäre Zugänge zur Ästhetischen Bildung. München: kopaed (Kontext Kunstpädagogik, 12)

Oetken, Mareile (2008): Bilderbücher der 1990er Jahre. Kontinuität und Diskontinuität in Produktion und Rezeption (Diss. Universität Oldenburg). http://oops.uni-oldenburg.de/747/1/oetbil08.pdf (30.05.13)

Schlinkert, Heinz: Zur Methodik der Bilderbuchbetrachtung. In: Martin R. Textor (Hrsg.): Kindergartenpädagogik: Online-Handbuch. http://www.kindergartenpaedagogik.de/513.html (30.05.13)

Thiele, Jens (Hrsg.) (2003): Das Bilderbuch. Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Bremen: Aschenbeck & Isensee, 2., erw. Aufl.

Uhlig, Bettina (2007): Welche Bilder interessieren Kinder? Eine Revision angeblich kindgemäßer Bilder. In: Impulse. Kunstdidaktik, Heft 1, S. 3-10

Vorst, Claudia (2013): Bunte Kuh aus der Balance. Kurzfilm und Bilderbuch Mobile von Verena Fels im medienintegrativen Deutschunterricht. In: Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule, 14, H. 1, S. 23-39

Wildeisen, Sarah (2013): Kunst am Bilderbuch. Aspekte einer bildfokussierenden Bilderbuchanalyse. In: kjl&m, 65, H. 1, S. 3-10

Autorinnen

Der Artikel entstand aus einer gemeinsamen Lehrveranstaltung der Autorinnen zur "Entwicklung von Literarität im Elementarbereich" im BA-Studiengang Kindheitspädagogik der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

Eva-Maria Dichtl M.A. ist Grundschullehrerin und seit April 2012 als Akademische Mitarbeiterin am Institut für Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd tätig. Sie arbeitet an einer Dissertation mit dem Arbeitstitel Das zeitgenössische Bilderbuch - Chance und Herausforderung im Professionalisierungsdiskurs von (Kindheits-) PädagogInnen.

Prof. Dr. Claudia Vorst war Grundschullehrerin und Konrektorin an einer Modellschule des Landes Nordrhein-Westfalen und führte universitäre Lehraufträge und Lehrerfortbildungen durch. Seit Oktober 2010 ist sie Professorin für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Kinder- und Jugendliteratur, ihre Medien und ihre Didaktik.

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