Tod und Trauer im Erleben von Kindern

Aus: kindergarten heute 1997, 27. Jahrgang, Heft 11-12, S. 6-13 

Gertrud Ennulat

 

Es fällt schwer, die Welt des Kindes mit dem Tod in Beziehung zu setzen, steckt ein Kind doch voller Entwicklungsmöglichkeiten. Der Tod aber markiert den Endpunkt unseres Lebens, er passt zum alten Menschen. Widerstand gegen dieses Thema regt sich. Tod im Kindergarten? Nein, danke! Wir üben doch unsere Kinder ins Leben ein, da hat der Tod keinen Platz.

Viele Erwachsene denken und fühlen so, benutzen ihren Widerstand, um das Thema für nicht kindgemäß zu erklären. Ein Kind müsse vor der dunklen Seite des Lebens geschützt werden. Hinter dem Denken der Erwachsenen rührt sich die Angst vor dem Tod. Dieses Argumentieren hat eine lange Tradition. Für Generationen von Kindern früher war der Tod etwas, das sie erlebten, über das aber nie in adäquater Weise mit ihnen gesprochen wurde. Der Tod - das große Tabu des Lebens. Auf den ersten Blick erscheint es ja auch so vernünftig, denn was Erwachsene nicht begreifen können, das sollen ausgerechnet Kinder verstehen?

Wenn die Großen schützende Denkmauern brauchen, dann muss das nicht für Kinder gelten. Es gibt eine jedem Kind innewohnende Natürlichkeit, die es ihm gestattet, sich mit der ihm eigenen kindlichen Leichtigkeit den Fragen nach den Geheimnissen des Lebens zu stellen. Erwachsene bleiben oft im Dickicht der Unlösbarkeit stecken, während ein Kind leicht in andere Bereiche schlüpfen kann, um sich spielend weiter zu bewegen. So übt es bereits Annäherung an dieses große Lebensthema, bevor es konkret mit dem Sterben konfrontiert ist.

Wenn ein Kind von einer wichtigen Bezugsperson lange Zeit getrennt ist, dann erlebt es dies so als sei dieser Mensch gestorben. Eine lange Zeit der Abwesenheit kann es seelisch noch nicht überbrücken und trauert mit allen Zeichen kindlichen Schmerzes.

Bei Cowboyspielen benutzen Kinder oft das Wort tot und sterben. Die erschossenen Feinde fallen reihenweise um, spielen kurz danach quicklebendig weiter. Das magische Denken des Kindes im Kindergartenalter erlaubt ihm das. Stocksteif kann es sich auf den Gehweg legen, der erschrockenen Mutter zurufen, jetzt bin ich tot, um danach schnell davon zu rennen.

In Momenten großer Wut kann es geschehen, dass ein Kind seiner Affekte nur dadurch Herr wird, dass es ausruft, du sollst tot sein! Auf diese Weise bewältigt ein Kind eine ihm unerträgliche Situation. Es lässt sein Gegenüber sterben, kommt auf diese Weise über seine Frustration hinweg. Lässt der Erwachsene dabei das Kind nicht im Stich, dann kann es aus dieser Erstarrung heraustreten und hören, welchen traurigen Sachverhalt seine Worte ausgedrückt haben. Auch dies ist ein Einüben in den adäquaten Gebrauch des Wortes tot.

Wenn der kleine Zwerghase stirbt

Tritt der Tod von außen in das Leben des Kindes, lässt den kleinen Zwerghasen sterben, dann erlebt es, wie der vertraute Spielgefährte bewegungslos und steif im Käfig liegt, nicht mehr atmet. Und dies ist unabänderlich! Das Kind begreift, es ist etwas geschehen, was sich nicht mehr umkehren lässt. Zum ersten Mal erhält seine Welt einen Riss, den weder Vater noch Mutter flicken können. Ohnmacht, das Gefühl, nichts mehr ausrichten zu können, breitet sich aus. Und dieses Gefühl gilt es auszuhalten! Es gibt keine Hilfe. Wer den Mut hat, dem Kind seine Trauer nicht durch ein schnell gekauftes Ersatztier zu nehmen, der kann erleben, wie sich Phantasien und Gedanken äußern, die alle um den verstorbenen kleinen Hasen kreisen. Was macht der Hase jetzt? Tagelang können die kindlichen Gefühle um diese Frage kreisen. Auf sie kann ein ehrlicher Erwachsener keine befriedigende Antwort geben. Aber sie helfen dem Kind, das Phänomen Weiterleben nach dem Tod in sein Weltbild einzubauen. Neue Worte tauchen auf. Der Hase ist im Himmel. Und schon will das Kind dem Hasen ein Bild malen, es an einem Luftballon hochsteigen lassen. Lange bleibt das Kind stehen, wenn der Ballon mit seiner Nachricht an den Hasen immer kleiner wird am Himmel, bis er nicht mehr zu erkennen ist. Dann ist er angekommen. Das Kind hat sein Übergangsobjekt gefunden. Es weiß nun um einen Ort, wo die Toten hinaufsteigen, es fühlt sich über sein Bild damit verbunden. Sein ganzes Leben lang wird es dieses Ereignis nicht mehr vergessen können, denn Todeserfahrungen hinterlassen tiefe Spuren im menschlichen Gedächtnis.

Wenn ein Kind krank ist, kann dies Anlass sein, sich Sorgen um seinen Körper zu machen. Es spürt Unsicherheiten und Ängste in den Gesichtern der Erwachsenen, fragt auf einmal: Muss ich jetzt sterben? Diese unvermittelt geäußerte Frage kann Erschrecken beim Erwachsenen auslösen; man ist versucht, sie dem Kind auszureden. Muss ich sterben, fragt das Kind, das eine unruhige Nacht mit hohem Fieber und Schmerzen erlebt hat. Es versucht, die neuen und beängstigenden Gefühle der Nacht zu verstehen. Im Durchleiden dieser ernsten Erkrankung hat es einen neuen Bereich seiner Empfindungen betreten und weiß, Menschen können sterben. Nun bezieht es sich selbst in diesen Vorgang hinein, will wissen, ob ihm dies auch geschehen kann. Wer sich als Erwachsener dieser Situation öffnen kann, staunt über die Tiefe und Klarheit der kindlichen Gedanken. Es wird aber auch deutlich, wie sehr das Kind die Gegenwart des Erwachsenen braucht. Erst im Spiegel seiner Worte und Empfindungen kann es verstehen, was mit ihm geschieht.

Wie trauert eigentlich ein Kind?

Jasmin, sechs Jahre alt, verlor ihren Vater nach einem schnellen Krebsleiden. Die Mutter ihrer Freundin wirkte hilflos, erstaunt und voller Erwartungen an das Mädchen, als sie sagte: Die heult ja gar nicht, die trauert ja überhaupt nicht! Doch was soll das Kind ausdrücken? Es erlebte, wie der Vater im Krankenhaus starb. Am nächsten Tag geht es wieder in den Kindergarten, spielt mit der vertrauten Freundin, lacht und albert wie gewohnt, fühlt sich geborgen; es scheint alles zu sein wie immer. Trauert Jasmin nicht? Es fällt schwer, Kriterien für ein trauerndes Kind aufzustellen, denn seine Trauer scheint verborgen, nur schwer zu orten.

In unser Bild vom trauernden Kind will das wütende Kind nicht passen. Sören, dessen Vater sich vor wenigen Monaten das Leben nahm, ist im Kindergarten in der Vorschulgruppe. Seine Aggressivität ist immer wieder Anlass für viele Konflikte. Bewaffnet mit einem großen Arsenal an Kraftausdrücken schreit er sich durch seinen Kindergartenvormittag. Dieser kleine Schläger soll ein trauerndes Kind sein? Seine Wut entsteht als Gegenkraft zu der Erfahrung der totalen Ohnmacht im Angesicht des Todes. Sören stand am Grab des Vaters bei der Beerdigung. Als die Angehörigen weggingen, wehrte er sich mit Händen und Füßen dagegen, diesen Ort zu verlassen. Er schrie, weinte und rief immer wieder den Namen seines Vaters. Er wollte eine Antwort, wusste, der Vater ist da unten im Sarg. Mit seinem Rufen wollte er ihn erreichen. Doch er hört kein Echo.

Im Gefühlsrepertoire des Kindes sind Ausdrucksweisen für Schmerz und Trauer vorhanden, weil es in seinem bisherigen Leben dies bereits kennen gelernt hatte, wenn z.B. eine Freundschaft zu Ende ging, es Abschied nehmen musste, akzeptieren lernte, dass es Vorkommnisse gibt, die nicht nach seinen Wünschen gehen. Doch was es beim Tod erlebt, übersteigt seine Erfahrungen. Es kann sich nur an den Erwachsenen orientieren, spiegelt sich in der Trauer der Mutter oder der Verwandten. In erster Linie lernt es ein neues Fühlen kennen, das Gefühl der Verlassenheit und der Leere. Der Tote hat die Lebenden verlassen. Papa hat mich im Stich gelassen. Das verursacht eine Wunde, die sich nicht schließen will. Schuldgefühle tauchen auf, Papa ist gestorben, weil ich unartig war. Vorwürfe und Wut mögen sich regen, doch an wen sollen sie sich richten?

Ein trauerndes Kind lernt neue Gefühlsfacetten kennen, kann sich nicht mehr einordnen und zu Hause fühlen in seiner bisherigen Gefühlslandschaft. Es benötigt für seine emotionale Absicherung einen Erwachsenen, an dem es sich orientieren kann, der ihm Echo gibt. Ohne dieses Gegenüber bildet sich kein konkretes Trauergefühl aus. Ohne den Spiegel des Erwachsenen kann sich das Trauergefühl aber auch nicht verwandeln und verändern. Wird ein Kind allein gelassen, kapselt sich seine Trauer und sein Schmerz ein. Sie umschließt sich mit einer dicken Eisschicht. In seiner Seele bilden sich Inseln der Isolation und Kälte. Das ist das Land der trauernden Depression, in der kein Gegenüber den Schmerz teilt. Nach außen funktioniert es weiter, wird kraft seiner natürlichen Anpassungsbereitschaft vom Leben weiterbewegt. Doch partiell trägt es eine traumatische Verletzung mit sich herum. Solche eingekapselten Trauererlebnisse sind Zeitbomben, die zu jeder Zeit hoch gehen können. Es kann aber auch Jahrzehnte dauern, bis sie sich melden.

Mit dem Tod verliert die Welt des Kindes an Einschätzbarkeit. Sie gerät aus den Fugen, denn die Erfahrung des Unabänderlichen erschüttert das Kind mit derselben Macht wie die Erwachsenen. Waren bisher Trennung und Abschied zeitlich begrenzte Ereignisse, kehrte meist wieder, was verschwunden war, so ist das mit dem Tod anders. Was er genommen hat, gibt er nicht mehr frei. Diese Einsicht macht das Kind in seinem Fühlen instabil und schnell schwankend. Es reagiert extrem schnell auf kleinste Veränderungen in seinem Umfeld und im Verhalten der erwachsenen Bezugspersonen.

Todeserfahrung führt an Grenzen

Ein trauerndes Kind führt die Eltern und seine Freunde in eine bedrohliche Grenzerfahrung. Die Mutter, die ihren Lebenspartner verloren hat, ist in ihrer Existenz bedroht, kämpft ums Überleben, und muss sich vor dem Anblick des trauernden Kindes schützen. Es verkörpert ja ihre Zukunft. Sie muss weiterleben, und dafür braucht sie die Zuwendung des Kindes und kann zu ihrem Leid seine Trauer nicht auch noch mittragen und aushalten. Es muss dem Kind gut gehen, damit es auch ihr wieder besser gehen kann.

Im Umfeld des Todes müssen Kinder Fragen stellen. Es gibt für sie keine Tabus; alle Details wollen sie wissen, brauchen stimmige Antworten. Nur auf diesem Weg gelingt diese schwierige Integrationsarbeit. Dem trauernden Erwachsenen aber können diese Fragen nach der nackten Seite des Todes weh tun. Ist es dem Papa nicht zu kalt und zu dunkel im Grab? Eine solche Frage klingt zunächst nach dem vielbelächelten Kindermund, doch wird der trauernde Elternteil konfrontiert mit der dunklen Seite menschlicher Vergänglichkeit. Erwachsene können schnell auf eine Ebene der Abstraktion in ihren Gedanken um den Tod gelangen. Das Kind muss genau wissen. Aber es spürt bei seinem Fragen und Suchen auch die Befindlichkeit der Mutter, will ihr nicht noch mehr Kummer bereiten und lässt die Fragerei vielleicht sein.

Wenn in einer Familie ein Bruder, eine Schwester stirbt, verändert sich die Situation der überlebenden Kinder radikal. Auf einmal scheinen sie nicht mehr zu existieren, werden die Eltern vom Schmerz um das verstorbene Kind zu Blinden gemacht. Niemand kann es ihnen vorwerfen, und doch ist es für die Kinder lebensbedrohlich, so plötzlich vergessen zu werden. Wenn die Trauer des Erwachsenen seine Kommunikationsbereitschaft beeinträchtigt, dann spürt das Kind, wie es nicht mehr zu Mutters Innerem durchkommt, wie das gewohnte Ineinander ihrer Beziehung zu einem abrupten Ende gekommen ist. Das Kind kann sich nicht mehr äußern, denn Worte finden sich nur im Kontakt mit dem Gegenüber.

Ein Kind hat ein natürliches Bestreben, das Unerklärbare in sein Weltbild zu integrieren

Sabrina, deren Großvater vor wenigen Wochen gestorben war, sitzt jeden Tag im Kindergarten auf dem Boden und malt einen Schmetterling. Seit Tagen immer wieder dieses Motiv. Es mutet der Erzieherin fast zwanghaft an; sie will dem Mädchen Anregungen geben, doch auch etwas anderes zu gestalten. Stur bleibt das Kind bei seinem Vorhaben. Auf diese Weise schafft es sich ein Stück Befreiung von der Trauer um den verstorbenen Opa. Gleichzeitig drückt seine Seele im Bild des Schmetterlings etwas aus von der Veränderung und Verwandlung des Verstorbenen. Sabrina malt so lange, bis der Prozess in ihr zu einem Abschluss kommt.

Diana erzählt, ihr verstorbener Vater sei jetzt ein Stern. Jeden Abend steht sie auf dem Balkon, um Zwiesprache mit ihm zu halten. Wenn sie in einem Buch auf ein Sternbild stößt, kommt sie, um zu zeigen, wo ihr Vater nun lebt. Sie sucht das erwachsene Gegenüber. Für Erzieherinnen kann das geduldige Begleiten und Wahrnehmen eines Kindes, das seine Trauer beim Malen bewältigt, zu einer Zeit intensiver Begegnung mit dem Kind und sich selbst werden. Wichtig ist es, dem Kind den äußeren und inneren Raum zu geben, den es braucht. Es spürt ja sofort, wie es um die affektive Gestimmtheit des Erwachsenen bestellt ist. Sein absorbierender Geist nimmt den Widerstand, die Ängste, die Ablehnung genauso auf wie die Offenheit und Bereitschaft. Vielleicht haben einige Kinder in der Gruppe die innere Ablehnung der Erzieherin wahrgenommen genommen und rufen abwertend: Die Sabrina malt immer nur blöde Schmetterlinge! - und schon zieht sich das Kind zurück, agiert nur noch unbemerkt, verborgen; die lauten Signale sind verstummt.

Eine gute Gestimmtheit in der Beziehung zwischen trauerndem Kind und Erzieherin kann eine heilsame Wirkung haben. Das Kind ist angewiesen auf den begleitenden Erwachsenen. Es braucht einen Zeugen für die Art und Weise, wie es sein traumatisches Erleben darstellt. Wird es offen aufgenommen, werden seine Bilder liebevoll angeschaut, wird mit ihm darüber gesprochen, dann kann sich viel Kreativität freisetzen. Es berührt tief, einen solchen Weg der Bewältigung mit einem Kind zu gehen, weil Kind und Erzieher vorwärts getrieben werden von den Selbstheilungskräften der kindlichen Seele.

Für Erzieherinnen, die einen guten Kontakt zu ihrem eigenen Unbewussten in Form ihrer Träume haben, kann es eine zusätzliche Hilfe sein, für einige Zeit Träume des Kindes sich erzählen zu lassen. Eines Morgens stand Diana freudestrahlend in der Gruppe. Sie hatte zum ersten Mal von ihrem verstorbenen Vater geträumt. Damit hatte das Mädchen einen wichtigen Punkt seiner Trauerarbeit erreicht: Es lernte eine neue Ebene kennen, in der es mit dem Verstorbenen in Kontakt bleiben kann.

Ein trauerndes Kind in der Kindergartengruppe

Zunächst steht es im Blickpunkt des Interesses seiner Spielkameraden. Zuhause erlebte es das Ritual der Trauerfeierlichkeiten, viele Besucher, Verwandte, die Beerdigung als Abschluss. Vielleicht blieb es dem Kindergarten einige Tage fern, und eines Morgens ist es wieder da. Alle Kinder und Erzieher wollen besonders nett zu ihm sein und spüren gleichzeitig ein Kribbeln im Bauch. Gut ist es für alle, wenn sie miteinander sprechen können, über das, was sie erfahren: In unserer Gruppe hat ein Kind den Tod erlebt. Für das trauernde Kind ist dies ganz wichtig, denn aus dem Mitteilen wird ein Teilen der Todeserfahrung. Auf diese Art und Weise bleibt das Kind Glied der Gruppe, denn es hat ja etwas erfahren, was nicht einmal die Erzieherin kennt. Diese unterscheidende existentielle Erfahrung kann es in die Isolation treiben, wenn niemand hören will. Schnell kann so etwas geschehen, denn das Kind spürt die Befangenheit der anderen, möchte ja auch wieder sein wie alle, überspringt seine Trauer. Niemand kann ihm das übel nehmen.

Eine Kindergruppe kann leise und nachdenklich werden beim Sprechen über den Tod. Auf einmal sind alle Kinder beteiligt, eine hohe Aufmerksamkeit kennzeichnet solche Gespräche. Am nächsten Tag kann das genaue Gegenteil eintreten. Die Kinder müssen ins blödelnde Gelächter ausweichen, um sich vom Druck und der Schwere des Themas zu befreien. Es ist wichtig, darum zu wissen, dass dieses Albern und Karikieren eine erste Verarbeitungsform darstellen.

Viel Angst steckt in diesen Tagen in der Gruppe. Sterben und Tod machen Angst, darüber darf sich niemand hinwegtäuschen. Und dies gilt es immer wieder auch wahrzunehmen im Verlauf eines Kindergartenvormittags. Es fällt nicht leicht, sich dem zu stellen. Manche Kinder rücken von dem trauernden Kind nach einigen Tagen ab, wollen nicht mehr mit ihm spielen. Es macht ihnen Angst, sie wollen sich nicht anstecken. Auf einmal tauchen quälende Fragen auf: Papa, wie viele Jahre lebst du noch? Angst strahlt ab, führt in die Enge. Auch dies gilt es gemeinsam auszuhalten.

Im Umfeld des Themas Tod macht sich eine schwer zu verstehende Sogwirkung bemerkbar. Auf einmal müssen andere Kinder unentwegt darüber reden, können ihre Gedanken nicht mehr auf andere Inhalte fixieren. Beim Einschlafen kreisen sie um diesen dunklen Bereich des Lebens. Dabei wird der große Ernst und die Tiefe deutlich, mit der Kinder sich dort bewegen. Für den begleitenden Erwachsenen wird es wichtig, das Kind aus diesen Schattenseiten des Lebens auch wieder herauszuführen, ihm zu helfen, sich erneut der guten Seite seines Alltags zuzuwenden.

Es kann auch geschehen, dass ein Kind auf einmal vom Tod eines nahestehenden Menschen erzählt und dies nicht den Tatsachen entspricht. Es lässt einfach jemanden sterben. Wie ist dies zu erklären? Mara hat erfahren, wie das Thema Tod Zuwendung und Interesse hervorruft, die Erzieherin sich kümmert und Anteil nimmt. Ihr kommen die unwahren Worte leicht von den Lippen. Sie folgt der Sogwirkung des Todes, und setzt sich in ihrer Phantasie mit dem Ernstfall was wäre, wenn ... auseinander.

Der Kindergarten kann das trauernde Kind stabilisieren

Für das Kind, welches in seiner Familie einen Todesfall erlebt hat, wird der Kindergarten besonders wichtig, weil er eine Gegenwelt zum Zuhause werden kann. In seinen Räumen darf alles stabil bleiben. Die vertraute Erzieherin, die Kinder und Spielsachen, der schützende Gruppenraum - alles ist noch so wie gestern und vorgestern. Und diese Erfahrung tut dem trauernden Kind gut. Im Kindergarten erlebt es die verlässliche Kontinuität seines Lebens, während zu Hause alles anders wurde, seit die Trauer um den Verstorbenen sich in den Räumen eingenistet hat. Eine große Lücke muss das Kind aushalten.

Sören erzählt, wie der Papa immer aus seinen Dinosaurierbüchern vorgelesen hat. Jetzt muss er die allein anschauen. Das hört sich so vernünftig an und klingt auch ein wenig nach Das ist jetzt so, da kann man nichts machen. Mit diesem Satz ist eigentlich alles gesagt. Auf einmal kann man gar nicht mehr weiter sprechen. Nur schweigen. Der Papa ist nicht mehr da. Die Leere und die Stille, welche er hinterlässt, beginnen zu wachsen. Wo vorher eine wechselseitige Beziehung dem Alltag lebendige Farbtupfer schenkte, ist nun nichts mehr. Im Kindergarten kann der Junge das schmerzhafte Erleben vergessen, wird mitgerissen vom Spiel der anderen Kinder. Zuhause gelingt das in der ersten Zeit nach dem Verlust nur schwer. An manchen Tagen tobt sich das Kind aus, ist wieder wie alle anderen, ist froh, wenn niemand mehr mit ihm über den Tod spricht.

Und dann kann seine Stimmung an anderen Tagen ins Gegenteil umschlagen: Urplötzlich zieht es sich zurück, will mit niemandem spielen, braucht einen Erwachsenen, der sich ihm zuwendet. Auch dies kann ihm der Kindergarten geben. Es erfährt ihn dann als den Ort, wo es sein kann wie immer, gleichzeitig aber auch in seinen neuen Gefühlen gesehen wird. Die vitalisierenden Rituale des Kindergartenalltags helfen dabei, das Kind wieder ins Leben einzubinden. Allmählich wandelt sich die Schwere der ersten Trauer, aber diese Prozesse brauchen ihre je eigene Zeit.

Ein Besuch auf dem Friedhof

Kinder lernen den Friedhof meist an der Hand eines Erwachsenen kennen. Die kleine Julia begleitet die Oma, hilft ihr dabei, die welken Blumen von Opas Grab zu entfernen. Sie ist stolz, weil sie das Grab unter den vielen Gräbern gefunden hat, den Grabstein schon von weitem erkennt und auch schon einige Zahlen lesen kann. Gerne kommt sie mit der Oma hierher, hört genau zu, wenn diese von früher spricht, als der Opa noch am Leben war. Der Friedhof wird für dieses Kind zum Ort der Stille und des Miteinander-Sprechens. Das ist in unserer Zeit nicht mehr selbstverständlich, weil durch eine Flut von Fantasy- und Horrorfilmen Friedhof-Phantasien freigesetzt werden, welche ihn als einen Ort des Grauens schildern. Gruselig und gefährlich, unheimlich und duster ist es dort, denn Geister und Vampire treiben ihr Unwesen. Es ist erstaunlich, welch genaue Kenntnisse über diese Phänomene bereits Kinder im Kindergartenalter haben. Diese falschen Zuschreibungen können nur durch die Begegnung mit der Realität beseitigt werden. Deshalb kann ein gemeinsamer Gang über den Friedhof viel zur seelischen Entlastung der Kinder beitragen.

Die Verbindung zum Verstorbenen lebendig halten

Das Kind, das einen Elternteil auf dem Friedhof liegen hat, geht beim gemeinsamen Besuch mit seiner Kindergartengruppe einen weiteren Schritt hin zur Normalität. Gewohnt, diesen Weg sonst nur mit der Mutter oder einer Tante zu machen, erlebt es nun, wie es in seiner neuen Rolle wichtig genommen wird. Alle Kinder wissen nun, wo mein Papa ist, denn ich habe ja einen Papa. Wenn es dem Kindergarten gelingt, den toten Vater mit einzubeziehen, dann erlebt sich das Kind akzeptiert in seiner besonderen Lebenssituation. Das Außergewöhnliche kann zur natürlichen Gegebenheit des Lebens werden. Dies zu lernen stellt eine Bereicherung für alle Kinder der Gruppe dar.

Für die Erzieherin bedeutet es auf der anderen Seite, dass sie immer auch diesen Aspekt des Lebens im Blick hat. Einige Kinder sitzen am Maltisch, wollen malen, wie es bei ihnen zu Hause aussieht; alle Bewohner der Wohnung sollen auf dem Bild sein. Sara will eigentlich malen und sitzt dann doch unschlüssig vor ihrem großen Bogen Papier und sieht, wie die anderen Kinder ihre Blätter farbig gestalten. Wenn die Erzieherin um Saras verstorbene Mutter weiß, kann sie dem Kind helfen, wenn sie sagt: Du kannst deine Mama malen, auch wenn sie tot ist. Eine tote Mutter bleibt immer eine Mutter. Das Kind gibt ihr bildhafte Gestalt und Ausdruck. Auf einmal wird Saras tote Mutter ganz konkret sichtbar, ist anwesend. Für das Kind ist dies ein weiterer Beitrag zur besonderen Normalität seines Lebens.

Wie können Kinder das Geheimnis von Tod und Auferstehung erfahren?

Im Bereich der Natur wird das Gesetz von Leben, Vergehen und wieder Leben am deutlichsten sichtbar. Wenn Kinder den Wechsel der Jahreszeiten mitgestalten dürfen, gewinnen sie seelische Voraussetzungen, um sich innerhalb des Lebenskreislaufes als einen sinnvollen Teil zu erfahren. Sie selbst ruhen ja noch so stark in der Natur, dass man ihnen Ehrfurcht und Achtung vor ihr eigentlich nicht beibringen muss. Es genügt, ihrer ungebrochenen Kreatürlichkeit Raum und Wertschätzung zu geben.

Florian legt ein Samenkorn ins dunkle Erdloch, zögert ein wenig, die feuchte Erde darüber zu decken, will wissen, was mit dem Korn geschieht. Schläft es? fragt er und möchte gerne genaue Auskunft. Er lernt, Geduld zu haben, ist versucht, die Erde am nächsten Tag wieder auszubuddeln, um die Veränderungen in der Erde mit eigenen Augen zu sehen. Jeden Tag steht der Junge am Beet im Garten. Seine Neugier wächst während vieler Tage. Endlich zeigt sich ein grüner Spross, der aus der Erde ans Licht will. Florian weiß nun, was in die Erde gelegt wird, verändert sich, will ins Helle. Er erfährt, es gibt keinen Stillstand in der Natur. Alles ist in stetigem Wandel. So kann ihm das Weizenkorn zum Symbol der Auferstehung werden.

In jedem Menschen steckt die seelische Bereitschaft, Symbole zu bilden. Sie drücken in bildhafter Weise etwas aus, was Worte nicht angemessen fassen können. Es ist gut, wenn Kinder schon früh mit solchen Symbolen bekannt werden. Bei Trauerprozessen können sie später ins Bewusstsein aufsteigen. Ihre nach außen drängende Kraft hilft, sich malend Ausdruck zu verschaffen. Mit ihrer heilsamen und ordnenden Funktion bewirken Symbole Verarbeitung und ermöglichen Distanzierung.

In unserer christlich geprägten Vorstellungswelt kann das Die weiße Taube sein. Astrid Lindgren benutzt sie in ihrem Buch Die Brüder Löwenherz, um eine Botschaft vom Land der Verstorbenen zu den Menschen zu bringen. Die Taube gilt als Seelenvogel, der Grenzen überwindet.

Immer geht es darum, große Gegensätze zu überwinden. Engeln wird diese Kraft ebenso zugeschrieben. Sie sind Lichtwesen, die von der verwandelten Seinsweise des Verstorbenen künden. Nicht von ungefähr sagt alter Volksglaube, früh verstorbene Kinder würden Engel oder Sterne werden.

Das in Bildern von trauernden Kindern oft auftauchende Symbol des Schmetterlings verweist auf die Schönheit und Leichtigkeit der neuen Existenz der Toten. Alle diese Bilder sind Versuche, das Geheimnis des Todes und der Verwandlung auszudrücken. Sie helfen dabei, den Tod ins Leben zu integrieren, bewahren sein Geheimnis, das in der Schwebe bleibt.

Wie kann sich der Kindergarten dem trauernden Kind öffnen?

Es ist weder selbstverständlich noch leicht, diesem Thema Raum zu geben, denn die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit bedrängt. Gespräche im Leitungsteam dürfen bei sich selbst anfangen. Wo stehe ich? Wie sind meine Gefühle? Wo spüre ich eine Grenze? Wenn eine gute vertrauensvolle Gesprächsbasis besteht, können diese Fragen auftauchen, ohne gleich eine exakte Antwort erhalten zu müssen. Ehrlichkeit und Offenheit führen vielleicht zu dem Ergebnis, es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt. Warten ist angesagt. Und das ist gut so, weil ein Bemühen-Wollen, das vom Kopf gesteuert ist, nie die Seele der Kinder erreicht. Nur was emotional eingebettet ist, löst auch ein Echo im Gegenüber aus.

Wer als Erzieherin bereits den Tod erlebt hat, weiß: Diese Erfahrung schließt das Kind auf. Es spürt, das ist eine, die weiß um den Schmerz. Aber dies muss nicht heißen, dass für alle anderen Kollegen das Thema tabu ist. Sören ist noch bis zu den Ferien in seiner Gruppe; die von einer Berufsanfängerin geleitet wird. Sie spürt eine wachsende Spannung des Jungen. Das Ende der Kindergartenzeit naht. Für ein Kind, das den Tod aus der Nähe kennen gelernt hat, wird alles Abschiednehmen zu einem Stück seelischer Schwerstarbeit. Die Schicht seines Inneren, welche die tiefste Wunde seine Lebens beherbergt, wird berührt und Gefühle von Einsamkeit, Kälte und Verlassensein brechen erneut durch. Sören kann sich nicht auf die Schule freuen, will auch nicht darüber reden, mag nicht, dass die Mama den neuen Schulranzen kauft. Warum kann es nicht bleiben, wie es ist? An manchen Tagen sitzt er still und traurig da. Benennen kann er nicht, was mit ihm ist. Aber er hat eine Erzieherin um sich, die um den großen Verlust seines Lebens weiß. Sie kann ihm nichts abnehmen, muss nicht in ihn dringen. Aber sie nimmt ihn in den Arm. Das ist es, was er braucht und annehmen mag.

Es sind die leisen Töne, die tief reichen, Gesten des Verstehens. Das Kind hat in einen Bereich menschlicher Existenz geschaut, der in eine jenseitige Welt reicht. Das kann stumm machen. Blicke, eine Hand, die über die kurz geschorenen Haare streicht, ein wissendes Lächeln - sie zeigen, die Erzieherin hat das trauernde Kind in sich aufgenommen. Diese Erfahrung trägt und lässt weiterwachsen.

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