Das Kamishibai Erzähltheater

Susanne Brandt

Das Kamishibai steht in der langen Tradition einer visuellen Erzählkunst in Japan. Vorläufer dieser besonderen Form des bildgestützten Erzählens lassen sich dort mindestens bis ins 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückverfolgen.

Von seiner zusammengesetzten Wortbedeutung her ist das Wort "Kamishibai" am besten mit "Papiertheater" (kami = Papier, shibai = Theater) zu übersetzen. Damit sind tatsächlich zwei wesentliche Eigenschaften benannt: Papier ist immer mit im Spiel, und zwar in Form von stabilen Bildkarten oder -streifen, mit denen die einzelnen Szenen eines Geschehens illustriert werden. Und der bühnenartige Kamishibai-Rahmen, in dem die szenischen Bilder in besonderer Weise zur Geltung kommen wie auch die engagierte Präsenz des Erzählers, lassen tatsächlich an eine Theatersituation denken. Das Wort "Papiertheater" findet in unserem Sprachgebrauch jedoch eher Verwendung für Spielformen mit beweglichen Papierfiguren. Diese aber bilden bei der Arbeit mit Kamishibais nur eine von vielen möglichen Varianten.

In Deutschland ist daher eher das Wort "Erzähltheater" für Kamishibais geläufig. Denn charakteristisch für Kamishibais ist das Erzählen oder Vorlesen zu stehenden Bildern, die im Verlauf einer Geschichte wechseln, nach und nach in Ruhe wirken und die Kraft der inneren Bilder stützen können. Das Kamishibai bezeichnet also einen theaterartigen Rahmen oder Kasten (meistens aus Holz oder Pappe), der diesen Bildern Halt verleiht und die Blicke der Zuschauenden auf das dargestellte Geschehen lenkt.

Im Ursprungsland Japan erlebte das Kamsihibai in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als populäres "Straßenvergnügen" eine erneute und wiederum ganz andere Nutzung und Blütezeit: Nun gehörten Kamishibai-Rahmen aus Holz zur Ausstattung von "rollenden Süßigkeiten-Buden". "Kamishibai-Männer" fuhren mit ihren Fahrrädern über Land, riefen mit klappernden Holzklötzen die Kinder herbei, präsentierten dann mit Papierbildern im Kamishibai eine Geschichte und kurbelten so den Verkauf ihrer Süßigkeiten an. Man könnte die Tradition der Bildergeschichten in Japan weiterverfolgen bis hin zur heutigen Manga-Kultur, die wiederum ihre eigenen Medien und Verbreitungsformen gefunden hat.

Das Kamishibai in seiner "Straßenkino-Form" der reisenden Händler verlor mit der wachsenden Beliebtheit von Fernsehgeräten in den 1950er Jahren an Attraktivität - bis die Internationale Kinderbuchmesse in Bologna rund 25 Jahre später das Thema neu vor allem im Kreise von Vermittlern von Kinderliteratur ins Gespräch brachte, das Kamishibai nun auch in Europa und den USA bekannt machte und hier wiederum ganz neue Formen und Einsatzmöglichkeiten entstehen ließ.

Wie bei jedem Medium - ob Fernseher, Computer, Radio oder Buch - lassen sich mit Blick auf die Praxis Eigenschaften und Chancen nennen, die das Besondere dieses Mediums ausmachen:

1. Das Kamishibai führt Menschen und Talente zusammen

Die szenische Erzählweise mit Kamishibai eröffnet besondere Chancen für kreative und ästhetische Gruppenerlebnisse - beim Zuschauen ebenso wie beim Gestalten und Vorführen. Von der Bildgestaltung bis hin zum Erzählen lassen sich viele verschiedene Talente für die Darstellung einer Geschichte mit Kamishibai nutzen: malen, zeichnen, sprechen, singen, spielen, dichten, schreiben, fantasieren...

Respekt und Anerkennung für verschiedene Ideen und Ausdrucksformen, gegenseitiges Vertrauen und Behutsamkeit im Umgang mit Gefühlen, aber ebenso die Freude am gemeinsamen Ergebnis und am ästhetischen Erlebnis bringen viele soziale Aspekte mit ins Spiel.

2. Bilder sind gute Begleiter

Das Nebeneinander von Bildmedien und persönlicher Vermittlung bewirkt einen doppelten Effekt: Im Mittelpunkt steht nicht ein "lebloses Medium", sondern die Vermittlung geschieht dialogisch und persönlich in großer Nähe zu den Zuschauenden und Zuhörenden. Gleichzeitig werden aber auch Erzählhemmungen, Schüchternheit und mögliche Ängste beim freien Sprechen dadurch gemildert, dass sich der oder die Erzählende nicht so "allein" fühlt vor dem Publikum. Die Bilder erweisen sich hier als verlässliche Begleiter, hinter denen sich niemand verstecken muss, neben denen sich aber jeder gestützt fühlen darf.

3. Körper-, Bild- und Sprachausdruck entwickeln sich in einem lebendigen Wechselspiel

Körperausdruck, bildkünstlerischer Ausdruck und Sprachausdruck treten bei Kamisbibai in ein interessantes Wechselspiel, das verschiedene Akzente zulässt, aber nur in guter Balance gelingt. Der oder die Erzählende als Person mit individueller Stimme, Mimik, Gestik und Ausstrahlung ist in diesem Ensemble nicht weniger wichtig als die Botschaft und Sprachqualität des Textes oder die Ausdruckskraft des Bildes. Dabei ist alles auf Dialog ausgerichtet: Reaktionen der Zuhörenden fließen als Teil des lebendigen Wechselspiels mit ein, weil Tempo und Rhythmus des Erzählens mit Kamishibai ganz aus der Situation heraus gesteuert werden.

Es erfordert tatsächlich ein bisschen Übung, den Bilderwechsel mit dem Kamishibai so flüssig und situationsgerecht zu gestalten, dass aus dem natürlichen Miteinander von Bewegung, Sprache, Bild und Dialog ein stimmiger Gesamteindruck entsteht. Dabei liegt in dieser Übung die besondere Chance, für sich eine eigene "Erzählweise" zu finden: Wer sich in einer Geschichte und in dem Erzählen mit Kamishibai und seiner Bilderwelt ganz als Mensch "zu Hause" fühlt, wird das auch durch eine entspannte Körperhaltung zum Ausdruck bringen, den Menschen als Gegenüber offen begegnen und leicht in einen stimmigen Sprach- und Bildrhythmus kommen.

4. Das Kamishibai ist mobil und überall einsetzbar

Von den buddhistischen Wandermönchen, die bereits im 12. Jahrhundert zu mobilen Bildmedien ihre Geschichten erzählt haben, über die fahrradfahrenden Händler bis hin zu heutigen Erzählern mit dem "kleinen Theater" - das Kamishibai ist handlich, braucht weder einen Stromanschluss noch motorisierte Transportmittel und ist überall dort ganz unkompliziert zu nutzen, wo Menschen sich in kleinerer oder größerer Runde versammeln: in Cafés, im Park, in Wohnstuben, im Gruppenraum der Kita...

Egal, ob das Kamishibai nun in erster Linie als pädagogisches Hilfsmittel oder Kunstform verstanden und genutzt wird, ob mehr das Lernen, die Ästhetik oder das Vergnügen im Vordergrund stehen, ob dies in Asien, Lateinamerika, den USA, Europa oder anderswo geschieht - diese vier besonderen Eigenschaften und Chancen des Kamishibais öffnen für alle Länder, Traditionen, Kulturen und Zielsetzungen vielfältige Möglichkeiten.

Anmerkung

Der Kamishibai-Rahmen und ausgewählte Bildkarten zu ganz unterschiedlichen Themen (z.B. Märchen, biblische Geschichte, Bilderbücher, Feste, Musikalisches Erzähltheater, Sachgeschichten) sind hier zu finden.

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