Emotionen in der religiösen Erziehung: Chance oder Gefahr?

Aus: was+wie 1999, Heft 1, S. 31-33

Michael Schnabel

Bringen neue psychologische Erkenntnisse über Emotionen Hinweise für die religiöse Kleinkinderziehung?

Kennen Sie Ihren EQ?

Emotionale Intelligenz ist ein entscheidender Faktor in der Persönlichkeitsentwicklung eines jeden Menschen. Viel entscheidender als kognitive Intelligenz! Diese Erkenntnis gehört beinahe schon zum Allgemeinwissen, nachdem das Buch von Daniel Goleman "Emotionale Intelligenz" monatelang die Bestsellerlisten besetzte (Goleman, 1996). Noch mehr: Dieses Buch was das Startsignal für eine Reihe von Veröffentlichungen, die die Bedeutung der Emotionen für erfolgreiche Lebensgestaltung beschreiben, oder die Trainingsprogramme für das Erreichen eines hohen EQ vorlegen.

Was ist mit emotionaler Intelligenz gemeint? "Menschenkenntnis trifft als umgangssprachliche Bezeichnung am ehesten das Wesen der "emotionalen Intelligenz" oder EQ (englische Abkürzung für emotional quality). Die Intelligenz der Gefühle, wie Daniel Goleman den Begriff emotionale Intelligenz in seinem Bestseller definiert, umfasst aber mehr.

Er zeigt sich in Einfühlungsvermögen, Intuition, Kontrolle der Gefühle und der Fähigkeit zur Selbsteinsicht bzw. Selbsterkenntnis" (Sehr, 1998).

In den Veröffentlichungen werden neben "Emotionaler Intelligenz" die Begriffe "Emotionale Kompetenz" oder "Meta-Emotionalität" gebraucht. Es gibt bereits eine Vielzahl von Tests und Einschätzskalen, die diese Fähigkeit beurteilen können.

Emotionen in der Erziehung - ein Neuland?

Emotionen verstärken Konzentration, sie beflügeln den Ideenreichtum und die Kreativität. Emotionen sind die treibenden Kräfte der Neugierde und des Wissenserwerbs. Emotionen können Kommunikation blockieren und von neuen Erfahrungen abhalten. Neue Einsichten für Pädagog/innen, Erzieher/innen, Lehrer/innen?

Beileibe nicht! Gefühle - wie sie nach altbekannter Ausdrucksweise genannt werden - bestimmen äußerst entscheidend das Heranwachsen der Kinder und die Lebensgestaltung der Menschen. Eine bekannte Tatsache in der Pädagogik!

Warum gibt es dann neuerdings eine intensive Debatte über Einfluss und Wirkung der Gefühle?

Viele psychologische Studien - vor allem aus den USA - stellen sehr differenzierte Informationen über Funktion und Wirkung der Emotionen bereit. Damit ist es möglich, Lernen effektiver zu gestalten, Kooperation in Teams zu verbessern, Verhandlungen erfolgreicher zu führen und Konflikte zu lösen.

Untersuchungen der Neurologen und Gehirnforscher konnten nachweisen: Emotionale Wahrnehmungen haben im Gehirn Priorität. Erst nachdem wir entschieden haben, ob uns das Neue, das auf uns zukommt, freundlich oder feindlich erwartet, beginnen im Gehirn die Denkprozesse zu funktionieren. Die emotionale Einstellung wirkt dann weiterhin motivierend: z.B. Fähigkeiten des Sprechens, des Musizierens, des logischen Denkens und des moralischen Urteilens werden durch emotionale Zuwendung gesteigert. Die Begeisterung für eine Sache oder für ein Anliegen kann soweit gehen, dass alles um uns herum vergessen wird: "In diesem einzigartigen, von äußeren Anreizen unabhängigen Seins- und Glückzustand des Flow sind völlige Konzentration, das Aufgehen in der Tätigkeit und die Auflösung der Grenze zwischen Wahrnehmung und Sein charakteristisch - im Zustand des Flow sind wir das, was wir tun" (Huber, 1996).

Besonders die ersten Jahre in der Kindheit sind entscheidend, weil in diesem Zeitabschnitt die neuronalen Verbindungen im Gehirn der Kinder ausgebildet werden. Sie sind für die spätere Leistungsfähigkeit der Kinder verantwortlich. Beispielsweise ist das Gehirn derjenigen Kinder, die selten gestreichelt und kaum zum Spielen angeregt wurden, weniger vernetzt, als das von normal entwickelten Kindern. Und Kinder, die als Säuglinge emotionale Zuwendung erfahren haben, sind weniger stressanfällig, ruhiger und ausgeglichener. Neben der Grundlagenforschung, die viele Einsichten darüber liefert, wie Gefühle entstehen und auf unser Erleben wirken, gibt es bereits mehrere Konzepte, die diese Erkenntnisse für das Handeln im Alltag und für die Erziehung einsetzen (Steiner et al., 1997/98).

Beispielsweise gehört zum kompetenten Umgang mit Gefühlen: eigene Gefühle benennen, eigene Gefühle steuern, die Gefühle der anderen verstehen, den Gefühlen der anderen richtig begegnen können (Weisbach, 1997).

Auf den ersten Eindruck keine ausgefallenen Forderungen! Wer sich jedoch daraufhin prüft, wie viele Gefühle er benennen kann, oder noch schwieriger: wie gut er Gefühle des Gesprächspartners ansprechen kann, wird sofort merken, wie ungewohnt dies für die meisten Menschen ist. Beispiele aus den genannten Tests: Wie viele Ausdrücke wissen Sie für Traurigkeit? Für Fröhlichkeit? An welchen Verhaltensweisen eines Kindes erkennen Sie, dass es traurig oder fröhlich ist? Sollen traurige Kinder in Ruhe gelassen werden? Welche guten Möglichkeiten gibt es, auf Traurigkeit zu reagieren?

Einige Programme geben konkrete Anweisungen, wie man andere Menschen und Kinder durch "Streicheleinheiten" positiv stimmen kann. Dabei gilt es, einiges zu beachten: z.B. ist direktes und spontanes Loben nicht bei jeder Gelegenheit angebracht. Anerkennende Äußerungen über den anderen sollten vorher angekündigt werden, wenn sie private Bereiche betreffen. Teilweise soll sogar um Erlaubnis gebeten werden, wenn man seinem Gesprächspartner heraushebendes Lob zollen will. Soweit einige Erfahrungen aus amerikanischen Trainingsseminaren zur Förderung emotionaler Kompetenz.

Entwicklungsbedarf in der Religionspädagogik?

Streicheleinheiten im Familiengottesdienst? Nein, das geht dann doch zu weit! Und doch sind Gefühle in allen Religionen anzutreffen. Selbst das Wort "Religion" bestätigt dies: Religion ist die Bindung an ein höheres Wesen. Bindungen entstehen nicht aufgrund rationaler Überlegungen, sondern sind emotionaler Art.

Wie werden in der Religionspädagogik diese Anforderungen eingelöst? Da steht das Anliegen, den Kindern die Inhalte des Glaubens zu vermitteln, hoch im Kurs. Die Gestaltung des Religionsunterrichts ist das Hauptanliegen vieler Forschungen und Veröffentlichungen. Dies trifft sogar auf Anregungen zur religiösen Kleinkinderziehung zu. Eine Durchsicht der Veröffentlichung zeigt: Gefühle der religiösen Erziehung werden höchst selten behandelt. Auch wenn behauptet wird, "religiöse Erziehung soll in den Kindern den Glauben verwurzeln, religiöse Erziehung soll bei den Kindern eine Glaubenshaltung aufbauen", so bleiben viele Anregungen doch nur bei der Wissensvermittlung stehen. Auch ist die Forderung nach ganzheitlicher religiöser Erziehung häufig nur ein Etikett, das die Erwartungen kaum einlöst. Jedoch gab und gibt es immer wieder Anregungen, die alle Sinne bei der religiösen Erziehung ansprechen (Mix, 1998).

Wenn religiöse Erziehung der Kinder eine dauerhafte Einstellung aufbauen soll, und Glaube in die Persönlichkeit des Erwachsenen integriert sein soll, so gelingt dies nicht mit Vermittlung von Glaubensinhalten. (Man denke nur an die Erfolglosigkeit des Religionsunterrichts!) Es sind vielmehr unsere emotionalen Einstellungen, die für die Lebensgestaltung verantwortlich sind. Im Kleinkindalter werden die entscheidenden Bahnungen vorgenommen. Die angesprochenen Forschungen liefern überzeugende Beweise und geben viele Hinweise, wie das emotionale Erleben der Kinder gepflegt und gefördert werden kann.

Literatur

Goleman, Daniel: Emotionale Intelligenz, München, Wien 1996

Huber, Andreas: Stichwort EQ Emotionale Intelligenz, München 1996/4, S. 78

Mix, Margarete; Rödding, Gerhard: Symbole im Kindergarten verstehen und gestalten. Ein Praxisbuch für die religiöse Früherziehung der 3-7jährigen, Gütersloh 1997

Longardt Wolfgang: Wachsen wie ein Baum. Ein Praxisbuch gestaltorientierter Religionspädagogik, Düsseldorf 1998

Sehr, Marion: Das große EQ Testbuch. Erfolgreich durch emotionale Intelligenz, Niedernhausen/Ts. 1998, S. 17

Steiner, Claude: Emotionale Kompetenz, München, Wien 1997. Gottmann John: Kinder brauchen emotionale Intelligenz. Ein Praxisbuch für Eltern, München, Zürich 1997

Shapiro, Lawrence: Emotionale Intelligenz für Kinder: Beliebt und glücklich, nicht nur schlau. Wie Eltern die emotionale Intelligenz ihrer Kinder fördern können. Bern, München, Wien 1998/2

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