Christine Freitag
"Warum hast du das getan?", "Weißt du eigentlich, wie weh du deinem Freund damit getan hast?", "Mach das wieder gut!" - solche schuldzuschreibenden Formulierungen kursieren in vielen Köpfen von Pädagog/innen und bestimmen den Umgang mit Kindern bei Regelverstößen. Bedauerlicherweise ist vielen Pädagog/innen nicht klar, welche fatalen Folgen solche pädagogischen Haltungen und Verhaltensweisen nach sich ziehen.
Die instrumentelle Schuldzuweisung zum Zweck der Reglementierung
Schuld im rechtlichen Sinn wird nach dem BHG in Strafsachen folgendermaßen definiert: "Schuld ist Vorwerfbarkeit. Man wirft dem Täter vor, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich für Recht entscheiden hätte können." Und in der Tat erfüllen Schuldzuweisungen einen wichtigen Zweck in unserer Gesellschaft; sie dienen vorrangig dazu, Menschen in einem normativen Konstrukt zu reglementieren. Mit Schuldvorwürfen werden wir angehalten, uns in einem System einzufügen und deren Normen zu verinnerlichen. Wichtigste Antriebskraft hierbei ist die durch Schuldzuschreibung ausgelöste Scham, die in uns geweckt wird. Egidius (2008) erläutert in diesem Zusammenhang, dass "Schamgefühle bei Menschen dann ausgelöst werden, wenn sie wahrnehmen, dass ihnen von anderen Personen Missbilligung entgegengebracht wird."
Scham und Schuldgefühle erfüllen also eine gesellschaftliche Funktion. Bierhoff (2009) ordnet Schuldgefühle sogar den positiven Emotionen zu, da sie Menschen anhalten, prosozial zu agieren. Er weist in diesem Zusammenhang "auf die Verstärkung der Solidarität durch existenzielle Schuldgefühle" hin. Doch nicht nur zum Zweck der Reglementierung sind Schuldgefühle in uns verankert; Schuld schafft auch Erklärungszusammenhänge und Kontrollierbarkeit ("Ich hätte es anders machen können", "Hätte ich doch..."), und hilft uns somit, mit akuten Belastungen umzugehen.
Dennoch kommt es vor, dass Menschen schon bei geringsten Anlässen (beispielsweise bei einem vergessenen Geburtstag) von massiven Schuldgefühlen heimgesucht werden. Und jeder kennt wahrscheinlich das drückende Gefühl in der Magengegend, das uns sagt, dass wir etwas falsch gemacht haben. Wir beginnen uns für Verhaltensweisen zu verurteilen (handlungsbezogene Schuldgefühle: "Ich habe etwas falsch gemacht"); im schlimmsten Fall verurteilen wir uns sogar für unser Sein (personenbezogene Schuldgefühle: "Ich bin falsch"). Das dahinterliegende Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung veranlasst uns, in diesen quälenden Gedanken verhaftet zu bleiben. Einher gehen solche Gedanken oftmals mit der Angst vor Liebesverlust oder der Angst vor dem Ausschluss aus der Gruppe/ Gesellschaft. Solche Schuldgefühle sind destruktiv und ungesund für unser emotionales Wohlbefinden. Im nachfolgenden Kapitel soll nun die Entstehung dieser Schuldgefühle erläutert werden.
Schuld ist die Zuschreibung von "Sei nicht (so)!"-Botschaften
Nach Benko (2014) ist Schuld kein Gefühl, sondern ein affektiv-kognitives Geschehen, das nur im Rahmen eines gedanklichen Konstrukts möglich ist. Wer also Schuldgefühle hat, hat sie schon vorher gedacht und/oder vorgelebt bekommen. Korrekt formuliert sind nach Benko (2014) daher Schuldgefühle keine Gefühle, sondern "Schuldgedanken". Dies lässt eine Veränderung der Betrachtungsweise zu, denn ein Gedanke ist kognitiv beeinflussbar und somit auch veränderbar. Ebenso verhält es sich mit der Entstehung dieser gedanklichen Muster: Schon im Kindergartenalter beginnen Kinder, diese Muster in sich aufzubauen und sie zu verinnerlichen. Erikson (1966) hat in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung die Bedeutung von Schuld in den Zeitraum des Spielalters, also etwa im vierten und fünften Lebensjahr, festgelegt. Die Entwicklungsaufgabe besteht für Erikson (1966) in diesem Alter darin, die Initiative zu übernehmen, anstatt in Schuldgefühlen verhaftet zu sein. Er unterstreicht damit auf beeindruckende Art und Weise die Wirkungsweise von zugeschriebener Schuld: Die Identität eines Kindes kann sich nicht entfalten, wenn schuldhaftes Erleben in dieser Entwicklungsphase dominiert.
Die vernichtenden Gedanken in unseren Köpfen, die uns auf grausame Weise bis ins Erwachsenalter verurteilen, immer wieder unser "So-Sein" in Frage zu stellen, und damit einhergehend die Lebensqualität rapide senken, werden also schon im Kindesalter in uns manifestiert! Pädagog/innen in der Elementarstufe kommt daher eine besondere Verantwortung zu, denn Schuldgedanken werden in diesem Alter durch das Vorleben der Erwachsenen aktiv übernommen.
Verdeckte Schuldzuschreibungen: Strafen, Konsequenzen, "Wieder-gut-machen" und andere Sanktionen
Im pädagogischen Alltag finden sich häufig die Formulierungen "Konsequenz statt Strafe" und "Wiedergutmachen statt anklagen". Fakt ist jedoch, dass all diese Methoden - werden sie noch so bagatellisiert durch wertneutrale Formulierungen - auf eines abzielen: das Einimpfen von Schuldgedanken (durch Beschämung), um ein Verhalten zu erzielen, das der Gruppe dienlich ist!
Solche didaktischen Haltungen und Vorgehensweisen öffnen destruktiven Denkmustern Tür und Tor. Unliebsame und schwer identifizierbare Introjekte, die oft tief verwurzelt bis ins Erwachsenenalter in uns arbeiten und nur durch gezielte psychotherapeutische Interventionen wieder aufgehoben werden können, werden damit entfacht. Das Bedürfnis nach Autonomie und Handlungsfähigkeit eines Kindes wird damit zunichte gemacht. Kinder geraten unfreiwillig in die Spirale der Destruktivität, die sich nicht selten in aggressivem Verhalten (Wut) äußert. Auch in den folgenden Lebensjahren wird aggressives Verhalten dann die (eingelernte) Reaktion auf Reglementierung, beispielsweise in Form von Kritik, sein. Die gesunde Emotion Schuld wird durch das Anwenden von Beschämung missbraucht und zum unliebsamen Wegbegleiter, der Kindern ständig vermittelt, dass sie in ihrem "So-Sein" nicht wertgeschätzt werden.
Kochanska (2006) expliziert an dieser Stelle, dass sicher gebundene Kinder ein gesundes Schuldempfinden besitzen, das positive intragruppale Prozesse steuert. Dennoch ist es möglich, Kindern durch negative Resonanzen diesen gesunden Zugang zu Schuld zu nehmen.
Pädagogischer Alltag: mitfühlendes Verstehen statt Verurteilungen
Detlef Schwarz (2014) betont im Zusammenhang mit Regelverstößen, dass "das Ziel die versöhnte Vollendung sein muss, nicht die Vernichtung." Er sieht Schuld als einen Zustand an, der nicht abgebüßt, sondern durch Liebe vergeben werden muss. Der Schlüssel hierzu findet sich in der Begegnung mit dem Kind durch Wertschätzung und durch einfühlendes Verstehen.
Auf den pädagogischen Alltag umgelegt, sind folgende Reaktionen auf einen Regelverstoß sinnvoll:
- Das "Vergehen" wertfrei benennen und einen Anteil zuweisen: "Die Gruppe ist gestört durch dein Verhalten, weil du laut bist."
- Das Verhalten normalisieren: "Jeder ist schon einmal zu laut gewesen, oft fällt einem das selber gar nicht auf."
- Unbedingt positive Resonanzen durch einfühlendes Verstehen hervorrufen: "Du bist und bleibst ein Teil dieser lieben Gruppe."
- Aufgaben zuweisen: "In diesem Bereich der Gruppe ist es ruhiger, hier kannst du wieder ruhiger werden."
Abschließend eignen sich Rituale als Zeichen der Vergebung/ Annäherung.
Anmerkung
Ich widme diesen Artikel Margit Rieger, Leiterin des Grazer Wohlfühlkindergartens KRAWUZI KAPUZI, weil in ihrem Kindergarten wertschätzende emotionale Begleitung aktiv gelebt wird: www.krawuzikaputzi.eu
Literatur
Benko, E.: Schuldgefühle - schmerzhafter Sinn? Vortrag am 09.05.2014 auf der Fachtagung Akutbetreuung in Linz. Plattform der Krisenintervention, www.plattform-akutbetreuung.at
Bierhoff, H.-W.: Prosoziales Verhalten. In: Brandstätter, V./Otto, J.H. (Hrsg.): Handbuch der Allgemeinen Psychologie - Motivation und Emotion. Göttingen: Hogrefe 2009, S. 246-251
Egidius, H.: Psykologielexikon, Natur & Kultur (2008). Abrufbar unter http://www.psykologieguiden.se
Erikson, E.: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966
Kochanska, G.: Early Attachment Organization With Both Parents and Future Behavior Problems: From Infancy to Middle Childhood. Society for Research in Child Development 2006
Schwarz, D.: Gnade aus Liebe, statt Sühne aus Gerechtigkeit. Vortrag am 09.05.2014 auf der Fachtagung Akutbetreuung in Linz. Plattform der Krisenintervention, www.plattform-akutbetreuung.at