"Spiel-Raum KINDHEIT" in Gefahr - Kinder(t)räume als Grundlage für eine kindorientierte Entwicklung

Armin K. Krenz

"Man gibt immer den Verhältnissen die Schuld für das was man ist. Ich glaube nicht an die Verhältnisse. Diejenigen, die in der Welt vorankommen, gehen hin und suchen sich die Verhältnisse die sie wollen. Und wenn sie sie nicht finden können, schaffen sie sie sich selbst" (George B. Shaw).

Kindheit ist kein Kinderspiel!

Seit über einem Vierteljahrhundert weisen vielfältigste Publikationen und unterschiedliche Wissenschaftler/innen kontinuierlich - fast Jahr für Jahr- auf ein zunehmend stärker werdendes Phänomen hin: das Verschwinden der Kindheiten! So haben Aries (Geschichte der Kindheit, München 1975) und De Mause (Hört ihr die Kinder weinen, Frankfurt 1977), Muchow (Der Lebensraum des Großstadtkindes, Bentheim 1980) und Hengst (Kindheit als Fiktion, Frankfurt 1981), Bleuel (Kinder und die Welt, in der sie leben, Braunschweig 1981) Neumann (Kindsein - Zur Lebenssituation von Kindern in modernen Gesellschaften, Göttingen 1981) und Wingen (Kinder in der Industriegesellschaft - wozu? Zürich 1987), Geulen (Kindheit - neue Realitäten und Aspekte, 1989), Elkind (Das gehetzte Kind, Hamburg 1991), Deutsches Jugendinstitut (Was für Kinder - Aufwachsen in Deutschland, München 1993), Mansel (Glückliche Kindheit - Schwierige Zeit, Opladen 1996), Rolff & Zimmermann (Kindheit im Wandel, Weinheim 1997), Honig (Entwurf einer Theorie der Kindheit, Frankfurt 1999)und Ellneby (Kinder unter Stress, München 2001) neben vielen anderen Autoren Biographien und Lebensbedingungen von Kindern beschrieben, die sich in tausendfacher Wiederholung Tag für Tag in den Lebenswirklichkeiten sehr vieler Kinder widerspiegeln.

"Legt man frühzeitig die Saat von Unsicherheit und Hemmung im Menschen aus, bedarf es später keiner Fesseln, ihm die Hände zu binden" (Kristiane Allert-Wybranietz).

Besonders eindrucksvoll kommen dabei von Kindern erfahrene Lebensbedingungen in dem Handbuch "Kinder - Kindheit - Lebensgeschichte" von Behnken und Zinnecker (Seelze-Velber 2001) und in der weltweit ersten chronologischen Darstellung psychischer Irritationen von Kindern und Jugendlichen "Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen" von Nissen (Stuttgart 2005) zum Ausdruck! Manche Entwicklungspsychologen sprechen immer häufiger von der permanenten Zunahme einer "inneren Heimatlosigkeit" vieler Kinder.

"Jedes Kind hat das Recht zu lernen, zu spielen, zu lachen, zu träumen, zu lieben, anderer Ansicht zu sein, vorwärts zu kommen und sich zu verwirklichen" (Hall-Denis-Report).

Kindheiten vollziehen sich in funktionalisierten Bedingungen

Viele Kinderwelten sind räumlich und durch die Art der Tagesgestaltung massiv eingeengt, viele Kinderzeiten sind von morgens bis abends verplant und durchstrukturiert, viele Perspektiven sind von Erwachsenen für Kinder auf das ferne Ziel 'Zukunft' hin programmiert und damit für Kinder zerrissen, weil sie selbst die Gegenwart erleben und selbst bestimmt erfahren wollen. Vielleicht trifft in diesem Zusammenhang der Text von Peter Maffay exakt zu, wenn Tabaluga singt: "Ich wollte nie erwachsen sein, hab' immer mich zur Wehr gesetzt, von außen wurd' ich hart wie Stein und doch hat man mich oft verletzt. Irgendwo tief in mir bin ich ein Kind geblieben. Erst dann, wenn ich's nicht mehr spüren kann, weiß ich es ist für mich zu spät."

Auch in der Zeitschrift "Psychologie heute" (Ausgabe: Februar 1990) rüttelten schon damals die beiden Leitartikel "Kindheit: organisiert und isoliert" sowie "Kinder im Dauer-Stress" die Öffentlichkeit auf, und 1996 wurde der Fachartikel von Prof. Dr. S. Hebenstreit in der Zeitschrift TPS (5/96) mit der Überschrift "Über das Kind, die Welt und die Zukunft - der Vertreibung von Kindheiten entgegensteuern" viel beachtet. Und schließlich konstatiert Susanne Gaschke in der Zeitung DIE ZEIT (19.04.2000) das "Ende der Kindheit". Viele frühpädagogische Fachkräfte und berufspolitische Mandatsträger konnten die aufgezeigten Gefahren einer völligen Verplanung von Kindheiten nachvollziehen und reagierten entsprechend darauf.

"Solange ich meine Individualität nicht entdecke kann ich keine Beziehung eingehen" (Oskar Wilde).

Doch was ist von dem Versuch, Kindheit als ein eigenständiges Zeitfenster zu begreifen und entsprechend mit Kindern zu erleben, geblieben? Die Praxis zeigt: wenig! In immer mehr frühpädagogischen Einrichtungen scheint es ein "Qualitätsmerkmal" zu sein, möglichst viel mit Kindern zu unternehmen, um Eltern zu verdeutlichen, dass Quantität ein "Qualitätshinweis" zu sein scheint. Und selbst die Aufregung durch die drei PISA-Studien sowie die entsprechenden Nachuntersuchungen brachten es an manchen Orten mit sich, dass nun wieder (alte) Vorschulblätter hervorgezaubert wurden statt gemeinsam draußen zu spielen, ein frühes Leselernen in den Focus rückte statt lebendige Abzähl- und Reimspiele gemeinsam zu erleben, Sprachtrainings als besonders wertvolle Übungseinheiten eingesetzt wurden statt eine lebendig gepflegte Sprachkultur zu pflegen und frühe Legasthenie-Voruntersuchungen dazu führ(t)en, besondere graphomotorische Trainingseinheiten zu initiieren statt auf Bäume zu klettern, Hüpf- und Versteckspiele zur Freude aller zu gestalten. Daneben gab/gibt es Suchtprophylaxe-Programme für Kinder, um sie entsprechend "stark" zu machen, Anti-Gewalt-Trainings zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit anstatt eine sozial-empathische Atmosphäre in der Einrichtung zu kultivieren, kleinere Lehrprogramme zur nach wie vor "bedeutsamen gesunden Ernährung" anstatt einer grundsätzlich sorgsam gepflegten Esskultur, und regelmäßige Waldtage, um bestimmte Natur Vorgänge exemplarisch zu begreifen und weniger die Wunder der Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen.

"Wir mögen die Welt bereisen um das Schöne zu finden, aber wir müssen es in uns tragen - sonst finden wir es nicht" (W. Emerson).

Zunehmend fiel auf, dass "ADS- und ADHS-Kinder" immer mehr Probleme machten und einer "gezielten Therapie" bedurften, ohne sich der Mühe zu unterziehen, die von Kindern gezeigten Verhaltensweisen zu beschreiben und auf eine gleichzeitig vorschnelle Nutzung von medizinisch geprägten Etikettierungen zu verzichten. Und nicht zuletzt wurden bzw. werden unterschiedlichste Curricula entwickelt, die im Sinne einer "Bildungsoffensive" in der Praxis "abgearbeitet" werden (sollen) und unmerklich die frühpädagogische Einrichtungen in eine funktionalisierte Vorschulinstitution verwandeln. Spielmittel und diverse Spielzeugarten werden zunehmend zu Lerngeräten funktionalisiert anstatt das Spiel in seinem grundsätzlichen Ausdruckswert zu genießen, und Außenräume entwickeln sich mancherorts zu gefahrlosen (und langweiligen) Orten, die zwar keine Herausforderung mehr für Kinder bieten, dafür aber vom TÜV/GUV ein Sicherheitssiegel verliehen bekamen.

"Das wichtigste Haus baut sich der Mensch in seiner Seele. Und es ist ein Haus, das nicht im Feuer verbrennt und nicht im Wasser untergeht. Dauerhafter ist es als alle Ziegelsteine und Diamanten" (Fjodor Abramow).

Kinder brauchen Seelenproviant!

Wie entwicklungspsychologisch bekannt, steht bei Kindern zunächst der Auf- und Ausbau der Ich-Kompetenz (Ich-Identität) im Vordergrund, geht es doch hier vor allem um das Verhältnis des Kindes zu sich selbst und um seine Möglichkeiten, sich unter dem besonderen Aspekt der eigenen Interessen und Möglichkeiten mit sich und dem unmittelbaren Umfeld auseinanderzusetzen, zu explorieren und bedeutsame, aufbauende Lebenserfahrungen zu machen, um alle inneren Ressourcen (Potenziale, Talente) zu entdecken.

Du kannst auf drei Arten klug werden:
Erstens durch das Nachdenken - das ist die Edelste.
Zweitens durch Nachahmen - das ist die Leichteste.
Drittens durch Erfahrung - das ist die Bitterste und Beste.
(Chinesisches Sprichwort)

Dieser Ich-Kompetenz wird eine grundlegende Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung einer Ich-Autonomie beigemessen, die dem Kind hilft, (Selbst-) Vertrauen zu sich und zu seinem Handeln zu erlangen. Doch gleichzeitig zeigen o.g. Beobachtungen, dass es offensichtlich vielen Kindern immer schwerer fällt bzw. gemacht wird, diese basale - grundlegende - Entwicklung zu erfahren und persönlich aufzubauen sowie in der eigenen Person stabil zu integrieren. Was dabei gerade in diesem Zusammenhang für die Pädagogik besonders wichtig ist: Entwicklung geschieht stets durch eine vertrauensvoll erlebte Bindung. Erziehung ist gelebte Beziehung! Erinnern wir uns an die große Familientherapeutin Virginia Satir, die einmal sagte: "Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt".

In der aktuellen Entwicklungspsychologie gehen viele Wissenschaftler/innen inzwischen davon aus, dass Kinder in zunehmendem Maße Entwicklungsunterbrechungen erleben/ erlebt haben, die es ihnen nahezu unmöglich machen, so genannte Basisfähigkeiten aufzubauen (genannt seien hier vor allem die Bereiche Selbst-/ Fremdwahrnehmungsbereitschaft, Wahrnehmungsdifferenzierung, Selbstannahme, Erleben von Personstärke, Öffnungsbereitschaft für Selbstexploration, Motivation zur Selbstentwicklung neu zu entdeckender Lernbereiche, Aktivitätsmotivation zum Stressabbau, Wertigkeitssensibilität, Gefühlsexploration, intrinsische Lernmotivation, konstruktives Konfliktmanagement. Inzwischen hat sich gezeigt, dass es so genannte "automatisierte, innere Entwicklungsabläufe" (als ein feststehendes genetisches Programm) im Hinblick auf den Aufbau von Fähigkeiten nicht gibt. Allerdings zeigen Beobachtungsergebnisse, dass spezifische Basisfähigkeiten in Verbindung mit einer qualitativ intensiven Grundbedürfnisbefriedigung in sehr engen Vernetzungen stehen. Gleichzeitig ergeben sich Verhaltensirritationen spezifischer Art aus der Nichtbefriedigung bestimmter seelischer Grundbedürfnisse.

Werden nun Basisfähigkeiten als ein Aufbauprozess und entsprechende Fertigkeiten als eine Ausbauentwicklung dieser Fähigkeiten Sinn verbunden betrachtet, fokussiert sich die notwendige Aufmerksamkeit - auch und gerade in der Frühpädagogik - auf zwei Elemente. Zum einen muss (!) die gesamte pädagogische Didaktik und Methodik so gestaltet werden, dass Kinder in der täglichen Arbeit ihre Grundbedürfnisbefriedigung erleben (können). Zum anderen sind es aber auch bestimmte Verhaltensmerkmale der Erwachsenen, die notwendig sind, dem Anspruch einer bedürfnisgerechten Kommunikation und Interaktion gerecht zu werden.

So stehen jeweils bestimmte Vernetzungen in einer kindorientierten Frühpädagogik im Mittelpunkt: Die Befriedigung basaler Grundbedürfnisse sorgt für einen Entwicklungsaufbau von spezifischen Fähigkeiten bei Kindern (1); die Existenz dieser Basisfähigkeiten führt zu spezifischen kognitiven/ emotionalen/ motorischen/ sozialen Fertigkeiten (2); fehlende Basisfähigkeiten führen zu spezifischen Verhaltensirritationen (3); und eine Grundbedürfnisbefriedigung verlangt nach spezifischen Erwachsenenkompetenzen (4). Doch alles fängt mit einer Kenntnis und Befriedigung der Grundbedürfnisse von Kindern an - diese können entwicklungspsychologisch als "tragende Entwicklungssäulen für den Identitätsaufbau von Kindern" bezeichnet werden, die den Kindern helfen, "Wurzeln" zu entwickeln. In einer der vielen afrikanischen Weisheiten heißt es beispielsweise: "Was nicht in die Wurzeln geht, gelangt auch nicht in die Krone."

Die sechzehn Merkmalsbezeichnungen für die seelischen Grundbedürfnisse lauten: Zeit zur Entdeckung und Stabilisierung eigener Entwicklungsressourcen, Ruhe zur Festigung und Differenzierung von Entwicklungsvorgängen, Liebe i.S. einer personalen Annahme und Bindung, Vertrauen in die eigene Person, in eigene Wertigkeiten, Sicherheit als Motor für eigene Entwicklungsmotivation, Bewegung als bedeutsame Handlungsaktivitäten zielgerichtet ausdrücken zu können, Intimität und Geheimnisse für den eigenen Individualwert, Mitsprache i.S. eines aktiven Mitgestaltungsrechts erleben und umsetzen können, Erfahrungsräume in sich selbst und um sich herum erkunden können, Gefühle erleben, um sie mit kognitiven und motorischen Prozesse zu vernetzen, Sexualität (die eigene Geschlechtsidentität) annehmen und annehmbar in sich selbst integrieren, Gewaltfreiheit als Grundlage für konstruktive Kommunikation erfahren, Neugierde als Motor einer reichen Entwicklungsvielfalt erleben und umsetzen, Optimismus als zielperspektivisch geprägte Vision und Kraft spüren, Respekt/ Achtung in der erlebten Kommunikation als kommunikative Grundlage erfahren und Verständnis in einer Lebenswelt bekommen, um sich als "gerngesehener Gast" dieser Welt den vielfältigsten Entwicklungsherausforderungen stellen zu können/ zu wollen.

Die Elementarpädagogik - und das zeigt sich gerade in den Forschungsergebnissen der Resilienz- und Bindungsforschung - hat dabei sowohl die außergewöhnlich große Chance als auch die immer stärker in den Mittelpunkt rückende Aufgabe, bedeutsame und wirksame Entwicklungsprozesse zu initiieren und aufzubauen. Dies gelingt aber nur, wenn Kinder statt funktionsorientierter Trainingsprogramme einen lebensbedeutsamen Seelenproviant mitbekommen - Tag für Tag -.

"Wer bringt dem Kind das Lachen bei? Die Sonne, die Blumen. Wer bringt dem Kind das Singen bei? Die Vögel, wenn sie jubilieren. Wer bringt dem Kind das Staunen bei? Alle Dinge, die es sieht. Wer bringt dem Kind das Weinen bei? Die Menschen, wenn sie seine Seele verletzen. Nur eine Kinderseele ohne Narben kann herzlich lachen!" (R. Timm).

Persönlichkeitsbildung geschieht in einem Zusammenspiel zwischen Kind und Erlebniswelt

Wenn Antoine de Saint-Exupery einmal sagte: "Wenn du mit anderen ein Schiff bauen willst, so beginne nicht, mit ihnen Holz zu sammeln, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer", sei die Frage erlaubt, was vielerorts in der Pädagogik tatsächlich passiert. Viele Arbeitsimpulse in der Elementarpädagogik besitzen in zunehmendem Maße den Charakter einer "Kinderbelehrung" mit der Folge, dass es zu einer "Kinderentleerung" wird, weil Kinder im Gegensatz zu den belehrenden Absichten von Erwachsenen in Zusammenhängen - real existierenden Kontexten - fühlen, denken und handeln (wollen/ müssen), ihre Absichten und Erfahrungen in Handlungsvernetzungen begreifen möchten/ müssen und nur das als lernbedeutsam aufnehmen werden, was für sie selbst attraktiv, existenziell und lernmotivierend ist.

"Vieles hätte ich verstanden, wenn man es mir nicht erklärt hätte" (Stanislaw Jerzy Lec).

Stattdessen steckt die Frühpädagogik und stecken viele Eltern die Kinder in immer mehr pädagogisierte Arrangements, durch die sie ihre eigenen Lernimpulse immer weiter verdrängen und darauf warten, dass es vielleicht noch etwas Spannenderes gibt als ihre vorprogrammierte Lebensrealität.

"Genug der seltsamen Stilblüten, die in jenen Köpfen treiben, die sich das Geschäft des Erziehers so einfach vorstellen wie Klein-Moritz: dort das Kind, hier ich. Wenn ich es zu mir gezogen habe, es also so ist wie ich (oder ich es mir vorstelle), dann ist Erziehung gelungen" (Prof. Dr. Wolfgang Liegle).

Der Weg vom Säugling über das Kind zum Jugendlichen und Erwachsenen wird immer kürzer, voller Entwicklungsabbrüche und weniger nachvollziehbar für die Kinder selbst. Nicht selten entstehen dadurch Entwicklungsbrüche vielfältigster Art - ausgedrückt als Verhaltensirritationen, auf die die Erwachsenenwelt mit immer neuen therapeutisierten Pädagogikprogrammen reagiert. Dort, wo ein Leben zunehmend in Bedingungen geschieht - und das macht den Alltag auch in immer mehr frühpädagogischen Einrichtungen aus -, wird und ist die aktive Selbstbestimmung vieler Kinder radikal reduziert. Der Alltag ist aus "Fertigbausteinen" zusammengesetzt, der den Kindern wenig Raum lässt, Forscher, Entdecker, Wissenschaftler mit eigenen Neigungen sein zu können.

Janusz Korczak (1987), der bekannte Arztpädagoge, hat einmal gesagt: "Wir belasten Kinder mit neuen Pflichten des Menschen von morgen, ohne ihnen die Rechte des Menschen von heute zuzugestehen... Um der Zukunft willen wird gering geachtet, was es heute erfreut, traurig macht, in Erstaunen versetzt, ärgert und interessiert. Für dieses Morgen, das es weder versteht noch zu verstehen braucht, betrügt man es um viele Lebensjahre". Damit Kinder nicht noch mehr "Ohnmachtserlebnisse, Auslieferungserlebnisse, Trennungserlebnisse, Beziehungsnöte und Bedrohungsängste" erfahren müssen, ist es vielleicht hilfreich, sich an die schon vor fast zwei Jahrzehnten getroffene Aussage von Prof. Hans-Herbert Dreiske (1987) erinnert: "Zu früh, zu ausschließlich lehrt man Kinder, was sie hören, sehen, fühlen und denken dürfen. Was würden sie später doch alles können, hätten sie nicht so früh so viel gelernt".

Die Verantwortung der frühpädagogischen Fachkräfte

"Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben" (Wilhelm von Humboldt).

Max Frisch, der große Schweizer Schriftsteller, hat sich in seinen vielen Schriften mit der Frage nach der Identität des Menschen und dem Umgang mit seiner Welt auseinandergesetzt. In seinem ersten Tagebuch (1946-1949) schrieb er unter anderem: "Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage." Dieser Satz trifft mit seiner Bedeutung genau in die hohe Verantwortung der erzieherischen Tätigkeit. Gleich den Verfassern von Büchern, Fachartikeln, Konzeptionen, die ihre Gedanken "schwarz auf weiß" zu Papier bringen, sind es auch die frühpädagogischen Fachkräfte, die mit ihrer Persönlichkeit und ihrer besonderen Arbeitsweise eine prägende (Aus-) Wirkung auf Kinder haben - neben den Einflüssen der Elternhäuser auf ihre Kinder. Auch Erzieher/innen wirken heimlich und unentrinnbar!

Selbstgerechtigkeit und Verurteilung hindern uns daran,
uns zum Ausdruck zu bringen,
weil wir damit die Menschen von uns wegstoßen.
Das geschieht, indem sie uns die Macht entziehen,
die notwendig wäre, nun Einfluss zu nehmen.
(Neale Donald Walsch).

Entsprechend dem Watzlawick-Axiom, das sich der Mensch nicht nicht verhalten kann, bringen Erzieher/innen ständig und ohne Unterbrechung körpersprachlich und verbal ihren Einfluss ins Interaktionsgeschehen mit Kindern ein - wirksam und prägend! Und damit zeigen Kinder ihre Verhaltensweisen auch (und immer) als eine Reaktion auf das subjektive Erleben der frühpädagogischen Kräfte. Insoweit überrascht es nicht, wenn der bekannte Psychoanalytiker Carl Gustav Jung einmal schrieb: "Wenn wir bei einem Kind etwas ändern wollen, sollten wir zuerst prüfen, ob es sich nicht um etwas handelt, das wir an uns selbst ändern müssen". Ein Satz, der von hoher Aussagekraft ist und dennoch immer häufiger außer Acht gelassen wird.

So ist die besondere berufliche Identität stets mit der persönlichen Identität der Fachkräfte auf das Engste verknüpft, und beide Identitätsbereiche entstehen nicht von alleine. Sie entwickeln sich vielmehr aus der eigenen Motivation heraus, humanorientierte, kompetente und professionelle Verhaltensmerkmale auf- und auszubauen, um einerseits selbstverantwortlich mit sich umgehen zu können und um andererseits eine qualitätsgeprägte Frühpädagogik durchzuführen, die tatsächlich den viel genutzten Begriff "Qualität" zu Recht nutzt.

Die persönliche und berufliche Identität entwickelt sich im (selbst-) kritischen Umgang mit den eigenen, fremden und Arbeitsfeld spezifischen Anforderungen, die mit dem Berufsbild der pädagogischen Fachkraft auf das Engste verbunden sind. So geht es beispielsweise darum, immer wieder selbstreflexiv die eigene Lebensgeschichte (was habe ich als angenehm, was habe ich als unangenehm erlebt?), das konkrete Verhalten mit dem konkreten Alltagsgeschehen vor Ort zu vernetzen, um festzustellen, welche Handlungsmomente konstruktiv und welche destruktiv waren/ sind. Dazu gehört unter anderem eine ausgebaute Dialogfähigkeit, um mit sich in den unterschiedlichsten Lebens- und Arbeitssituationen in Selbstbetrachtungen und -verhandlungen einzutreten. Hier heißt es dann, lebendige Entwicklungsfelder zu entdecken, Entwicklungschancen zu nutzen und Fehlentwicklungen durch neue Handlungsstrategien zu ersetzen.

"Erfülltsein entsteht wenn ich das, was ich mir wünsche, in das Leben anderer bringe nach dem Motto: Sei die Quelle!" (Neale Donald Walsch).

In einem immer wiederkehrenden Klärungsprozess müssen unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen, die man selbst an sich (zu haben) hat und die von außen kommen, auf ihre fachliche Existenzberechtigung hin überprüft werden. Es müssen Widersprüche entdeckt und geklärt, rigide Verhaltensmuster entdeckt und verändert, Auseinandersetzungen mit sich und anderen geführt, Stellung bezogen, Entscheidungen mitgetragen bzw. korrigiert bzw. durchgehalten, Selbstaktivität gezeigt, Standpunkte fachlich begründet vertreten, Lernmöglichkeiten gesucht, Selbstverantwortung übernommen und neue Handlungsstrategien ausprobiert werden.

"Eine Annäherung an die Welt des Kindes erfordert Empathie, die Wertschätzung der Wahrnehmung und Gefühle der Kinder und ein Interesse daran, die Sicht der Kinder auf ihre Welt zu verstehen" (Friederike Heinzel).

Weiterhin geht es darum, persönliche Meinungen in Fachargumente zu wandeln, Vermutungen und Vorurteile zurück zu stellen und stattdessen Wahrnehmungsoffenheit für Realitäten zu entwickeln, Lernanregungen selbst zu bemerken und Lernräume für sich zu gestalten sowie Handlungsalternativen für die Situationen zu finden, die auf bisher bekannten Möglichkeiten i.S. einer tatsächlichen Lösung nicht ausreichten. Bei all den vielen Selbstentwicklungsaufgaben wird es nicht ausbleiben, dass immer wieder Identitätskrisen auftauchen. Doch gerade sie sind immer eine Chance, ein erlebtes, aktuelles Chaos als einen Neuanfang zu verstehen. So heißt es in einer fernöstlichen Weisheit: "Du musst Abschied nehmen wenn du weiter gehen willst". Krisen und Störungen sind Wege für innovative Veränderungen.

Vor vielen Jahren schon schien - laut Einschätzung von Prof. Helga Fischer - das Berufsbild der frühpädagogischen Fachkräfte vor allem durch zwei Merkmale gekennzeichnet zu sein: (l) "Das berufliche Selbstbewusstsein der elementarpädagogischen Fachkräfte bleibt weit hinter der Bedeutung der tatsächlich geleisteten bzw. zu leistenden Arbeit zurück." (2) "Das berufliche Selbstverständnis von elementarpädagogischen Fachkräften ist geprägt von einer überhöhten Bereitschaft, möglichst allen Verhaltenserwartungen, die an sie gerichtet werden, gerecht zu werden."

"Wir finden unsere größten Chancen und Gelegenheiten zu wachsen jenseits unserer Bequemlichkeitsbremse" (Neale Donald Walsch).

Es wäre bzw. ist eine zwingende Aufgabe in der Frühpädagogik, diese beiden Annahmen/ Aussagen/ Realitäten endlich ins Gegenteil zu wandeln. Doch eines ist sicher: eine Professionalität, nach außen gezeigt, wird nur dann glaubhaft aufgenommen werden, wenn eine innere Professionalität zur Entwicklung von Humanität und Fachlichkeit in Gang gesetzt und ausgebaut wird. Selbstentwicklung und Selbsterziehung führen zu einer professionellen Selbstverwirklichung - ein umgekehrter Weg führt zu Starrheit und Ignoranz von notwendigen Handlungsschritten. Aurelius Augustinus, ein großer Kirchenlehrer, sagte einmal: "In dir muss brennen, was du entzünden willst."

Wenn frühpädagogische Fachkräfte Kinder und ihre Entwicklung, Kollegien und Träger, die Öffentlichkeit und Eltern sowie die Politik i.S. einer qualitätsgeprägten Frühpädagogik entzünden wollen, sind Engagement, offensives Handeln und Lebendigkeit sowie der ständige Blick auf das Wesentliche und die permanente Entscheidung für das Bedeutsame im Hinblick auf kindorientierte Entwicklungsbedingungen unausweichlich.

Wenn es beispielsweise im KJHG heißt, dass jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat, so geht es darum, alle Schritte zu unternehmen, den Aufbau seiner individuellen Persönlichkeit zu unterstützen, damit er überhaupt Eigenverantwortung, Kritikfähigkeit, Entscheidungskompetenzen und Soziabilität entwickeln kann. Dazu brauchen Kinder eine täglich herausfordernde Umgebung und engagierte, motivierte, begeisterungsfähige, voller Ideen übersprudelnde und lebendige Erzieher/innen, die auf der einen Seite einer immer deutlich zunehmenden "Verpädagogisierung der Kindheiten" die "rote Karte" zeigen und auf der anderen Seite eine Pädagogik mit Kindern gestalten, die lebendig und spannend ist, die Neugierde der Kinder immer wieder aufs Neue provoziert und den Alltag der Kinder zu einem wahren "Fest der Sinne, der Entdeckungen aller Talente und zu spannenden Entwicklungsgeschichten" werden lässt.

Das kann nur dort geschehen, wo Kinder sich Tag für Tag selbstaktiv einbringen können, wo ihre Interessen aufgegriffen und mit ihnen gemeinsam weiterentwickelt werden, wo Kindermeinungen erwünscht und immer wieder gefragt sind, wo sich Regeln und gemeinsame Absprachen nach Entwicklungsbedürfnissen von Kindern ausrichten, wo Experimente und Gestaltungsvielfalt den Tagesablauf bestimmen, , wo die unterschiedlichsten Spielformen (vom Theater- bis zum Schattenspiel, vom großflächigen Bau- bis zum szenischen Rollenspiel) genossen werden können, wo Musik und Märchen, Geschichten und Tobeerlebnisse, Höhlenbauten und aufregende Schatzsuchen, Zaubern und Kulissenbau die Kinder motiviert, ihre Einrichtung und die Fachkräfte zu lieben: wo Kinder ihren Alltag als einen wesentlichen Teil ihrer aktuellen Lebenserfüllung erfahren. Dann würde sich auch der viel zitierte Satz in der Frühpädagogik in der Wirklichkeit wieder finden: "Wir holen das Kind da ab wo es steht."

"Je länger man lebt, desto deutlicher sieht man, dass sie einfachen Dinge die wahrhaft größten sind" (Romano Guardini).

"Elementare Erfahrungen, auf denen die weitere Entwicklung aufbaut wie

  • in Pfützen planschen,
  • auf Bäume klettern,
  • sich in Wäldern verstecken,
  • über Zäune springen,
  • in der Erde tiefe Höhlen ausbuddeln,
  • mit Obstkernen weitspucken,
  • in Brombeersträuchern Höhlen bauen,
  • nachts mit Freunden im Zelt schlafen,
  • unreife Äpfel essen,
  • Klingelstreiche unternehmen und weglaufen,
  • Grimassen ziehen und
  • die Hosentaschen voller Schätze haben

sind nicht nachholbar! Basteln hingegen kann man im Altenheim immer noch!" (AK).

Vision

"Kannst du einen Stern berühren, fragte man es. - Ja, sagte das Kind, neigte sich und berührte die Erde" (Hugo von Hofmannsthal).

Ein so genannter Bullerbü-Effekt wird von Kindern überall dort gespürt und erlebt werden können, wenn engagierte Erwachsene - Eltern und frühpädagogische Fachkräfte - der zurückliegenden, gegenwärtigen und immer stärker zunehmenden Funktionalisierung von Kindheiten - gerade auch durch eine Verpädagogisierung und Vertherapeutisierung - Einhalt gebieten! Wenn Erwachsene sich an ihre eigenen, selbst geliebten Rückzugsecken, Geheimnisse, Streiche, vertieften Spielerlebnisse, unbeaufsichtigten Spielplätze und spannenden "Kindheitsabenteuer" ... zurückerinnern und das Glück ihrer eigenen Kindheit immer wieder aufs Neue spüren, wird die Möglichkeit gegeben sein, dass auch in unserer medial bestimmten, konsumorientierten und technisierten Welt der Bullerbü-Effekt wieder zu seinem Recht kommen kann. Innen- und Außenräume entwickeln sich dann zu Innen- und Außenträumen, in denen das Wesentliche wieder von Kindern erlebt werden kann - sich selbst entdecken, die Welt ertasten und begreifen, sich selbst als winzig und zugleich bedeutsam einzuschätzen, die vielfältigsten Düfte der Natur zu riechen, die Vielfalt von naturgegebenen Speisen zu schmecken, Naturgeräusche zu erlauschen und das Wesentliche zu sehen, um es in tiefe, persönliche Betrachtungen einzubeziehen. Dazu brauchen Kinder naturnahe Spiel- und Erlebnisräume: Tag für Tag.

Kinder wollen sich bewegen, Kindern macht Bewegung Spaß,
weil sie so die Welt erleben, Menschen, Tiere, Blumen, Gras.
Kinder wollen laufen, springen, kullern, klettern und sich dreh'n,
wollen tanzen, lärmen, singen, mutig mal ganz oben steh'n,
ihren Körper so entdecken und ihm immer mehr vertrau'n,
wollen tasten, riechen, schmecken und entdeckend hörend schau'n,
fühlen, wach mit allen Sinnen, innere Bewegung - Glück.
Lasst die Kinder dies gewinnen und erleben Stück für Stück.
(Karin Schaffner).

Literatur

Benjes, Heinrich: Hein Botterblooms heilsames Durcheinander für Lehrer, Libellen und Kinder. Hellwege: Selbstverlag, 8. Aufl. 1999

Bergmann, Wolfgang: Das Drama des modernen Kindes. Weinheim: Beltz 2006

DeGrandpre, Richard: Die Ritalin-Gesellschaft. Weinheim: Beltz 2002

Grossmann, Karin/Grossmann, Klaus E.: Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2004

Gebauer, Karl: Klug wird niemand von allein. Kinder fördern durch Liebe. Düsseldorf: Patmos 2007

Günster, Ursula: Kinder auf ihrem Weg begleiten. Lahr: Kaufmann 2007

Hauser, Uli: Eltern brauchen Grenzen. Lasst die Kinder Kinder sein. München: Piper 2008

Koch, Friedrich: Der Kaspar-Hauser-Effekt. Opladen: Leske + Budrich 1995

Krenz, Armin: Was Kinder brauchen. Mannheim: Cornelsen Verlag Scriptor, 7. Aufl. 2010

Krenz, Armin: Werteentwicklung in der frühkindlichen Bildung und Erziehung. Mannheim: Cornelsen Verlag Scriptor 2007

Krenz, Armin: Kinder brauchen Seelenproviant. Was wir ihnen für ein glückliches Leben mitgeben können. München: Kösel, 2. Aufl. 2009

Krenz, Armin: Elementarpädagogik aktuell. Offenbach: Gabal 2003

Lindgren, Astrid: Steine auf dem Küchenbord. Hamburg: F. Oetinger 2000

Wyrwa, Holger: Damit unsere Kinder eine Zukunft haben. Stuttgart: Kreuz 2001

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