Gertrud Ennulat
Am helllichten Tag fange ich an zu träumen, und schon läuft vor meinem inneren Auge ein Film ab: Es ist früher Morgen im Kindergarten, die Erzieherinnen stehen beieinander, warten auf die Kinder, reden dies und das. Auf einmal sagt eine: "Heute Nacht habe ich einen schlimmen Traum gehabt. Ich hab geträumt, in unserem Kindergarten sind Diebe und Einbrecher, die alle Spielsachen klauen. Ich will sie daran hindern, doch ich komme gegen die Räuber nicht an und kann mich nicht durchsetzen. Das war grässlich!" Schnell ist ein lebhaftes Gespräch im Gange, wirkt die Traumerzählung ansteckend, stellen die Kolleginnen erstaunt fest, dass sie nicht die einzigen sind, die ab und zu von ihrem Arbeitsplatz träumen.
Und da kommen auch schon die ersten Kinder. Ein 6jähriger Junge stürmt in seinen Gruppenraum und ruft: "He, hört mal alle her, ich hab was ganz Tolles geträumt!" Schnell setzen sich alle Kinder im Kreis um ihn herum und hören zu, als er seinen Traum erzählt.
Allerdings werde ich beim Tagträumen jäh unterbrochen von einem Chor heftig protestierender Stimmen aus dem Land der herkömmlichen Pädagogik, die mir empört entgegenrufen: "Was, jetzt sollen wir uns auch noch um Träume kümmern? Sollen wir etwa die Nacht zum Tage machen? Träume gehören doch zum Intimbereich eines Menschen und sind geschützte Daten!"
Diese Vorbehalte und Widerstände sind ernst zu nehmen, denn wir leben nun mal in einer Kultur, in der die Träume der Kinder im Bereich pädagogischer Einrichtungen selten etwas zu suchen haben. Kinder sollen sich als unbeschriebene Blätter morgens dem Tag zuwenden und sich kontinuierlich offen und neugierig ihrer pädagogisch zubereiteten Welt zuwenden. Dabei wird das nächtliche Erleben im Traum negiert und vergessen, dass es keinen anderen Lebensabschnitt gibt, in dem so viel und intensiv geträumt wird wie in der Kindheit. Mein Tagtraum wirkt dann wie eine Utopie aus einer anderen Welt. Aber woher kommt es, dass das träumende Kind in den meisten pädagogischen Einrichtungen ein vergessenes Kind ist?
Das träumende Kind wird oft vergessen
Erinnern Sie sich an einen Traum aus Ihrer Kindheit? Erwachsene, welche diese Frage mit ja beantworten, berichten häufig von eindrücklichen Träumen, die sie ihr Leben lang nicht vergessen. Gleichzeitig erwähnen sie Menschen in ihrer Familie oder ihrem Umfeld, die sich für ihre Träume interessiert haben, eine Offenheit zu spüren war, sodass sie erzählen konnten, was sie nachts alles erlebt haben. Wer es nicht so gut hatte und als Kind mit seinen Träumen allein blieb, dem fehlte die Erinnerung daran, denn er hatte keine Möglichkeit zum Erzählen. Auf diese Weise gingen die Träume verloren, denn das Erzählen trägt dazu bei, ob etwas im Gedächtnis gespeichert wird oder nicht.
Jeder Traum entfaltet in einem Kind ein bildhaftes Geschehen, das bizarr, ängstigend und bedrohlich, aber auch angenehm und erfreulich sein kann. Dadurch bildet sich eine divergierende und vielgestaltige Gefühlslandschaft, die sich in den unterschiedlichen Bildern und Symbolen ausdrückt. Ob das Kind will oder nicht, es muss gute und schlechte Emotionen aushalten, denn aus dem Traumgeschehen gibt es kein Entrinnen. Beim Aufwachen ist das Kind deshalb noch ganz erfüllt von der Energie des Traums, und die gefürchteten Albträume, die im Kind auch dann noch stecken, wenn der Traum längst vorüber ist, bringt es in seinem Rucksack in den Kindergarten mit.
Kinder bringen ihre Träume in den Kindergarten mit
Die vierjährige Milena, ein aktives und fröhliches Kind, wirkt seit einigen Tagen bedrückt und igelt sich ein. Eines Morgens setzt sich die Erzieherin zu ihr, fragt dies und das, fragt auch, wie das Kind denn derzeit schlafe. Auf diese Frage scheint das Mädchen gewartet zu haben, denn auf einmal sprudeln die Worte aus ihr heraus und sie erzählt einen schlimmen Albtraum: "Jede Nacht kommen Monster, und die sind ganz böse und wollen mich fressen, und dann bin ich ganz allein, und die gehen gar nicht weg. Immer sitzen die an meinem Bett, und dann wache ich auf." Das Kind wirkt erleichtert, seine Gesichtszüge entspannen sich beim Erzählen.
Was ist geschehen? Solange das Mädchen allein mit sich selbst war, kreisten seine Gedanken immer wieder um das Albtraumgeschehen. Vielleicht hatte sie zuhause auch gesagt bekommen: Es gibt keine Monster! Das ist eine der Lügen, zu der Erwachsene gerne Zuflucht nehmen, um einem Kind seinen Angsttraum auszureden. Sie sind unsicher und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Aber diese Antwort hilft dem Kind nicht, denn Milena trifft eine Zeit lang jede Nacht auf ein Monster und spürt den energetischen Niederschlag dieses Traumbildes als große Angst in sich. Das alles ist reales Geschehen für das Kind. Wenn es keine Chance hat, mit einem Erwachsenen darüber zu sprechen, bleibt es mit sich und einem diffusen Angstgefühl allein. Am nächsten Morgen wirkt das Kind wenig zugänglich. Am liebsten würde es sagen: Lasst mich in Ruhe! Ihr wisst ja gar nicht, was ich geträumt habe!
Aber Milena hat Glück, auf eine Erzieherin zu treffen, die im Gespräch noch einmal mit ihr in das Traumgeschehen hineingeht. Jetzt kann das Mädchen seine Gefühle sprachlich ausdrücken, sie benennen; sie werden ihm bewusst, und es erinnert sich an frühere Träume mit ähnlichem Inhalt, vergleicht und verknüpft seine Einsichten. Das Gefühl der Verlassenheit weicht und das kurze Gespräch mit der Erzieherin bringt ihre Energie wieder in Fluss. Jetzt kann sie sich tatkräftig in den neuen Tag hinein begeben: Welt, ich bin da, was hast du mir zu bieten?
Eigentlich ist es ja etwas ganz Einfaches und Natürliches, was geschehen ist. Ein Kind hat schlimm geträumt, ist deshalb bedrückt, kann darüber mit einem Erwachsenen sprechen und ist danach wieder emotional gut drauf. Ein wichtiger Beitrag zur emotionalen Erziehung eines Kindes geschieht - ohne pädagogischen Kraftakt - durch eine Geste der Empathie. Sie gelingt allerdings nur den Erwachsenen, die Zugang zur Welt der Träume haben und sie als Ergänzung des Tagesbewusstseins in ihren Alltag mit hinein nehmen.
Tipps
Kinder spüren in uns hinein und wissen genau, wieweit wir mit ihnen gehen. Wer die Nachtseite kindlichen Erlebens mit Kindern kennen lernen möchte, braucht eine innere Haltung, die geprägt ist von Neugierde und einer natürlichen, spielerischen Offenheit gegenüber seelischen Äußerungen.
Es tut Kindern gut, wenn sie nach ihren Gefühlen beim Aufwachen gefragt werden, denn die Gefühle drücken die emotionale Färbung des Traums aus. Die als gut bezeichneten Träume bringen stets eine frische und belebende Energie, die sich im Körper angenehm anfühlt und froh stimmt. Die schweren Träume belasten das Körpergefühl und beeinträchtigen die Tagesstimmung. Für kleine Kinder, die anfangen, ihre Träume zu erzählen, was meist im Alter zwischen 2-4 Jahren geschieht, stellt es eine enorme Leistung dar, gute und böse Träume voneinander unterscheiden zu können.
Im Umgang mit Kindern lernen Erwachsene eine neue Art des Umgang mit Träumen kennen. Während Erwachsene Wert auf Deutungen oder Analysen legen, verstehen Kinder ihre Träume direkt. Auch wenn sie nach der Bedeutung eines Traumes fragen, wäre es falsch, ihnen eine rationale Interpretation zu geben. Besser ist es, mit dem Kind in die Bilderwelt hinein zu gehen. Wie bei den Märchen auch braucht die Bilder- und Symbolwelt keine Übersetzung. Dadurch kommt ein Element von spielerischer Leichtigkeit in den Umgang mit Träumen, von dem Erwachsene profitieren.
Ich war noch voll drin im Traum!
Kinder beschreiben häufig ihre emotionale Befindlichkeit beim Aufwachen aus einem Traum mit den Worten: Du, ich war noch voll drin im Traum! Sie fühlen sich noch ganz im Traumgeschehen enthalten und spüren vor allem dessen energetische Wirkung, die ja beim Aufwachen nicht zu Ende ist, sondern nun ins Bewusstsein fließt. Auch hier zeigen sich Unterschiede zu den Erwachsenen. Sie können sich schneller von einem Traum distanzieren, während Kinder länger in ihm verhaftet bleiben, sich aus der Traumwelt schwerer lösen.
Der 6jährige Max träumt von einer Insel, auf der er allein lebt. Er muss auf einer Hängebrücke über einen Fluss gehen, in dem gefährliche Krokodile leben, die nach ihm schnappen. Gleichzeitig verfolgt ihn ein böser Mann. Am Ende springt er in den Fluss und wacht auf. Als er die Augen aufmacht, hat er den Eindruck, es sei alles wirklich geschehen.
Der Junge spürt sein Verhaftetsein an das nächtliche Geschehen und kann die Trennung zwischen Traumwelt und Realität nicht gleich vollziehen. Er ist zunächst einfach überwältigt von dem bedrohlichen Geschehen seines Traums. Die Bilder lösen Angst, Verwunderung und Erstaunen aus, und er braucht einige Momente, um sich zu orientieren, und denkt aufatmend, es war ja nur ein Traum! Später erzählt er in der Kita seinen Traum. Wenn Kinder auf diese Art und Weise die Gegensätze von Tag und Nacht, Traumwelt und Realität klar unterscheiden lernen, erhält ihr Bild von der Welt deutlichere Konturen, was sich stabilisierend auf ihr Selbstgefühl auswirkt.
Jetzt muss aber endlich auch von den guten Träumen die Rede sein, die ein Kind mit Freude erfüllen, es in den Tag hinein begleiten, animieren und vorwärts puschen. Der 4jährige Manuel kommt am Morgen freudestrahlend auf seine Erzieherin zu und sagt: Ich habe ein Tor geschossen! Das Tor hat er nachts im Traum geschossen, dort ist ihm geglückt, was er in der Kinderfußballmannschaft noch nicht geschafft hat. Selig lächelnd lag er im Bett, wollte gar nicht aufstehen, um die Wirkung des angenehmen Traums so lange wie möglich in sich zu spüren.
Es sind also nicht immer die Albträume, die ein Kind tagsüber in seiner Fantasie beschäftigen, es können auch die schönen Träume sein, die nicht aufhören sollen, die ein Kind dann im Laufe des Tages einfach weiter träumt, sich aufs Zubettgehen freut, gespannt ist, was heute Nacht im Traumkino dran ist. Und es ist etwas sehr Schönes, wenn ein Kind diese positiven Träume einem Erwachsenen mitteilt, denn der wird angesteckt von dieser Energie und kann sich mit freuen.
Tipps
Es ist wichtig, Kinder nach ihrem Gefühl beim Aufwachen zu fragen, denn darin steckt die Energie des Traums. Anfangs können stereotype Bezeichnungen auftauchen, wie cool, geil, stark. Doch nach einiger Zeit zeigt sich eine zunehmende emotionale Differenzierung in der Sprache. Dann tauchen andere Eigenschaftswörter für ihre Gefühle auf, und wenn der Erwachsene die Worte des Kindes wiederholt, gewinnt es ein immer stärker werdendes Gefühl für seine eigene ganz individuelle Sprache, und es kann auf den Einheitsbrei von cool und geil verzichten.
Beim Träume-Erzählen formt sich Sprache ganz von alleine, und die sprachschöpferische Energie, welche in den Traumbildern steckt, setzt auch sprachgehemmte Kinder in die Lage, einen langen Traum zu erzählen.
In einer Zeit, in der über die Verarmung der sprachlichen Fähigkeiten unserer Kinder geklagt wird, ergeben sich über die Träume neue Zugänge zur sprachlichen Entwicklung der Kinder.
Manchmal meinen Erwachsene, Detektiv spielen zu müssen, suchen nach verhüllten Traumbotschaften, wollen Probleme entlarven, analysieren Symbole und jonglieren mit der Interpretation von Traumbildern. Viele Kinder hören dann mit dem Träume-Erzählen auf oder mogeln dem Erwachsenen zuliebe.
Traumenergie setzt Fantasie und Kreativität frei
Wenn Kinder beim Erzählen dem Fluss des Traumgeschehens folgen, setzen sie unablässig Bilder in Worte und Sätze um, die nicht an die Gesetze der Logik gebunden sind. Das Überraschende wird zum Üblichen, das Grässliche verliert seinen Schrecken, Grenzen können verschwinden, Mauern in den Himmel wachsen. Das erzählende Kind muss dabei ständig seinen Standort wechseln.
Die auf diese Weise eingeübte Flexibilität beschränkt sich nicht auf die Bereiche des Traums, sondern überträgt sich auf den Umgang im Lösen von Alltagsproblemen. Auch Kinder stehen oft vor Entscheidungen, die sie augenblicklich fällen müssen, auf die sie nicht vorbereitet sind. In solchen Situationen erweitert eine frei fließende innere Vorstellungskraft ihre Handlungsmöglichkeiten.
Christoph, knapp 5 Jahre, erzählt einen bösen Traum: "Heute Nacht bin ich in den Rhein gefallen, weil da war ein ganz böser Tyrannosaurus rex hinter mir her. Und dann hat der meine Mama, meinen Papa und alle meine Brüder gefressen, und ich bin den Wasserfall runter gefallen." In dieser Nacht kann der Junge gegen den mächtigen Dinosaurier nichts ausrichten und fällt ins Wasser. Doch da in der Welt des Traums nichts unmöglich ist, sieht die nächste Begegnung mit dem Untier in der folgenden Nacht ganz anders aus. "Ich hab geträumt, dass der Pikatcho von den Pokemons Donner und Blitz macht, aber ich hab ihn einfach weggedrückt und dann hab ich mich unsichtbar gemacht und den Tyrannosaurus rex beobachtet." Während im ersten Traum die Erfahrung von Ohnmacht, Überwältigtwerden und Kontrollverlust dominieren, zeigt sich Christoph im zweiten Traum als ein ganz gewitztes Kerlchen, das die Kontrolle über das Geschehen hat.
Was erzählt wurde, kann sich verändern, denn durch die Aufmerksamkeit, die das Kind mit dem zuhörenden Erwachsenen auf sein Traumgeschehen lenkt, ändern sich seine Bewertung und Einstellung, sodass es im Folgetraum souveräner ist und für sich sorgen kann.
Nie haben Kinder Mühe, ein Bild zum Thema Traum zu malen. Es scheint, als ob solche Bilder leichter zu gestalten sind, weil die Energie des Traums den Gestaltungsprozess erleichtert. Ein tiefes Gefühl der Befriedigung stellt sich danach ein. Nie haben Kinder Mühe damit, aus einem erzählten Traum in ein freies oder gelenktes Rollenspiel überzugehen. Das Darstellen ergibt sich selbstverständlich, und der Traum kann so gespielt werden, wie er geträumt wurde, aber er kann sich auch verändern.
Tipps
Die Kindergruppe kann gerade im Hinblick auf den Umgang mit bedrohlichen Traumsituationen von großer Hilfe sein. Das folgende Spiel wird gespielt, nachdem Christoph seinen Traum erzählt hat: Jedes Kind gibt ihm einen Gegenstand von sich und spricht einen Wunsch aus, z.B.: "Ich gebe dir meine Brille, dann kannst du den Dinosaurier besser sehen." - "Ich gebe dir einen Apfel, den kannst du den Monstern an den Kopf werfen." - "Ich gebe dir meinen Anorak, dann frierst du nicht." - "Ich gebe dir meine Mütze, das ist eine Tarnkappe, dann bist du unsichtbar." - "Ich gebe dir eine Karte von meinen Pokemons, dann bist du nicht allein."
Dieses Spiel stärkt den Gruppenzusammenhalt, weckt vielfältige Ideen und zeigt dem Kind, das gerade einen Albtraum durchgestanden hat, dass es nicht alleine ist, seine Spielkameraden ihn unterstützen mit ihren Ratschlägen und Gaben. Die Ohnmacht aus dem Albtraum wird überwunden, Vertrauen zeigt sich wieder.
Träume-Erzählen als Ritual am Morgen
Mein Tagtraum von den Kindern und Erwachsenen, die sich ihre Träume erzählen, hat einen historischen Hintergrund. Bei Naturvölkern wie den Senoi war es z.B. Sitte, dass sich am Morgen alle Angehörigen des Stammes in eine Runde setzten, um sich zu erzählen, was sich nachts in ihren Träumen ereignet hatte. Dabei spielten die Kinder eine sehr wichtige Rolle, denn sie durften als erste erzählen, wurden ermutigt, sich an ihre Träume zu erinnern. Die Botschaft ihrer Träume wurde beachtet, und wenn sie Albträume gehabt hatten, bekamen sie Tipps und Anregungen für den Umgang damit, wurden z.B. ermutigt, einen abgebrochenen Traum zum Abschluss zu bringen.
Warum also nicht von Zeit zu Zeit im Kindergarten am Morgen oder in der Tagesstätte nach dem Mittagsschlaf zusammen sitzen und Träume erzählen? Solche Runden tragen in starkem Maße zum Angstabbau in einer Gruppe bei, denn oft meinen Kinder, sie seien nicht o.k., wenn sie viele Albträume haben, machen sich Sorgen um ihre Gesundheit, trauen sich von alleine aber nicht, einen Erwachsenen um Rat zu fragen. Doch nun hören sie auf einmal, dass auch andere Kinder nachts schweißgebadet aufwachen, weil der Kinderfresser in ihren Träumen unterwegs ist, und sie atmen auf. Ein Gefühl der Solidarität macht sich breit und wirkt entspannend und gut. Vor allem lernen Kinder auf diese Weise, dass Träumen eine wunderbare Fähigkeit ist.
Und noch ein Weiteres kommt dazu: In der Traumerzählrunde gibt es keine Leistungsunterschiede! Beim Träume-Erzählen sind alle gleich, sodass auch das schwächere Kind seinen Beitrag leisten kann, gesehen und gehört wird, sich gut in der Gruppe fühlt. Und wenn zwischen einigen Kindern ein Wettstreit entsteht, wer den grusligsten Traum erzählen kann, dann ist das eine wunderbare Möglichkeit, sich sprachlich zu erproben und zu erleben, wie sich die Traumenergie mühelos in eine immer reicher und differenzierter werdende Sprache umsetzt.
Tipps
Träume sind Ausdruck der autonom in uns wirkenden Natur. Lebensmöglichkeiten, Wunschvorstellungen, Sehnsüchte, Konfliktdarstellungen und Lösungsmöglichkeiten werden von dort gesteuert. Die im Traum wirkende Kraft des Unbewussten bewirkt das nächtliche Schlafkino, das sich aus Tageseindrücken, alten und zukünftigen Erlebnissen aus dem Speicher der seelischen Festplatte immer wieder neu inszeniert.
Im Traum lernt ein Kind zu handeln, scheitert, handelt erneut, riskiert einen Schritt in Richtung Neuland, erlebt die Freude am gefährlichen Tun und hält auch das Scheitern aus. Unablässig ist es innerlich damit beschäftigt, seine Möglichkeiten auszuprobieren. Entwicklungsimpulse aus dem Unbewussten unterstützen es dabei.
Es tut Kindern gut, wenn Erwachsene sie für das loben, was sie in ihren Träumen leisten und aushalten müssen. Träumend stoßen sie manchmal ja auch auf Situationen, die sie in naher Zukunft bewältigen müssen. Im Traum bewegt sich das Kind bereits auf Wegen, die es in der Realität erst später gehen muss. Dadurch erwirbt es einen Zuwachs an Autonomie.
Träume in Zeiten des Übergangs
In solchen Zeiten träumen Kinder vermehrt, und in ihren Träumen drücken sich u.a. Reifungsschritte aus. Im Hinblick auf eine gute Psychohygiene in der Gruppe lohnt es sich, in den Wochen des Übergangs in den Kindergarten und später, wenn es um die Einschulung geht, nach ihren Träumen zu fragen. Das ist ein guter Anlass, um sie bei der emotionalen Verarbeitung der Veränderung zu unterstützen.
Timo erzählt einen für Übergangszeiten typischen Traum, der an das Märchen von Hänsel und Gretel erinnert, denn es geht um die Frage, ob das Essen noch reicht, ob das Kind an der neuen Schule noch satt wird, ob es so genährt wird, wie es das gewohnt ist und braucht. "In einem kleinen Dorf gehen die Nussecken aus. Das war das Nahrungsmittel für die Kinder. Die Eltern und Erzieherinnen versammeln sich auf dem Marktplatz, als die Kinder schlafen und beschließen, die Kinder in die weite Welt zu schicken."
Bei dem einen Kind stehen die Ängste um sein leibliches Wohlergehen und die Angst vor dem Verlassenwerden im Vordergrund, bei einem anderen Kind ist es die neue Situation des Leistungsnachweises durch Noten, die sich in seinen Träumen niederschlägt. Michaela träumt: "Meine ganze Familie ist bei einem Quiz dabei, und wir müssen viele Fragen beantworten. Jeder, der eine falsche Antwort gibt, wird getötet. Dann bin ich dran, und ich wach auf und schrei ganz laut. Aber die Mama holt mich in ihr Bett."
In den kritischen Übergangszeiten erweitert sich der Lebensrahmen der Kinder. Unablässig durchlaufen sie Wachstumsprozesse; ihre Albträume dokumentieren die große Dynamik des Geschehens und bereiten gleichzeitig auf das Neue vor. In diesen Wochen und Monaten können die Geschichte vom Traumfänger - wird auch Traumsieb oder dreamcatcher genannt - und das gemeinsame Gestalten dieses Objektes eine große Hilfe sein.
Die Geschichte vom Dreamcatcher
Im Stamm der Navajo hängt die Mutter über das Bett eines Kindes ein Traumsieb, um ihm eine Hilfe zur Traumverarbeitung zu geben. Die folgende Erzählung enthält gleichzeitig die Anleitung, wie dieser kleine Gegenstand hergestellt werden kann.
Vor langer Zeit lebte eine Familie in großer Not, denn alle Erwachsenen und die Kinder hatten schreckliche Träume. Der Vater wusste nicht ein und aus und machte sich eines Tages auf den Weg, um beim Großen Geist Rat zu suchen. Er setzte sich in die Prärie und hörte lange auf das Flüstern des Windes. Da krabbelte eine Spinne zu ihm her, setzte sich neben ihn und schaute ihn mit ihren klugen Augen an. Der Vater erzählte ihr von seinem Kummer, und die Spinne versprach, ihm zu helfen. Sie riss zwei Grashalme aus der Erde aus und webte sie zusammen. Dann legte sie Adlerfedern in das Gewebe und sagte, das sei der Geist der Luft. Danach kam ein Stein ins Gewebe, und sie sagte, der Stein sei der Geist der Erde. Dann legte sie eine Muschel ins Gewebe und sagte, das sei der Geist des Meeres. Zum Schluss kam noch ein Strang Perlen ins Gewebe, und sie sagte, dies sei der Geist des Feuers. Nun gab sie dem Vater den Rat, diesen Traumfänger über seinem Bett und dem Bett seiner Kinder aufzuhängen. "Du wirst gut schlafen", sagte sie. "Die guten Träume gelangen durch die Maschen des Netzes in die Welt. Die schlechten Träume aber bleiben zunächst im Netz hängen. Dort werden sie festgehalten, bis der erste Strahl der Sonne sie verbrennt."
Der Traumfänger schafft Distanz zum bösen Traum, denn das bedrohliche Gefühl findet außen ein Objekt, das es festhält. Diese Verlagerung nach außen entlastet, und beim Aufwachen verwandelt sich das Bedrohliche der Nacht durch die Sonne in positive Energie. Bei diesem Vorgang findet eine Transformation des dunklen Erlebens in das helle Licht statt.
Kinder sind von der magischen Wirksamkeit des Traumsiebs überzeugt, sodass es nicht verwunderlich ist, wenn sie in den Wochen danach keine Albträume mehr haben. Tauchen diese wieder auf, weil sie einfach zum Leben gehören, kann der Blick auf den Traumfänger das Kind daran erinnern, dass sich das Schlimme ja verändern wird. Auf diese Weise hilft der Traumfänger bei der Integration von Träumen und wird für die Psychohygiene des Kindes bedeutsam.
Tipps
Manchmal wollen Kinder wissen, was die Erwachsenen träumen. Wer den Mut hat, einen Traum zu erzählen, wird staunen über die Einfühlung der Kinder, ihre Fürsorge, wenn es sich um einen Angsttraum handelt, und ihren Einfallsreichtum, wenn es darum geht, Ratschläge für einen guten Ausgang des Traums zu geben. Es ist für beide Seiten ein wichtiges Erlebnis, weil die sonst üblichen Rollen vertauscht sind.
In den Tagen und Wochen, in denen in der Presse und im Fernsehen über Kindesentführungen berichtet wird, träumen Kinder vermehrt Albträume vom Kinderfresser, Kinderklauer, der Hexe, dem schwarzen Mann und von Kindermördern. Diese Träume helfen bei der Angstverarbeitung.
Im Gruppenraum kann eine Ecke für Bilder von diesen dunklen Träumen reserviert werden. Das entlastet die Kinder. Spiele wie "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann" oder "Ist die schwarze Köchin da?" stabilisieren die Gruppe.
In einer anderen Ecke können Erzieherinnen die Gegenwelt inszenieren, Bilder von guten Träumen aufhängen. An manchen Tagen können sie die Kinder auffordern, sich dem entsprechenden Ort zuzuordnen, je nach dem, was sie geträumt haben. Das gibt tiefe Einblicke in die Dynamik der Gruppe und ist für die Kinder sehr spannend.
Jedes Kind, das einen Traum erzählt, schenkt dem Erwachsenen Vertrauen und Zugang zu einem Teil seines Wesens, der sonst im Verborgenen liegt. "Du, ich will dir einen Traum erzählen", sagt das Kind, und die Antwort des Erwachsenen kann nur heißen: "Ich höre dir gerne zu!"
Literatur
Gertrud Ennulat: "Ich will dir meinen Traum erzählen - Mit Kindern über ihre Träume sprechen", Königsfurt, Krummwisch, ISBN 3-89875-014-0, EUR 12,90
Autorin
Frau Ennulat kann per Email erreicht werden: mail@ennulat-gertrud.de