Aus: Klaus Schüttler-Janikulla (Hg.): Handbuch für ErzieherInnen in Krippe, Kindergarten, Vorschule und Hort. Neuausgabe. München: mvg-verlag, 30. Lieferung 1999
Margarete Blank-Mathieu
1. Kinderstreit ist im Alltag überall zu beobachten
"Hilfe, meine Kinder streiten den ganzen Tag" ist eine vielgehörte Äußerung gestreßter Eltern. Auch Erzieher/innen wissen ein Lied davon zu singen, wie oft sie gezwungen werden, bei Kinderstreitigkeiten einzugreifen. Dabei sind sie der Auffassung, daß Kinder vor allem lernen sollten, ihre Bedürfnisse auf friedliche Weise zu äußern.
Und Kinder werden immer aggressiver, auch in Streitsituationen. Man spricht schon von "Gewalt" im Kindergarten. Vor allem die aggressiven Jungen machen Erzieher/innen Probleme. Sie wissen nicht, wie sie mit Kinderstreit umgehen sollen. Sollen sie darauf vertrauen, daß sich die Kinder schon nicht die Köpfe einschlagen werden und von selbst wieder aufhören zu streiten, sollen sie Streit schlichten und die Kampfhähne trennen, sollen sie den Kindern Lösungsvorschläge machen und Streitsituationen gar nicht erst entstehen lassen?
Menschen sind soziale Wesen, diese Auffassung ist allgemein verbreitet. Wir leben zusammen, und kaum ein Mensch ist glücklich, wenn er keine Freunde hat. Kinder brauchen Freundschaften, sie brauchen andere Kinder zum Spielen, sie benötigen die Zuwendung Erwachsener, sie können nicht alleine leben. Und trotzdem gibt es andauernd Zank und Streit, der nicht selten mit Händen und Füßen ausgetragen wird.
2. Kinder äußern "streitend" ihre Bedürfnisse
Kleinen Kindern fehlen die Worte, um ihre Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. Babys schreien, um sich bemerkbar zu machen. Sie schlagen der Mutter die Flasche aus der Hand, wenn sie keinen Hunger haben, sie schieben fremde Menschen, die ihnen zu nahe kommen, weg. Man könnte sagen, daß bereits kleine Kinder ihre Bedürfnisse in "handgreiflichen Auseinandersetzungen" äußern.
Bei den Zweijährigen ist der Streit um Spielsachen die häufigste Ursache der Auseinandersetzung. Sie schubsen sich und treten nach dem Kind, das ihren Spielsachen zu nahe kommt, sie boxen nach anderen Kindern und ziehen sich an den Haaren. Dabei versuchen sie, sich auch mit Worten und zornigen Schreien bemerkbar zu machen. Kinder äußern ihre Bedürfnisse und Wünsche mit dem ganzen Körper.
Sie streiten, weil sie angenommen werden möchten
Die Personen, die zu ihnen gehören, möchten alle Kinder zunächst für sich alleine haben. Wenn sich nun ein anderes Kind, auch ein Geschwisterkind, der geliebten Person nähert, so versuchen sie, dieses abzudrängen. Wenn die Mutter das kleinere Geschwisterkind auf den Schoß nimmt, so schlägt das größere Kind nach der Mutter oder dem Baby. Viele Kinder äußern den Wunsch, das kleine Geschwisterkind möge weggegeben werden oder tot sein - daß es selbst wieder in den Mittelpunkt des Interesses der geliebten Person rückt.
Im Kindergarten sind vor allem Einzelkinder oft sehr auf die Erzieher/innen fixiert. Sie versuchen, sie für sich alleine zu "erobern", und treten in Konkurrenzkämpfe mit anderen Kindern ein, die sich der Erzieherin nähern. Es dauert eine Weile, bis sie gelernt haben, daß die Erzieherin für alle Kinder gleichermaßen da ist und sie nur einen Teil der Zuwendung beanspruchen können.
Sie streiten, weil sie Selbstbestätigung brauchen
Kinder möchten nicht nur angenommen werden, sie brauchen auch die Bestätigung, daß sie als eigene Persönlichkeit ernst genommen werden. Wenn sie Hunger empfinden, so möchten sie etwas zu essen, auch wenn alle anderen gerade basteln, wenn sie spielen möchten, so verlangen sie nach Spielzeug, auch wenn gerade ein anderes Kind mit diesem spielt. Dabei kommt es zum Streit mit anderen Kindern, zum Streit mit Mutter und Vater und der Erzieherin. Kinder versuchen, andere Kinder am Mitspielen zu hindern, wenn sie mit dem Freund oder der Freundin alleine spielen wollen. Sie drängen sie aus der Puppenecke oder sagen, daß sie nicht mitspielen dürfen. Sie wollen ihre eigene Persönlichkeit vertreten und eigene Wünsche durchsetzen. Sie sind egozentristisch fixiert und möchten ihre eigene Persönlichkeit mit allen Bedürfnissen selbst bestätigt finden.
Sie streiten, weil sie Anerkennung brauchen
Und Kinder brauchen mehr als nur die Bestätigung, daß ihre Bedürfnisse verstanden werden. Sie wollen gelobt und anerkannt werden. Wenn andere Kinder gelobt werden, so drängen sie diese beiseite, zerstören deren Bilder oder Bauwerke, um ihre eigenen besser zur Geltung zu bringen. Sie möchten, daß nicht nur sie, sondern auch das, was sie gemacht haben, anerkannt wird. Wenn sie das Gefühl haben, daß sie nicht genug beachtet werden, so rasen sie einmal durch die Bauecke und werfen alles um. Oder sie nehmen einen Stift und verkritzeln das eben gemalte Bild des Nachbarn. Sie zerstören die Sandburg des Konkurrenten und zerreißen die Papiermaske der Nebensitzerin. Ihre eigenen Werke sollen beachtet werden, sie wollen die Anerkennung der Erwachsenen herausfordern und gehen bei der Wahl der Mittel oft nicht zimperlich um.
3. Kinder wollen wahrgenommen werden
Kinder streiten häufig, weil sie sich nicht anders bemerkbar machen können. Gerade Kinder, die Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse verbal zu äußern, und zudem noch schüchtern sind, versuchen sich durch Streitereien bemerkbar zu machen. In der Kindergruppe sind besondere Strategien nötig, um als Einzelner noch von der Erzieherin wahrgenommen zu werden. Und kein Kind möchte in einer Gruppe "untergehen". Kinder, die das Gefühl haben, nicht beachtet zu sein, streiten sich in den Vordergrund. "Kinder, die Schwierigkeiten haben, machen Schwierigkeiten", dies ist eine Weisheit, die Erzieher/innen bei Streitsituationen auch mit bedenken sollten.
Mitglied einer Gruppe zu sein ist wichtig
Obwohl jede Gruppe aus vielen Einzelpersonen besteht, muß sich jedes Kind doch zunächst einen Platz innerhalb der Gruppe sichern. Wenn ein Kind neu in den Kindergarten kommt, so hat jedes Gruppenmitglied schon eine feste Rolle innerhalb der Kindergruppe. Es gibt feste Freundschaften, lockere Spielgemeinschaften und Außenseiter, die entweder aus der Gruppe ausgeschlossen wurden oder sich selbst immer wieder absondern. Es herrschen Sympathien und Antipathien auch zwischen den Kindern.
Es gilt nun, sich einen Platz in der Gruppe zu erwerben. Dies kann geschehen, indem sich ein größeres Kind aus der Gruppe dem Neuangekommenen zuwendet und es in die Gruppe einführt. Oft gelingt dies aber nur durch Kinderstreit. Es ist oft ein langer Prozeß des Streitens und Aushandelns, bis das neue Kind mitspielen darf.
Die Anerkennung in der Gruppe muß erkämpft werden
Wenn ein Kind als Gruppenmitglied akzeptiert werden will, muß es versuchen, von der Gruppe anerkannt zu werden. Anerkennung kann man sich verschaffen, indem man andere Gruppenmitglieder auf die Seite drängt. "Der ist blöd" oder "schau, wie komisch die Sandra aussieht" können Bemerkungen sein, die zur eigenen Etablierung innerhalb der Gruppe geäußert werden. Vielfach wird auch mit Fäusten um einen Platz innerhalb der Gruppe gekämpft.
Mit besonderen Spielsachen kann man sich beliebt machen. Wenn solche Spielzeuge von zu Hause mitgebracht werden, gibt es häufig Streit. Wer darf mit der begehrten Spielfigur spielen, wer versucht, sie kaputt zu machen, wer versteckt sie, um den Besitzer zu ärgern? Die Kindergruppe teilt sich meist in mehrere Untergruppen ein. Mädchen haben ihre eigene für sie wichtige Gruppe, und für Jungen ist die Jungengruppe besonders bedeutsam. Kleine Jungen werden oft vorübergehend in die Mädchengruppe integriert. Sobald sie sich aber "zu" jungenhaft benehmen, werden sie von dieser ausgestoßen. Spätestens dann beginnt der Kampf, in der Jungengruppe einen Platz zu bekommen.
Die Position innerhalb der Gruppe muß gesichert werden
Jede Gruppe hat ihre eigene Struktur. Es gibt dort Anführer und Mitläufer, es gibt die, die anderen ihre Position sichern, andere, die sie streitig machen, und wieder einige, die versuchen, die Positionen jeweils neu zu verteilen. Auch in einer scheinbar ruhigen, harmonischen Kindergruppe finden diese Rangkämpfe im Verborgenen statt. Vor allem, wenn Kinder neu in die Gruppe aufgenommen werden oder die Großen in die Schule entlassen werden, sind solche Neuverteilungen zu beobachten. Es geht dabei selten ohne handfesten Krach ab.
Wer bestimmt, was in der Bauecke gebaut wird, wer gibt vor, welche Rollenspiele gespielt werden, wer kümmert sich um die Kinder, die ausgeschlossen werden oder am Rande stehen? Je nach Temperament und eigenen Wünschen wollen Kinder sich innerhalb einer Gruppe einen Platz sichern. Und es gibt immer Konkurrenz. Diese muß, unter Umständen mit Händen und Füßen, ausgeschaltet werden. Bausteine sind als Wurfgeschosse gut geeignet und auch das heimliche Schubsen an scharfe Möbelkanten ist eine gute Möglichkeit, es dem Konkurrenten zu zeigen, wer hier die Macht hat. Viele "Versehen" sind durchaus geplante Durchsetzungsstrategien.
Kinder wollen als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen werden
Nicht nur die Gruppenposition ist zu erkämpfen. Die Erzieherin und die anderen Kinder sollen auch die Eigenständigkeit jedes Kindes sehen. Kinder legen z.B. großen Wert auf ihren Namen. Sie versehen ihre Bilder mit den eigenen Insignien und achten sehr darauf, daß ihr Name auch richtig geschrieben ist. Ihr Eigentum muß geachtet werden, sie bestehen darauf, daß nur solche Kinder ihre persönlichen Sachen anfassen dürfen, die sie selbst dazu bestimmen. So kommt es zu Zank um die Teilhabe am Vesperbrot, das man nur mit dem Freund oder der Freundin teilt, um die Verteilung von Obst und Süßigkeiten. Wer bekommt vom Geburtstagskuchen etwas, wer darf beim Geburtstagsfeiern mit am Tisch sitzen?
Kinder können verletzt werden, wenn ihr Eigentum angegriffen wird. So werden Hausschuhe versteckt, die Vespertasche wird mal schnell zwischen die Büsche geworfen, die Mütze wird in die Toilette versenkt. Es gibt viele Möglichkeiten, ein ungeliebtes Kind zu ärgern. Indem man die Persönlichkeit des anderen Kindes verletzt, kann man seine eigene besser zur Geltung bringen. Und oft gewinnt man durch solche Aktionen auch die Anerkennung der Gruppe.
Kinder haben individuelle Bedürfnisse
Kinder brauchen zu unterschiedlichen Zeiten Zuwendung. Sie haben unterschiedliche Bedürfnisse nach Aktion, nach Ruhe, nach Spielmöglichkeit. Innerhalb des Kindergartenalltags sind diese unterschiedlichen Bedürfnisse schwer zu befriedigen. Der Toberaum kann nicht gleichzeitig von allen genützt werden, in die Kuschelecke drängen mehr Kinder, als dort Platz finden, beim Gesellschaftsspiel mit der Erzieherin möchten alle Kinder gleichzeitig mitmachen.
Ständig entstehen Situationen, in denen Kinder ihre Bedürfnisse zurückstecken sollen und andere bevorzugt werden. Da geht es nicht ohne Streit ab. Warum darf Tobias in den Werkraum und ich muß warten, warum stören die großen Jungen die Mädchen in der Kuschelecke, warum hat mir Max mein Pausenbrot weggegessen und ich habe jetzt nichts mehr zum Essen? Da wird heimlich geschubst, abgedrängt, gestoßen und Rache geübt. Es kommt immer wieder zum offenen Kampf zwischen einzelnen Kindern oder ganzen Kindergruppen, weil die individuellen Bedürfnisse von Kindern nicht berücksichtigt wurden.
Kinder wollen als "besonderer" Mensch wahrgenommen werden
Jedes Kind hat besondere Begabungen und Tage, an denen es zeigen will, was es gut gemacht hat. Es weiß beispielsweise, daß es sich heute beim Malen besonders angestrengt hat. So will es für sein Bild auch besonders gelobt werden. Oder es will dafür anerkannt werden, daß es den Tisch besonders schön gedeckt hat oder beim Aufräumen heute besonders fleißig war. Oft kann eine Erzieherin solche besonderen Situationen nicht erkennen und wundert sich, warum Kinder plötzlich zu streiten beginnen.
Kinderstreit kann entstehen, weil Kinder ihre Besonderheit zeigen wollen und dafür auch Bestätigung erlangen möchten. Dies kann auch innerhalb der Kindergruppe zu Streit führen, wenn ein Kind seine besonderen Ideen umsetzen möchte und diese vor den anderen herausheben will.
Kinder brauchen auch eine besondere Beachtung und erstreiten sich diese häufig. Wenn die Erzieherin darauf achtet, was Kindern wichtig ist und was es bei ihnen zu "bewundern" gibt, kann sie manchen Streit vermeiden helfen.
Kinder wollen geliebt werden
Nicht nur in der Familie, sondern auch im Kindergarten möchten Kinder um ihrer selbst willen geliebt werden. Die Erzieherin soll das Kind auf den Schoß nehmen, mit ihm ein Spiel spielen, es vor allen anderen loben. Die anderen Kinder sollen es in seiner Eigenart anerkennen, es will einen eigenen Freund oder eine besondere Freundin, die ihm zeigt, daß es geliebt ist und bewundert wird.
Es gibt innerhalb der Gruppe immer wieder Streit um die Freundschaft von einzelnen Kindern. Wenn ich den Anführer, die Anführerin als Freundin gewinnen kann, so werde ich auch selbst geliebt - ich kann mich vor den übrigen Kindern behaupten, werde selbst als Spielkameradin begehrt und erhalte immer wieder die Bestätigung, geliebt und geachtet zu werden.
Kinder sichern sich die Liebe anderer Kinder auch über die Verteilung von materiellen Gütern. Sie bringen Geschenke mit und versuchen damit, sich beliebt zu machen. Es kann zu regelrechten "Kriegen" zwischen einzelnen Kindern führen, wer die anderen Kinder besser "bestechen" kann.
Gerade Kinder, die sich nicht wegen eines angenehmen Wesens oder besonderen Begabungen durchsetzen können, versuchen auf diese Art und Weise, die Liebe und Achtung von anderen zu erringen. Dies gilt auch, wenn ein Kind der Erzieherin ständig Geschenke macht.
4. Wozu ist Kinderstreit nötig?
Die Frage, ob Kinderstreit überhaupt nötig ist, stellt sich durch die vorangegangenen Ausführungen meiner Meinung nach nicht mehr. Viele Eltern und Erzieher/innen meinen ja, daß es ein anerkennenswertes Ziel sei, Kinderstreit möglichst zu vermeiden oder gänzlich verhindern zu können. In Streitsituationen können die Kinder aber für sie wichtige Erfahrungen machen.
Da Kinderstreit vielerlei Ursachen hat, muß er in jedem Fall ernst genommen und als Ausdruck von bestimmten Bedürfnissen wahrgenommen werden.
Abgrenzung zu anderen Kindern
Kinder brauchen die Abgrenzung zu anderen Kindern. Sie müssen ihren eigenen Raum erobern, ihre Grenzen abstecken. Sie zeigen in Streitsituationen, was sie nicht wollen und wozu sie nicht bereit sind. Sie brauchen den eigenen Platz, die eigenen Spielräume, die eigenen Freundschaften. Sie erstreiten sich einen Platz in der Jungen- oder in der Mädchengruppe und grenzen ihr Territorium ab, indem sie andere Kinder ausgrenzen, mit manchen nicht spielen wollen, nicht gemeinsam in Spielsituationen gedrängt werden möchten. Sie wollen ihre eigene Wesensart verteidigen, indem sie Abgrenzungen zu anderen Kindern vornehmen.
Durchsetzung eigener Interessen
Kinderstreit entsteht, wenn Situationen die Durchsetzung der eigenen Interessen verhindern. Wenn ein Kind im Spiel vertieft ist und noch keine Lust zum Aufräumen hat, kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Erzieherin und anderen Kindern. Wenn ein Kind in der Bauecke spielen möchte und von den anderen Kindern weggeschickt wird, kommt es zum Konflikt. Es kann auch Streit geben, wenn zwei Kinder gleichzeitig dasselbe Spielzeug beanspruchen. Es ist nötig, daß ein Kind lernt, die eigenen Bedürfnisse zu formulieren und auch durchzusetzen. Oft geht dies nicht ohne Streit ab.
Auf sich aufmerksam machen
Es gibt Kinder, die nur dadurch auf sich aufmerksam machen können, daß sie stören. Sie versuchen, Konflikte heraufzubeschwören, damit die Erzieherin sich sie kümmert. Kinder, die plötzlich, scheinbar ohne Grund zu weinen beginnen, weil die Nebensitzerin von fünf gleichen Rotstiften einen weggenommen hat, den man selber haben möchte, zeigen, daß sie weniger um diesen Rotstift als um die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung bemüht sind. Viel Zank entsteht somit lediglich dadurch, daß Kinder zeigen wollen, daß sie da sind, daß sie die Aufmerksamkeit auf ihre Person lenken müssen, weil sie sich sonst unbeachtet oder zu wenig ernst genommen fühlen.
Benachteiligungen formulieren
Kindern ist es oft nicht möglich, in Worten das Gefühl, benachteiligt zu werden, auszudrücken. Je kleiner die Kinder sind, desto mehr werden sie, wenn sie sich benachteiligt fühlen oder tatsächlich benachteiligt werden, mit anderen zanken, die ihnen ihrer Meinung nach vorgezogen werden. Da hilft oft eben nur noch, wegzuschieben, sich vorzudrängen, den anderen schlecht zu machen, ihm das Spielzeug aus der Hand zu reißen, seine Bauwerke zu zerstören.
Kinder müssen die Möglichkeit bekommen, ihre anscheinende oder tatsächliche Benachteiligung auf andere Weise als streitend formulieren zu können. Wir müssen ihnen aber auch zugestehen, daß sie gegen Benachteiligung kämpfen und sich nicht damit abfinden.
Ihre Kräfte messen zu können
Manchmal nehmen wir Erwachsene Streitsituationen wahr, die in Wirklichkeit gar keine sind. Oft ist es nur ein Kräftemessen, das da stattfindet. Es kann sich um ein Streitgespräch handeln, in dem Kinder versuchen, einander zu übertrumpfen, die besseren Behauptungen aufzustellen, sich in noch phantasievollere Bilder hineinzusteigern. Ganze Phantasiegeschichten entstehen, in denen Kinder einander mit immer phantastischeren Vorstellungen übertrumpfen. Oft geht es von einer Fernsehgeschichte aus, oder es werden Behauptungen aus der Wirklichkeit aufgestellt, die jeder Grundlage entbehren. "Mein Bruder hat...", so fängt es vielleicht an, und das andere Kind hat einen Cousin, der noch stärker ist, einen Onkel, der noch weiter gereist, ein Erlebnis, das noch schrecklicher war, vorzuweisen.
"Kämpfe" entstehen in einer Ecke des Gartens. Jungen messen ihre Kräfte, und da genügt der kleinste Anlaß, um den anderen wieder mal beweisen zu können, daß man stärker ist. Aber oft wird aus solchem Kräftemessen auch blutiger Ernst. Es ist nicht ganz einfach zu entscheiden, ob es sich bereits um einen Streit handelt, der zu eskalieren droht, oder noch um harmloses Kräftemessen.
Selbstbestätigung und Durchsetzungsvermögen erwerben
In Streitsituationen kann die Bestätigung der eigenen Person eingefordert werden. Das Kind zeigt damit, daß es sich wehren kann, daß es nicht bereit ist zurückzustehen. Es kann sich als Sieger erleben. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Selbstbestätigung. Jedes Kind muß sich auch als Sieger erleben können. Es muß sich gegen andere durchsetzen lernen, darf nicht immer zurückstecken. Kinder brauchen Situationen, in denen sie sich mit anderen auseinandersetzen können und ihre Fähigkeiten hervorheben, um ihre eigene Position zu behaupten. Sie müssen sich als mächtig und durchsetzungsfähig erleben, sie müssen spüren, daß sie trotz ihrer Kleinheit und Machtlosigkeit Möglichkeiten finden, sich selbst auch gegen Erwachsene zu behaupten. Dazu ist viel Aushandeln nötig, das geht häufig nicht ohne Streit ab.
Frustrationstoleranz erhalten
Aber auch das andere will gelernt werden: verlieren zu können. Die meisten Kinder sind schlechte Verlierer. Aber geht es Erwachsenen anders? Gewinnen ist immer von einem besseren Gefühl begleitet als zu verlieren. Es kann aber nicht immer und lauter Gewinner geben. Das Leben ist voller Niederlagen. Das erlebt ein Kind täglich. Es kann nicht immer essen, wenn es Hunger hat, es hat nicht immer Ruhe, wenn es gerne alleine sein möchte, es kann nicht überall herumtoben. Es wird ständig ermahnt, erzogen, kritisiert - ein Wunder, wenn ein Kind dabei noch Selbstbewußtsein entwickeln lernt!
Je mehr ein Kind sich lernt durchzusetzen, je öfter es Erfolg damit hat, je mehr es sich geliebt fühlt und je eigenständiger es sich in seiner Umgebung zurechtfindet, desto eher erlernt es - statt zu resignieren - eine Frustrationstoleranz, die ihm hilft, mit unangenehmen Situationen zurechtzukommen.
Ein Kind, das auch verlieren kann, ist nicht mehr so verletzlich. Es kann dann auch wieder neue Erfahrungen machen. Ein andermal wird es gewinnen! Wenn ihm dies bewußt ist, kann es mit Frustration lernen zu leben. Heute mußte Felix lange warten, bis er von der Erzieherin beim Spielen drangenommen wurde. Er hat sich deswegen mit seinem besten Freund gestritten. Morgen wird er sich wieder vertragen. Er wird dann auch sagen, daß er aber diesmal als Erster drankommen muß.
Verlieren können ist so eng mit Erfolg und Gewinnen verbunden. Beides gehört untrennbar zusammen und ist oft nur durch Streit und Aushandeln zu erreichen.
5. Wie sollen Erzieher/innen mit Kinderstreit umgehen?
Ist es nicht die Aufgabe jeder Erzieherin, Kinderstreit so zu lenken, daß die Bedürfnisse von Kindern zu ihrem Recht kommen? Muß sie eingreifen oder sollte sie zuwarten? Welche Erfahrungen müssen Kinder machen und vor welchen muß die Erzieherin sie bewahren?
Kinder müssen streiten, auch wenn dies für die Erzieherin schwer auszuhalten ist oder die Gruppe darunter leidet. Kinderstreit ist wichtig. Diese Erkenntnis hilft einer Erzieherin, damit angemessen umgehen zu können.
Welche Ziele kann sich nun der Kindergarten in Bezug auf Kinderstreit setzen?
Notwendigkeit für die soziale Entwicklung
- Kinder müssen lernen, sich in der Gruppe zu behaupten.
- Sie müssen sich durchsetzen und zurücknehmen können.
- Sie können ihre Bedürfnisse formulieren lernen.
- Sie können sich Anerkennung verschaffen.
- Kinder müssen sich einen Platz in der Gruppe erkämpfen und diesen verteidigen.
- Sie können in Streitsituationen Partei ergreifen oder sich zurücknehmen.
- Sie lernen zu verlieren und dürfen auch die Erfahrung machen zu gewinnen.
- Das Formulieren von eigenen Wünschen gegenüber der Gruppe und der Erzieherin kann situationsgemäß erlernt werden.
- Das Durchhaltevermögen kann auch im Konfliktfall erprobt werden.
- Kinder können sich als handelnde Person innerhalb einer Gruppe erleben und spüren, daß sie eine Wirkung erzielen.
Notwendigkeit zur Entwicklung der Selbstkompetenz
- Ein Kind lernt herauszufinden, was ihm Spaß macht und was es nicht gerne tut.
- Es kann die eigenen Fähigkeiten erproben und sich gegenüber einem anderen Kind behaupten.
- Es lernt, eine Sache von verschiedenen Seiten zu betrachten.
- Es kann ein sich selbst gestecktes Ziel verwirklichen.
- Es lernt, Mißerfolge zu verkraften.
- Ausdauer und Konfliktlösungsmöglichkeiten können erlernt werden.
- Es lernt, mit Ängsten zurechtzukommen, Angriffe auf die eigene Person abzuwehren, Enttäuschungen zu verarbeiten.
Notwendigkeit für Alltagsstruktur und Regelverständnis
- In Aushandlungssituationen kann ein Kind lernen, eine Tagesstruktur zu akzeptieren.
- Es kann sich selbst als jemanden erleben, der auf den Tagesablauf Einfluß nehmen kann und sich in anderen Fällen der vorgegebenen Struktur anpasst.
- In Konfliktsituationen können neue Regeln erprobt werden und alte abgeschafft werden.
- Kinder können die eigenen Bedürfnisse innerhalb einer vorgegebenen Struktur formulieren und durchsetzen.
- Beteiligungsprozesse können von Kindern eingefordert werden.
- Kinder können sich als kompetent für ihren eigenen Lebensbereich erleben.
Erzieher/innen, die diese Notwendigkeiten erkannt haben, können mit Konfliktsituationen zwischen den Kindern und innerhalb der Kindergruppe besser umgehen. Sie müssen nicht jeden Streit versuchen zu schlichten, müssen Streiten nicht grundsätzlich als etwas Negatives bewerten. Dennoch können sie Konfliktsituationen nicht einfach ignorieren.
Beobachten von Streitsituationen
Erzieher/innen werden zunächst Streitsituationen beobachten und die Entwicklung der Kinderstreitigkeiten verfolgen. Sie versuchen, sich ein Bild zu machen, weswegen es zum Streit kam und welche Herausforderung dabei an die Kinder gestellt wird. Die Kinder sollten sich dabei unbeobachtet fühlen und ihre eigenen Strategien ausprobieren dürfen.
Erzieher/innen können sich fragen, was Kinder aus diesem Streit lernen können und was für Kinder dabei wichtig ist. Sie sollte auch überlegen, ob Kinder Bedürfnisse in Streitsituationen äußern, die im Kindergartenalltag zu kurz kommen. Müssen sie selbst andere Rahmenbedingungen schaffen, sind Unterstützungsmaßnahmen für einzelne Kinder oder die Kindergruppe notwendig?
Bei Konflikten, die sich häufig wiederholen, ist es für die Erzieherin wichtig zu entscheiden, ob Kinder diese Konflikte alleine bewältigen oder ob sie Hilfe von Erwachsenen benötigen. Eventuell wird ein Kind zum "schwarzen Schaf" innerhalb der Gruppe gemacht - das kann sie nicht zulassen. Kinder, die sich in Konfliktsituationen nicht zurechtfinden, die darunter leiden, deren vielleicht vorhandenen Probleme verstärkt werden, müssen Hilfe bekommen. Oft ist das Zusehen und Gewährenlassen pädagogisch nicht ausreichend.
Mit Kindern zusammen Streitsituationen zur Sprache bringen und Bewältigungsstrategien entwickeln
Wenn die Erzieherin merkt, daß Konflikte nicht gelöst werden, Kinder unterdrückt werden, Probleme aufgeworfen werden, die mit ihrer Erziehungsaufgabe zusammenhängen oder die sich durch eine andere Struktur vermeiden lassen, muß sie mit den streitenden Kindern sprechen. Da es sich oft um Streitereien handelt, die nicht nur zwischen einzelnen Kindern stattfinden, sondern die ganze Gruppe belasten, ist es sicher gut, die Konflikte auch in der Gruppe offen anzusprechen.
Konflikte, die aus persönlichen Motiven heraus aufgebrochen sind (z.B. Ausländerfeindlichkeit von Kindern), sind Beispielgeschichten und Bilderbuchbetrachtungen eine Möglichkeit, auf ein Problem aufmerksam zu machen. Wenn solche Konflikte abgekoppelt von persönlichen Beziehungsmustern betrachtet werden können, so können Kinder ein eigenes Problembewußtsein entwickeln. Sie werden als kompetente Personen angesprochen und lernen Zusammenhänge zu begreifen und Stellung zu beziehen.
Viele Probleme, die im Kindergartenalltag zum Streit führen, sind in Bilderbuchgeschichten verpackt. Erzieher/innen sollten sich solche Geschichten zu Hilfe nehmen, um Verständnis für Kinder aus anderen Lebenszusammenhängen und anderen Kulturen zu wecken. Probleme zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen starken und schwachen Kindern, zwischen verschiedenen "Kinderbanden" werden in diesen Büchern thematisiert.
Und Kinder sind durchaus bereit, solche Dinge aus ihrem Alltag aufzugreifen und dazu Ideen und Bewätigungsstrategien zu entwickeln. Wenn sie selbst in die Überlegungen einbezogen werden, anstatt ihnen einfach diese "unnötigen" Streitereien zu verbieten, kommt es zu dauerhaften Lösungsmöglichkeiten, die für alle Teile ein befriedigendes Ende finden.
In Streitsituationen eingreifen
Streit, der gewaltsam ausgetragen wird, muß unverzüglich beendet werden. Wenn stärkere Kinder auf schwächere losgehen, ihnen etwas aus der Hand reißen, sie mit Gegenständen schlagen oder nach ihnen werfen, muß die Erzieherin den Streit beenden. Dies sollte jedoch nicht geschehen, ohne mit den Kindern hinterher darüber zu sprechen. Sicher gab es einen Grund, daß der Streit eskalierte.
Wenn Kinder sich nur auf handgreifliche Weise durchsetzen können, so müssen neue Strategien mit ihnen ausgehandelt werden, daß sie sich auf andere Weise durchsetzen und ihre Wünsche vertreten lernen. Auch bei Kindern gibt es jähzornige, die immer gleich "ausrasten".
Streiten kann man auch lernen. Dazu kann die Kindergruppe ein Übungsfeld sein. Die Erzieherin wird dabei unterstützen und hin und wieder einen Streit beenden müssen, der von den Kindern selbst nicht angemessen beendet werden kann.
Mit Eltern zusammen Positionen erarbeiten
Wenn es sich um jähzornige Kinder oder Temperamentsausbrüche handelt, die immer wieder zu Streit führen, wenn ein Kind sich nicht wehren kann und immer wieder bei der Erzieherin Schutz sucht, so ist dies eine gute Gelegenheit, auch mit den Eltern über Streit unter Kindern Gespräche zu führen.
Eltern klagen selbst auch häufig über Geschwisterstreit. Sie wissen, wie schwer solche Situationen oft auszuhalten sind und wie wenig sich Kinder aus dem Streit machen. Heute streiten sie erbittert und morgen sind sie die besten Freunde.
Eltern verbieten ihren Kindern, mit einem Raufbold weiter zu spielen, und nehmen den Kindern dadurch die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, welche Spielkameraden für sie nötig sind und was ihnen an dem Streit wichtig ist.
Elternabende zum Thema Kinderstreit wären ein guter Einstieg in das Thema. So werden einzelne Kinder nicht zu Raufbolden abgestempelt, andere kommen nicht in den Verdacht, sich nicht wehren zu können.
Es gibt eine Menge hilfreicher Literatur, die für die Vorbereitung solcher Elternabende als Gesprächsgrundlage verwandt werden kann. Eltern und Erzieher/innen können sich über Streitsituationen unterhalten, unterschiedliche Positionen erörtern, überlegen, wann bei Kinderstreit eingegriffen werden soll und warum.
Kinder bekommen im Elternhaus Verhaltensmaßregeln, wie sie sich bei Streitsituationen verhalten sollen. Diese sind oft von dem Konzept, das im Kindergarten vertreten wird, verschieden. Kinder werden dadurch verunsichert und können keine neuen Erfahrungen machen und verschiedene Strategien ausprobieren. Sie erwerben nicht das nötige Selbstbewußtsein, um sich durchsetzen und zurückstehen zu können. Dies ist aber das Hauptziel, das für jeden Streit gesetzt werden soll.
Wenn ein Kind beim Streiten neue Kompetenzen für seine Person erwirbt, neue Erfahrungen machen kann, so ist Streiten ein wichtiges Element der Persönlichkeitsbildung. Wenn es aber durch Streitsituationen geschwächt, abgestumpft und abgewertet wird, so ist ein Streit baldmöglichst zu beenden.
Im Kinderalltag ist das Streiten eine wichtige Erfahrungsmöglichkeit der eigenen Fähigkeiten und Grenzen. Es darf nicht abgeblockt werden. Mit Eltern zusammen kann die Einrichtung Konzepte entwickeln, wie Kindern in Streitsituationen Unterstützung und Hilfsmöglichkeiten angeboten werden können, ohne sie in ihrer eigenen Art abzulehnen und zu Mitläufertum zu erziehen.
Kinder, die wissen, was sie wollen, müssen sich auch durch Streiten durchsetzen können und, um zu erfahren, was sie wollen, müssen sie auch streiten dürfen.
Streit darf zunächst nicht negativ interpretiert werden. Er gehört zur Entwicklung von Kindern notwendigerweise dazu. Er dient zur Persönlichkeitsentwicklung und Weiterentwicklung bis ins Erwachsenenalter hinein. Aber Streiten muß ein Stückweit gelernt werden. Dazu müssen wir den Kindern im Kindergartenalltag ein Podium bieten. So werden Streitsitutionen zu Aushandlungsprozessen, an denen die Kinder ihre Kräfte messen und vergleichen können, ohne in aggressiver Weise ihre Wünsche durchsetzen zu müssen.
Als Erwachsene sind wir stets auch ein Vorbild, das die Kinder gerade in Konfliktsituationen abbilden. Wie gehen wir mit schwierigen Situationen um? Wollen wir unseren Willen mit "Macht" durchsetzen, sind wir bereit, den anderen und seine Argumente anzuhören, und versuchen wir, eine gemeinsame Lösung zu finden? Kinder beobachten die Erzieher/innen im Kindergarten. Sie sehen, wie Eltern auf Erzieher/innen zugehen, hören, wenn sie über Erzieher/innen sprechen.
Als "Vor-bilder" sind wir auch immer wieder aufgerufen, unser eigenes Verhalten zu hinterfragen und mit den Eltern zusammenzuarbeiten. Wie Kinderstreit abläuft, hängt nicht zuletzt von unserer "Modellfunktion" ab.
6. Literatur
Bates, Ames L.: Der hat aber angefangen, München 1986
Blank-Mathieu, M.: Immer etwas Besonderes: Die Bedeutung von Kinderfreundschaft und Kinderstreit für die Identitätsentwicklung. In: TPS 4/1996
Bleckmann, R.: Soziales Verhalten im Kindergarten, Freiburg 1984
Deißler, H.H: Freundschaft unter Kindern. In: Kindergarten heute 2/1996
Faber, Adele/Mazlish, Elaine: Hilfe, meine Kinder streiten, Droemer Knaur 1988
Endres, Wolfgang: Geschwister, sie haben sich zum Streiten gern, Beltz 1984
Salomé, Jaques: Ich sage, was ich meine, Ravensburger 1994
Redl, Fritz/Wineman, David: Steuerung des aggressiven Verhaltens beim Kind, München 1978