Charmaine Liebertz
Wir haben das Notwendigste vergessen: Die Kunst der Menschenbildung! (Jean-Jacques Rousseau)
In einem Jahrhundert, in dem sich das Weltwissen alle 5 bis 10 Jahre verdoppelt - jährlich veröffentlichen Wissenschaftler weltweit ca. 6 Millionen Fachartikel, das sind täglich 17.000 Artikel!, - ist es höchste Zeit, dass wir uns als Pädagogen auf unsere eigentlichen Fähigkeiten als Erzieher mit Kopf, Herz und Hand besinnen und die Herzensbildung wieder in den Vordergrund unseres pädagogischen Bestrebens rücken. Denn die pure Wissensvermittlung vermögen jetzt die Neuen Medien wesentlich ansprechender und schneller zu realisieren als wir.
Außerdem war die Rolle des Wissensvermittlers noch nie ein uns erfüllendes Berufsziel. Oder? Der Abschied davon sollte uns nicht wehklagen, sondern jubilieren lassen. Wenn wir uns als Menschenbildner mit Kopf, Herz und Hand im alten reformpädagogischen Sinne (u.a. Fröbel, Montessori, Petersen, Freinet) verstehen und dazu die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Hirnforschung sowie die Bedingungen der Neuen Kindheit berücksichtigen, dann haben wir nichts verloren, sondern viel gewonnen. Nur der Pädagoge, der sich als Wissensvermittler versteht, wird im nächsten Jahrzehnt rasch durch die Neuen Medien verdräng- und ersetzbar sein. Der Pädagoge mit Kopf, Herz und Hand wird jedoch immer wertvoller werden!
Eine Wissensgesellschaft, die glaubt, alles zu wissen, wenn nur die Informationsflüsse kräftig fliessen, beweist letztendlich, wie wenig sie verstanden hat. Denn sie unterliegt dem Irrglauben, je mehr die Flüsse an Informationen transportieren, um so größer würde das Meer der Erkenntnis. Der Topmanager Daniel Goeudevert (2001) warnt: "Wir sind reich an Infos, drohen in diesem Überfluß zu ertrinken und sind zugleich oder gerade deshalb arm an gelebtem Wissen, an erfahrenen Gefühlen und stabilen Werten. Immer mehr satte Menschen verdursten emotional! Wissen ohne Einbindung in eine moralische Kultur des Humanen ist barbarisch" (S. 20, 32).
Als der Philosoph Max Scheler sagte "Wissen ist Teilhabe am Seienden", da meinte er lebendigen Austausch, emotionale Begegnung und Anteilnahme. Dies ist nur im realen Leben mit echten Menschen möglich; in der kleinen Welt des Faktenwissens per Internet sind die Erkenntnishorizonte recht begrenzt. Denn wer frei Haus beliefert wird, braucht nicht mehr auf Fahrt zu gehen und bleibt somit unerfahren.
Wir stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor entscheidenden Fragen: Wann ist der Siedepunkt der Informationsmenge erreicht? Wie lange noch können unsere Emotionen die Spirale des Immer-noch-mehr verkraften? Wann schlägt die emotionale Kälte in Gewalt um? Werden wir rechtzeitig erkennen, dass nicht die Aneignung von Wissensmengen unsere Zukunft gewährleistet, sondern unsere Fähigkeit, Körper, Geist und Psyche ganzheitlich zu integrieren? Welche Pädagogik setzt sich gegen laute Reize durch?
Eine losgelöste Werteerziehung in Nischen - z.B. in einzel ausgewiesenen Unterrichtsstunden - wird diese Fragen nicht beantworten können. Es geht um die Wertefrage in der Erziehung schlechthin, denn Erziehen bedeutet überall und jederzeit abwägen, entscheiden und somit bewerten. Aber wenn der Mensch ausschließlich über seine Schulnoten, seinen Erfolg, seine Karriere und sein Vermögen definiert wird, dann gibt es keinen Wert, keinen Sinn mehr außerhalb, dann regiert der Druck. Und wo Sinn fehlt und Druck regiert, da blühen Angst, Gewalt und Depression.
Jeder Einzelne und insbesondere Kinder brauchen im unsteten Fluß der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen verlässliche Geländer. Kinder lassen sich nicht erziehen oder bilden. Beides gehört untrennbar zusammen. Die Werteerziehung läßt sich nicht an die Anderen delegieren. Sie fängt bei jedem von uns an.
Stellen Sie sich, liebe Eltern, daher früh genug die Frage "Was soll aus meinem Kind werden?" Begnügen Sie sich nicht mit rasch aufkommenden Antworten: "Erfolgreicher Arzt, Unternehmer oder Rechtsanwalt." Sie haben im Laufe Ihres Lebens oft genug erfahren, dass Leistung und Erfolg zwar von unserer Ellbogengesellschaft gefordert werden, aber für ein glückliches Leben nicht ausreichen.
Stellen Sie sich als Erzieher und Lehrer die Frage nach dem Profil Ihrer Einrichtung, nach dem Ziel und dem Sinn Ihrer Arbeit mit Kindern: "Welches Menschenbild strebe ich in meiner Erziehung, in meinem Unterricht an?" Wenn Sie diese fundamentale Frage immer wieder zulassen, werden Sie Antworten erhalten, die Kinder substantieller und nachhaltiger helfen als kurzfristige Leistungsprofile.
Ein Lehrer am Gutenberg Gymnasium in Erfurt, antwortete in einem Fernsehinterview (April 2003) - anlässlich des einjährigen Gedenktages nach dem Anschlag, an dem 16 Menschen starben - auf die Frage, welche Lehre er aus dem Anschlag ziehe: "Ich nehme mir nun die Freiheit heraus, weniger gesetzlich und mehr menschlich zu sein."
Mir bleibt nur der Appell an alle Pädagogen: Es bedarf keiner Freiheit, menschlich zu agieren, wenn man mit Menschen umgeht, es ist das Fundament unseres Berufs, unsere selbstverständliche Pflicht! Es ist höchste Zeit zu begreifen, dass Kinder nicht erfolgreich lernen können, wenn sie nur belehrt werden und Stoff dargeboten bekommen, den sie bloß übernehmen sollen ohne persönliche Bedürfnisse und Gefühle.
Optimales Lernen bedeutet, Eigeninitiative und emotionales Engagement zu mobilisieren, nicht Fakten zu konsumieren. Schule ist keine Tankstelle, wo Schüler Karrierekraftstoff für die Zukunft abfüllen können, um mit Vollgas durch's Leben zu surfen. Schule ist ein empfindlicher sozialer Mechanismus, in dem Regeln des menschlichen Umgangs entworfen und eingehalten werden müssen. Wer Lernen als sachliches intellektuelles Geschäft ohne emotionalen Kontext versteht, der darf sich nicht wundern, wenn er vom Pädagogen zum Dompteur mutiert, der ständig die Disziplinpeitsche schwingt, um die sozialen Interaktionen der Gruppe in den Griff zu bekommen.
Lehren heißt mehr als vermitteln, es bedeutet vor allem initiieren. Unser Vorbild als Pädagogen ist dabei entscheidend. Lehrer, die zu spät zum Unterricht kommen oder schlecht vorbereitet sind, legitimieren ihre Schüler, das Gleiche zu tun. Erzieher, die alljährlich die alte Bastelvorlage für die Martinslaterne hervorkramen, sind schlechte Vorbilder für Eigeninitiative und Kreativität.
Unserem Erziehungs- und Lernprozess fehlt ein verlässliches Sinn-Fundament, ein erstrebenswertes Menschenbild. Bildung ist mehr als unverbindliche Schöngeisterei, als bloßes Faktenwissen, mit dem man auf einer Party Eindruck schinden kann. Zur Bildung im 21. Jahrhundert gehört vor allem der souveräne Umgang mit den Schlüsselqualifikationen der Zukunft: soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz. Ihre Förderung sollte fester Bestandteil einer jeden Bildungs- und Erziehungskonzeption sein.
So nehmen Kinder in ihrer Lernlaufbahn viel Wissen auf, aber ihre Bewusstseinsentfaltung, Persönlichkeitsentwicklung und Herzensbildung bleiben oft auf der Strecke. Wo lernt ein Kind, was zum eigenen Wohlbefinden und das der anderen erforderlich ist, wie man seinen Beruf findet und ausfüllt, wie man seine Probleme löst und seine Ziele erreicht, wie man eine harmonische Partnerschaft aufbaut? Immerzu hört es während seiner Schullaufbahn: "Du lernst für's Leben!", und berechtigterweise fragt es sich: "Welches Leben meinen die?" Sein Leben findet in der Gegenwart statt, was weiß es schon über das Leben nach der Schule. Gar nichts! Leben und lernen bedeutet den ganzen Menschen, sein Denken und Fühlen im Hier und Jetzt wertzuschätzen.
Die Zeit ist reif, sich über den reinen Verstandesmenschen hinaus zu entwickeln und nun endlich zu Bewusstsein zu kommen. Es ist Zeit zu erkennen, dass der Verstand die Wertschätzung, die er bekommt, nie wirklich verdient hat, denn auf alle wirklich wichtigen Fragen kann er uns keine hinreichende Antwort geben. Dabei haben wir ein umfassendes, optimales Werkzeug seit jeher zur Verfügung: das Gefühl. Aber selten hört man von einer Lehrerin, sie habe "ein emotional begabtes Mädchen" in ihrer Klasse - über einen "mathematisch begabten Jungen" spricht man schon eher.
Hier hat unser Schulsystems viel versäumt, nämlich Kinder an ihr inneres Potential, an die Stärke ihres inneren Fundaments heranzuführen und ihr Selbstmanagement zu fördern. Schon der Humanist Wilhelm von Humboldt (1767-1835) forderte eine Bildung, die den Menschen zu dem macht, was er sein soll, nämlich ein Mensch. Das heißt nicht, dass Bildung ohne Fachwissen nur im netten Miteinander des sozialen Lernens, ohne die Anstrengung an der Sache erworben werden kann. "Es gibt keine Bildung ohne Anstrengung", sagte Roman Herzog am 05.11.1997 in einer vielbeachteten Rede (Süddeutsche Zeitung vom 06.11.1997).
Solange wir den Bildungsstand eines Menschen danach abmessen, wie viel er auswendig weiß oder wie hoch sein IQ ist, solange unterliegen wir dem fatalen Irrglauben, dass Gedächtniskünstler und Testgenies gebildete Menschen sind. Unsere Kinder werden weder mit der Kuschel- noch mit der Paukpädagogik die Zukunft meistern. Sie brauchen vielmehr Erzieher mit Kopf, Herz und Hand!
Literatur
Goeudevert, Daniel: Der Horizont hat Flügel. Die Zukunft der Bildung. München 2001
Anmerkung
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus: Liebertz, Charmaine: Das Schatzbuch der Herzensbildung. Grundlagen, Methoden und Spiele zur emotionalen Intelligenz. München: Don Bosco 2004. S. 40 ff.