Die Amsel ist für immer fortgegangenPhilosophieren über Leben und Sterben in der Kita

Barbara Brüning

Es gibt ein Leben davor:

im Bauch von Mama.

Es gibt ein Leben jetzt:

mit Mama und Papa und allen anderen Menschen.

Und es gibt ein Leben danach:

irgendwo, vielleicht in Nangijala.

Jana, 6 Jahre

Vorbemerkung

Die Gedanken von Jana aus einer Hamburger Kita-Vorschulgruppe, mit der ich über das Kinderbuch „Was ist das? fragt der Frosch?“ von Max Verhuijs 2019 philosophiert habe, um­spannen den in­haltlichen Bogen des Themas: Das Leben ist schön, aber es ist endlich. Und deshalb sollten sich die Menschen schon frühzeitig Gedanken darüber machen, was passiert, wenn es einmal zu Ende geht und sich der Frage stellen: Warum gibt es eigentlich den Tod? (vgl. Hamburger Abendblatt 2019)

Auch Kita-Kinder kennen das Problem der Vergänglichkeit aus ihrem Alltag, wenn zum Beispiel das Meer­­schweinchen stirbt oder jemand aus der Familie plötzlich nicht mehr da ist. Und obwohl der Tod in zahlreichen Facetten in unserem Leben präsent ist, wird er in den modernen Indus­trie­gesellschaften oft tabuisiert, weil er mit Ängsten verbunden ist und die eigene Existenz be­trifft. Deshalb ist es wichtig, das Thema „Sterben und Tod“ in der Kita aufzu­greifen, um den Kindern den Zusammenhang zwischen Leben und Sterben zu verdeut­lichen.

1. Theoretische Grundlagen: Philosophische und entwicklungspsychologische Besonderheiten beim Umgang mit dem Thema Tod in der Kita

Der Tod gehört zu unserem Leben dazu wie auch die Geburt. Die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) sieht in der Geburtlichkeit und Sterblichkeit die beiden Fixpunkte im Leben eines Menschen, die für alle gleich sind. Allerdings kommt jeder Mensch als einzig­artiges Indi­viduum auf die Welt, dass die Stationen seines Lebens zwischen den beiden Fixpunkten durch eigenes Tun und die Interaktion mit anderen Menschen gestalten kann (vgl. Ahrendt 2001, S.17f.). Während in unserer Gesellschaft viel über das Leben und in der Philosophie vor allem über das gute Leben gesprochen wird, bleibt der Tod im Gegensatz dazu weitgehend marginalisiert. Dies spüren oftmals auch Kinder, wenn sie Erwachsene auf dieses Thema ansprechen. Wer mit jüngeren Kindern über Sterben und Tod nachdenken möchte, sollte dabei immer auch die verschiedenen geistig-sprachlichen Entwicklungs­stufen, d.h. die kognitiven Potenzen von Kindern, berücksichtigen. Sie ermöglichen beim Philosophieren, geeignete Beispiele auszuwählen, wie zum Beispiel altersgerechte Kinderbücher, um Kinder in Gesprächen nicht zu überfordern.

1.1 Das entwicklungspsychologische Modell des kindlichen Weltverständnisses

Die kognitiven Potenzen von Kindern, wie zum Beispiel Wahrnehmen, Denken, Wollen und Lernen werden hauptsächlich von der Entwick­lungs­psychologie untersucht. Der Schweizer Psychologe Jean Pia­get (1898-1980) hat bereits in den 1930er Jahren ein Stufen­modell der kognitiven Ent­wicklung konzipiert, das von vier we­sentlichen Stufen ausgeht. Es beginnt mit der Geburt und reicht über die Kindheit bis hin zum Erwachsenen­alter. Kognition ist bei Piaget ein Prozess, der in Anlehnung an die Erkenntnistheorie Immanuel Kants (1724-1804) auf erfahrungsunabhängigen Prinzipien wie Raum und Zeit bzw. Kausalität beruht, die sich im Laufe der menschlichen Ent­wicklung progressiv entfalten. Sein Modell, das er u.a. in dem Buch „Urteil und Denkprozess des Kindes“ darstellt, bildet auch für das Philo­sophieren mit Kindern einen Kompass, der aufzeigt, welche kognitiven Vo­raus­setzungen gegeben sein müssen, damit Kinder Fähig­keiten entwickeln, sich Wis­sen über die Welt anzueignen und mit anderen Gespräche dazu zu führen. Denken beginnt für Piaget erst dann, wenn Kinder in der Lage sind, sich Dinge, Personen und Ereignisse vorzu­stellen, auch wenn sie nicht unmittelbar in der Wirklichkeit zugegen sind. So haben sich Kita-Kinder in unserem Gespräch über das Kinderbuch „Was ist das? fragt der Frosch“ auch mit dem abstrakten Begriff der Seele beschäftigt, ohne sich dabei auf konkrete Beispiele aus der Wirklichkeit als Beobachtungsmuster zu stützen (vgl. Hamburger Abendblatt 2019).
Piaget unterscheidet vier Stufen der kognitiven Entwick­lung, die sich als Interaktion zwischen Subjekt und Objekt (Welt) vollzieht. Die Stufen gelten universell in allen Kulturen und sind sozusagen eine Art Entwicklungslogik des Menschseins, denn die vierte Stufe gilt auch für alle Erwachsenen (vgl. Piaget 1992, S. 13-24). 

 

Sensomotorische                    0-2 Jahre                    umfasst erste Schritte der Denkentwicklung,

Phase                                                                         beruht auf Wahrnehmung und Bewegung

Präoperationale                       2-7 Jahre                    Entwicklung praktischer Intelligenz,

Phase                                                                          stützt sich auf Realismus,

                                                                                   Animismus und Artifizialismus

Konkret-operationale             7-11 Jahre                   Denken basiert auf anschaulichen

Phase                                                                          Erfahrungen; Dezentrierung der

                                                                                   eigenen Person

Formaloperationale                 ab 12 Jahren              umfasst abstraktes, hypothetisches

Phase                                                                          und logisches Denken

 

Der geistige Rei­fungsprozess in den einzelnen Phasen ist nach Piaget durch zwei wesentliche Merk­male gekenn­zeichnet: durch Assimilation (Angleichung) und Ak­ko­modation (An­passung). Mithilfe der Assimilation werden äußere Ob­jekte in die inneren kognitiven Struk­turen übernommen, während sich durch die Akko­modation die kognitiven Strukturen so verändern, dass sie auf eine besondere äußere Situation reagieren können.

Wir könnten beispielsweise von Assimilation sprechen, wenn die Kinder gelernt haben, dass sich tote Lebewesen nicht bewegen. Die Amsel aus dem Kinderbuch „Was ist das? fragt der Frosch“ von Max Velthuijs bewegt sich nicht, also ist sie tot. Kinder könnten in diesem Fall aber auch akkomodieren, wenn sie darüber nachdenken, ob es noch andere Gründe geben könnte, warum sich die Amsel nicht bewegt, beispielsweise könnte sie sich auch verletzt haben.

Assi­milation und Akkomodation bilden in der geistigen Entwicklung von Kindern ein System von Aus­tausch­prozessen; sie streben nach Äquilibration (Gleich­gewicht). Das Gleichgewicht ist beispielsweise gestört, wenn die vorhandenen kognitiven Strukturen nicht ausreichen, um eine neue Situation zu bewältigen.

1.2 Entwicklungspsychologische Besonderheiten des kindlichen Verständnisses von Sterben und Tod

Die erste Stufe der kognitiven Entwicklung umfasst das sensomotorische Denken (0-2 Jahre). In der sensomotorischen Phase entwickeln Kinder vor allem Wahrnehmungs­­- und Handlungs­kompetenzen, die ihnen ermöglichen, sich in ihrer unmittelbaren Umwelt zu orientieren und äußere Objekte in innere Verhaltensstrukturen zu integrieren.

In dieser Phase entstehen auch schon erste gedankliche Vor­stel­lungen von der Welt. Mit knapp zwei Jahren sind Kinder in der Lage, sich Handlungen und Dinge ihrer Umwelt ge­dank­lich vorzustellen bzw. mit ihnen zu operieren, auch wenn diese Dinge selbst nicht un­mittelbar anwesend sind. Piaget spricht hier vom Über­gang zum begrifflichen Denken. So ist beispielsweise der zweijährige Boris bereits in der Lage, abends im Bett von seinem kranken Opa zu erzählen, ohne dass dieser unmittelbar anwesend ist.

Kinder unter drei Jahren nehmen den Tod beispielsweise als Abwesenheit wahr (der Opa ist nicht da). Sie verstehen ihn jedoch nicht als endgültige Abwesenheit. Dafür fehlen die kognitiven Voraussetzungen, abstrakte Dinge zu begreifen. Auch wenn man Kindern in dieser Altersstufe erklären würde, dass Opa jetzt für immer weg ist, können sie auf­grund ihres noch nicht völlig entwickelten Zeitverständnisses diese Dimension der Ewigkeit nicht begrei­fen. Was sie allerdings durchaus schon verstehen, sind die Reaktionen ihrer Umwelt, wenn jemand stirbt: Mamas Stimme klingt traurig, Papa weint, und Opa kommt nicht wieder.

Die zweite Stufe der präoperativen Operationen (2-7 Jahre) ist vor allem durch den Sprach­erwerb ge­kennzeichnet. In ihr liegt der Beginn des begrifflichen und logischen Den­kens. Die Kinder verfügen auf dieser Stufe über ein Repertoire an Struk­turie­rungsregeln, die sie in die Lage versetzen, das eigene Tun aktiv zu steuern, unabhängig von äußeren Situationen. Sie verwenden Kate­gorien wie lebendig oder tot für äußere Sachverhalte und treffen Unterschei­dungen und Ver­gleiche, wie zum Beispiel, dass jemand, der tot ist, sich nicht mehr bewegt. Kinder bleiben jedoch in dieser Phase, so Piaget, verstärkt an konkrete Objekte und Situatio­nen gebunden. Im Hamburger Kindergartenprojekt haben sich die Kinder zwar auf konkrete Situationen in der Geschichte bezogen: sie waren aber auch in der Lage, über diese Situa­tionen hinauszudenken. Auf die Frage des Froschs, was denn Tot sein heißt, zeigt der Hase zum Himmel. Ein Mädchen antwortete darauf, dass nach dem Tod der Körper in den Himmel geht, die Seele aber auf der Erde bleibt. Auf meine Frage, was denn die Seele eigentlich ist, antworteten die Kinder, sie sei der Geist, der aus dem Gehirn kommt. Und Geist wiederum bestehe aus Gedanken. Die Gedanken der Verstorbenen bleiben also auf der Erde, und die Menschen können sich daran später nach dem Tod erinnern. Meine achtjährige Enkelin (2. Klasse) hat sich das Gespräch angehört und mir dazu gesagt:

„Die Vorschulgruppe von meiner kleinen Cousine sagt, dass nach dem Tod der Köper in den Himmel geht, und die Seele auf der Erde bleibt. Ich sehe das anders! Ich sehe das so, die Seele geht in den Himmel, und der Körper bleibt auf der Erde, unten im Grab. Man vermisst die gestorbene Person sehr, aber sie ist auch im Himmel immer an deiner Seite. Sie ist immer bei dir, nur weil man sie nicht sehen kann, heißt das nicht, dass sie nicht da ist.“

Ein weiteres Charakteristikum der präoperativen Phase bildet nach Piaget der Ego­zen­tris­mus (vgl. Piaget 1997, S. 305-335). Er geht davon aus, dass jüngere Kinder zwischen Ich und Um­welt keine deutlichen Grenzen ziehen und demzufolge auch nicht die Perspektivität ihres ei­genen Standpunktes einschätzen können. Sie betrachten sich als „Mittelpunkt der Welt“ und beurteilen alles aus der Ich-Perspektive, d.h. eine Kommunikation ist nach Piaget nur ein­geschränkt möglich. So wissen zum Beispiel schon Dreijährige, dass sie eine Schwester oder einen Bruder haben, umgekehrt vermögen sie jedoch nicht zu erkennen, dass sie selbst Bruder oder Schwester sind.

Kinder zwischen drei und sieben Jahren entwickeln eine vage Vorstellung vom Tod. Er ist für sie ein Zustand der Bewegungslosigkeit, Ruhe und Dunkelheit. „Schau“, sagte der Frosch. „Mit der Amsel stimmt etwas nicht. Sie bewegt sich nicht mehr.“ Das Buch von Max Velt­huijs kommt mit diesem Gedanken der kindlichen Auffassungsgabe vom Tod sehr nahe.

Kinder auf dieser Entwicklungsstufe bringen den Tod hauptsächlich in Verbindung mit alten Menschen. Auch diese entwicklungspsychologische Besonderheit nimmt das Buch auf. „Alles stirbt einmal“, sagte der Hase. „Wir auch?“ fragte der Frosch. „Ja, wenn wir alt sind“, sagte der Hase.

Der Tod ist in dieser Entwicklungsphase etwas, das anderen Menschen passiert, Menschen die „alt“ sind. Die Kinder beziehen sich selbst in den Tod nicht mit ein, nicht jetzt und auch nicht zukünftig. Sie beerdigen zwar gestorbene Haustiere und spielen ab und zu auch Tot-Sein. Aber sie selbst sind davon nicht betroffen. Kinder verstehen auf dieser Entwicklungsstufe noch nicht, dass ein verstorbener Mensch endgültig weg ist. Sie suchen ihn zum Beispiel oder warten auf seine Rückkehr.

Im Hamburger Kindergartenprojekt haben die Kinder auf meine Frage, ob jemand, wenn er tot ist, für immer tot ist, übereinstimmend bejaht, dass jemand, der tot ist, für immer tot ist und nicht wiederkommt. Ein Junge hat anschließend diesen Gedanken noch ergänzt: „Zum Glück bin ich ein Kind und kann noch länger leben!“ Er hat dann allerdings noch eine weitere Einschränkung gemacht: „Nur Jesus, kommt wieder, er kann auferstehen, normale Menschen aber nicht.“

Auf der Stufe der kon­kreten Operationen (7-11 Jahre) beginnen Kinder, sich teilweise von der Fixierung auf konkrete Gegenstände und Situationen zu lösen. Sie sind zunehmend in der Lage, Gruppen zu bilden und dafür selb­ständig Kriterien zu finden, wie zum Beispiel das Ordnen nach Größe, Farbe oder geografischen Gegebenheiten: „Alle Menschen, die tot sind, bewegen sich nicht, atmen nicht und fühlen sich kalt an.“ Auch entwickelt sich erst auf dieser Altersstufe die Fähigkeit, Handlungsalternativen zu gestalten und Probe­handlungen auszu­führen, jedoch nicht die Kompetenz, hy­pothetisch zu denken, im Sinne eines „Was wäre, wenn... keiner mehr auf der Welt sterben würde.

Reversibilität, hypothetisches Denken und Selbstreflexivität sind Merkmale, die der Stufe der formalen Operationen entsprechen (ab 11/12 Jahren). Auf dieser Stufe kann sich das Denken vollständig von der konkreten Anschauung lösen.

In dieser Phase sind sich die Jugendlichen der Bedeutung von Zeit, Vergangenheit und End­gültigkeit bewusst. Der Tod wird als unausweichlicher Teil des Lebens wahrgenommen. Philosophische Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Ende der eigenen Existenz und Wichtigkeit werden gestellt. Einige werden beantwortet und andere bleiben als Grundlage zum Weiterdenken offen. Doch prägen die eigenen Antworten auf existentielle Fragen auch das Todeskonzept und den Umgang mit dem Tod maßgeblich. Wer beispielsweise an ein Weiterleben nach dem Tod glaubt, kann leichter loslassen als jemand, der den Tod verdrängt und nicht mit ihm konfrontiert werden will. So schrieb die 14jährige Nellie in dem Buch „Lebenslicht – Was Jugendliche über das Sterben denken“:

„Ich glaube daran, dass unsere Seele weiterlebt, wenn unser Körper stirbt, denn nichts verschwindet einfach so im Universum. Unser Körper verwest und verändert sich. Doch was geschieht mit unserer Seele? Vielleicht verändert sie sich auch oder sie bleibt wie sie ist? Außerdem gibt es viele Berichte über Nahtoderfahrungen, in denen Leute, deren Körper eigentlich tot waren, immer noch etwas fühlten. Außerdem glaube ich an einen tieferen Sinn im Leben. Wir leben doch nicht alle, nur um dann zu sterben, oder? Falls ich falsch liege, und die Seele nicht auf diese Weise bestehen bleibt, geht das auch anders. Wir könnten Teile unserer Seele weitergeben, zum Beispiel an unsere Kinder. Vielleicht gehört das, was wir an Erinnerungen im Leben zurücklassen oder die Gefühle, die durch uns entstanden sind, auch zu unserer Seele? Nein, es ist die Seele! Ein Grund, der dagegen spräche, wäre allerdings: Was ist, wenn wir gar keine Seele haben? Auf diese Frage weiß ich leider keine Antwort“ (vgl. Brüning 2017, S. 152f.).

1.3 Kinder denken auch kontrafaktisch

Für das Philosophieren mit jüngeren Kindern gilt nach dem skizzierten Konzept von Piaget, dass die philosophischen Gedanken von Kindern  konkret-anschaulich sind, situations- und objektgebunden, nicht oder nur wenig spekulativ (im Sinne von „sich etwas vorzustellen, das sein könnte…“) und dass es Kindern bis 6 Jahren aufgrund ihres egozentrischen Welt­bildes schwerfällt, die Perspektive anderer Kinder zu verstehen bzw. selbst einzunehmen.

Diese Position wurde von einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgrund neuer Erkenntnisse der Hirnforschung kritisiert. So betont die amerikanische Psychologin Alison Gopnik (geb. 1955) in ihrem Buch „Kleine Philosophen. Was wir von unseren Kindern über Liebe, Wahr­heit und den Sinn des Lebens lernen können“, dass Babys und Kleinkinder einen längeren Prozess der Reifung und Umwelt­an­passung durch­laufen als andere Lebewesen. Die spezifische menschliche Fähig­keit der Weltoffenheit, auf die bereits der Phi­losoph Arnold Gehlen (1904-1976) als Spezifikum des Menschen hingewiesen hat, erfordere einen längeren Prozess des Lernens, auf den sich das kindliche Gehirn eingestellt hat. Es zeichnet sich insbesondere durch „Neuroplastizität“ aus und unterliegt einer kontinuierlichen erfah­rungs­bedingten Um­organisation. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das, was im Gehirn abgebildet wird, auf der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt beruht. Dieser neuronale Zustand der Plastizität ist gerade bei Kindern stärker ausgeprägt als bei Erwachsenen. Er zeigt sich insbesondere im präfrontalen Kortex, dem die Anlagen zum Denken, Planen und Kontrol­lieren zugeordnet werden (Gopnik 2011, S. 20). In diesem Areal ist die Anzahl der neuronalen Bahnen bei Kindern sehr hoch (hohe „Konnektivität“), ehe sie sich im Erwach­senen­alter in geringerer Zahl verstetigt haben. Die Folge davon ist, dass der Mensch in der frühen Phase der Hirnentwicklung sehr viel offener ist als in einem späteren Stadium seiner Entwicklung.

Die Offenheit des kindlichen Gehirns fördert nach Gopnik insbesondere fle­xi­bles und kontra­faktisches Denken. Denn Kinder sind keine „unvollkommenen Erwachsenen“, sondern eine eigenstän­dige „Erscheinungsform des homo sapiens“ (Gopnik 2011, S. 18). Sie können sich insbesondere auch Dinge vorstellen, die es in der Wirklichkeit nicht gibt – das entspricht beim Philosophieren der spekulativen Kompetenz, die beispielsweise das Nachdenken über die Welt in Form von Gedanken­experimenten umfasst: „Zwischen Kindern und Erwachsenen herrscht eine Art evolutionärer Arbeitsteilung. Kinder sind die Abteilung für Forschung und Ent­wicklung der mensch­lichen Spezies – die Phantasten, die fürs Brainstorming zu­ständig sind. Erwachsene hingegen sind für Produktion und Vertrieb zuständig“ (Gopnik 2011, S. 19). 

Eine besondere Fähigkeit von jüngeren Kindern ist nach Gopnik auch die Kontrafaktizität, eine Art antizipierendes Vorstellungs­ver­mögen, das von realen Dingen auf der Welt abstrahiert und neue Sinn­zusammenhänge schafft, die so in der Wirklichkeit nicht exis­tieren. So können zum Beispiel schon jüngere Kinder „kontrafaktisch“ in die Zukunft schauen und jenseits der Realität spielerisch Gedanken entwickeln, wie zum Beispiel die Konstruktion einer Zeitmaschine, mit der man in die Zukunft fliegen kann. Gopnik nennt als Bedingung des kontrafaktischen Denkens von Kindern, dass sie wissen müssen, worum es geht, d.h. Kinder denken nur Dinge weiter, die in ihren Welterfahrungen vorkommen (Gopnik 2011, S. 101). Diese Erfahrung habe auch ich beim Philosophieren mit den Kita-Kindern gemacht. Der Hase aus unserer Geschichte sagte: „Alles stirbt einmal“. Auf meine Frage, wie das denn der Hase meinen könnte, bezogen die Kinder das Sterben sofort auf das gesamte Weltall: Die Erde stirbt, die Sonne stirbt, Berge sterben, Tiere, Pflanzen und auch Menschen. Die Kinder haben ein holistisches Weltbild vertreten, das beseelte und unbeseelte Materie umfasst. Ihre Gedanken kommen der Auffassung des griechischen Philosophen Demokrit sehr nahe, der vor 2500 Jahren schrieb, dass das Ein- und Ausatmen das Lebensprinzip des Menschen sei. Dieses Prinzip gelte im gesamten Weltall: Durch das Einsaugen und Ausstoßen von Atomen würden Gestirne entstehen und wieder vergehen. Die Materie bewege sich von selbst. Im Gegensatz zu den Kindern vertrat Demokrit allerdings die Auffassung, dass die Seele der Geist des Menschen sei, der zusammen mit dem menschlichen Körper stirbt (Capelle 1968, S. 424).

2. Praktische Anregungen: Philosophieren mit dem Kinderbuch „Was ist das? fragt der Frosch“

2.1 Warum eignet sich das Buch zum Philosophieren in der Kita?

Das Kinderbuch „Was ist das? fragt der Frosch“ von Max Velthuijs ist ein großformatiges Vorlesebuch, das in neuer Ausgabe 2015 im Beltz Verlag erschienen ist. Es kann von den Erzieherinnen vorgelesen oder als Film bei Youtube heruntergeladen werden (siehe Quellenverzeichnis). Die Leitidee des Buches verbindet Leben und Sterben. Sie sind Grundelemente der Natur und betreffen alle Lebewesen einschließlich des Menschen. Da das Sterben im Buch im Bereich der Tiere angesiedelt ist, eignen sich das Buch oder der Film in besonderer Weise für den Einstieg in die Thematik, da es die emotionale Betroffenheit der Kinder auf Distanz hält (es stirbt nicht die Oma, sondern eine Amsel). Am Schluss des Buches steht wieder das Leben im Vordergrund: Nachdem die Amsel begraben wurde, spielen die Tiere Fangen, und der Frosch ruft: „Ist das Leben nicht wunderschön?“ Die Kinder kennen möglicherweise den Frosch und seine Freunde aus anderen Büchern, da Max Velthuijs eine ganze Reihe von Abenteuergeschichten über den Frosch geschrieben hat.

Das Buch über den Tod beginnt damit, dass ein Schweinchen an einem schönen Herbsttag Äpfel pflückt. Plötzlich kommt der Frosch zu ihm und erzählt, dass er etwas gefunden habe. Das Schweinchen wird neugierig und folgt dem Frosch. Sie gehen zur Amsel, die auf dem Boden liegt und sich nicht mehr bewegt. Das Schwein­chen meint daraufhin, dass die Amsel wahrscheinlich schläft. Erst die Ente entdeckt, dass mit der Amsel etwas nicht stimmt, und der Hase stellt fest, dass die Amsel tot ist. Der Frosch möchte nun wissen, was tot sein heißt? Der Hase zeigt daraufhin zum Himmel. Da wird der Frosch unruhig und fragt, ob auch er einmal sterben wird? Der Hase antwortet ihm, dass alle Lebewesen sterben, wenn sie alt sind.

Die Tiere laden die Amsel auf eine Bahre, und tragen sie über die Wiese. Sie buddeln ein Loch, um sie zu begraben. Die Amsel hat ihr ganzes Leben lang schön gesungen, doch nun hat sie ihre Ruhe verdient. Als das Grab fertig ist, sind alle Tiere etwas nachdenklich, aber dann prescht der Frosch vor und möchte Fangen spielen. Seine Botschaft an seine Freunde lautet: Altes Leben geht, neues Leben kommt. Verdeutlicht wird dies durch das schöne Abendlied, das eine kleine Amsel im Baum über ihnen singt.

2.2 Wie kann Kindern über das Buch nachgedacht werden?

Das Buch wird in der Kitagruppe in mehreren Etappen vorgelesen werden; die Kinder sollten auch die Möglichkeit erhalten, die Bilder während der Lektüre zu betrachten und Gedanken dazu zu äußern (es gibt keine Seitenzahlen im Buch).

Als Einstieg könnte die Erzieherin oder der Erzieher den Kindern einen selbstgebastelten Frosch zeigen und sie fragen, welche Geschichten über den Frosch sie schon kennen. Nach einem kurzen Brainstorming wird das neue Buch vorgelesen.

Eine weitere Einstiegsmöglichkeit ist das Spiel „Was ist das?“, in die Gegenstände zum Thema „Tod“ erraten werden sollen (siehe 2.3 – 1. Spiel).

   1. Phase: „Ich habe was gefunden“

Die Erzieherin oder der Erzieher liest zunächst bis zu der Stelle, als der Frosch dem Schwein­chen erzählt, dass er etwas gefunden habe. Die Kinder stellen nun Vermutungen an, was der Frosch gefunden haben könnte und verbalisieren eigene Erfahrungen.

   2. Phase: Die Amsel bewegt sich nicht mehr

Anschließend wird das Buch bis zu der Stelle weitergelesen, als sich die Amsel nicht mehr bewegt. Danach könnten die Kinder über folgende Fragen nachdenken:

- Warum bewegt sich die Amsel nicht mehr?

- Das Schweinchen meint, die Amsel schläft. Bewegen sich Schlafende nicht? Begründet eure Meinung.

   3. Phase: „Alles stirbt einmal“

Nach der Diskussion wird das Buch bis zu der Stelle weitergelesen, als der Hase sagt, dass alle Lebewesen einmal sterben. Danach wird über folgende Fragen philosophiert:

- Woran erkennt der Hase, dass die Amsel tot ist?

- Bei dem Wort „tot“ zeigt der Hase zum Himmel. Warum?

- Alles stirbt einmal, sagt der Hase. Erklärt den Gedanken.

Falls die Kinder schon etwas ermüdet sein sollten, wird nach dieser Phase erst einmal Schluss gemacht. Jedes Kind könnte dann ein Bild zu der Geschichte malen: ein Lieb­lingstier, oder die Situationen, als die Amsel im Gras liegt oder das Schweinchen Äpfel pflückt usw. Die Zeichnungen könnten beim Wiedereinstieg in die Geschichte dazu dienen, die bisherige Handlung zu wiederholen.

   4. Phase: Das Begräbnis

Mit oder ohne Unterbrechung wird das Buch nun bis zu der Stelle weitergelesen, wo die Amsel begraben und auf das Grab ein schöner Stein gerollt wird. Vor der Lektüre könnte die Erzieherin oder der Erzieher die Kinder erst einmal fragen, ob sie schon einmal auf einem Friedhof gewesen sind und was man dort macht? Dazu werden Bilder von Gräbern in die Mitte gelegt, zu denen die Kinder spontan erzählen können. Nach der Lektüre bzw. der Bildbetrachtung diskutieren sie über folgende Fragen:

- Der Hase meint, die Amsel habe nun ihre Ruhe verdient. Was meint er damit?

- Der Frosch wirft schöne Blumen auf das Grab. Warum?

- Als die Amsel begraben wird, ist alles still und friedlich. Wie stellst du dir das vor? Male das Amsel-Begräbnis. Durch die Friedhofsbilder werden die Kinder bereits ein wenig auf Begräbnisrituale vorbereitet.

   5. Phase: „Ist das Leben nicht wunderschön?“

Nach dem Begräbnis der Amsel wird das Buch bis zum Schluss vorgelesen. Danach philosophieren die Kinder über die folgenden Fragen:

- Nach dem Begräbnis der Amsel spielen die vier Freunde Fangen. Sind sie gar nicht traurig? Begründet eure Meinung.

- Der Forsch genießt das Spiel und sagt zum Schluss: „Ist das Leben nicht wunderschön?“ Was würdet ihr darauf antworten?  Fädelt dazu eine Gedankenkette.

Bei einer Gedankenkette sagen die Kinder nacheinander, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Eine Regel sollten sie dabei beachten: Keiner darf wiederholen, was vorher schon gesagt worden ist.

Zum Abschluss spielen die Kinder mit selbstgebastelten oder gezeichneten Tieren die Ge­schichte nach (siehe 2.3 – 2. Spiel). Abschließend denken sie gemeinsam in der Gruppe darüber nach, was ein wunderschönes Leben sein könnte. Zunächst sollte darüber gesprochen werden, was ein wunderschönes Leben einer Amsel sein könnte und dann, was ein wunderschönes Leben von Menschen sein könnte. Um die letzte Frage zu beantworten, sollten die Kinder am nächsten Tag einen Gegenstand mit in die Kita bringen, der für sie zu einem schönen Leben gehört. Jedes Kind stellt seinen Gegenstand vor und sagt, warum er zu einem schönen Leben gehört.

 2.3 Spiele zum Thema

1. Spiel: Was ist das?

Dieses Spiel könnte als Einstieg in das Philosophieren über „Leben und Tod“ gespielt werden. Die Erzieherin oder der Erzieher bringt einen Beutel mit Gegenständen in die Kita mit, die etwas mit dem Thema Leben und Tod zu tun haben, wie zum Beispiel: eine Kerze, eine Blume, ein schwarzes Tuch, eine Flasche mit Wasser.

1. Runde:

Die Erzieherin oder der Erzieher erklärt den Kindern, dass sie oder er verschiedene Gegen­stände zum Thema „Leben und Tod“ in einem Beutel mitgebracht hat, die erraten werden sollen. Ein Kind beginnt und befühlt den Beutel. Wenn er oder sie einen Gegenstand ertastet und erraten hat, wird er herausgenommen. Danach ist jemand anderes an der Reihe. Das Spiel ist erst beendet, wenn alle Gegenstände erraten wurden.

2. Runde:

Die Gegenstände werden in einen Kreis gelegt. Anschließend kommt ein Kind in den Kreis und sucht sich einen Gegenstand aus. Es erklärt, was dieser Gegenstand mit Leben und Tod zu tun hat.

3. Runde:

Zum Schluss wählen alle Kinder einen Gegenstand aus und malen ein Bild dazu. Anhand der Bilder erzählen sie anschließend etwas zum Thema.

2. Spiel: Das Leben der Amsel

Dieses Spiel sollte nach der Lektüre des Buches gespielt werden. Die Kinder bilden Vierer- Gruppen. Jeder in der Gruppe wählt ein Tier aus der Geschichte aus, d.h. es sollten der Frosch, das Schweinchen, die Ente und die Amsel möglichst groß gezeichnet werden. Danach erzählen die Kinder in der Gruppe anhand ihrer Tiere die Geschichte nach, und war in der Ich-Form:

„Ich bin das Schweinchen, und pflücke Äpfel.“

„Dann komme ich, der Frosch. Ich habe die Amsel gefunden…

Bevor die Kinder die Geschichte in ihrer Gruppe nacherzählen, sollte die Erzieherin oder der Erzieher einen „Durchlauf“ in der gesamten Gruppe machen. Die Arbeit in kleinen Gruppen verfolgt das Ziel, dass sich möglichst alle Kinder an der Nacherzählung beteiligen und nicht nur einige.

Ausblick: Das Thema Tod als „ganz normal“ in den Kita-Alltag integrieren

Das Buch „Was ist das? fragt der Frosch“, eröffnet Kita-Kindern die Möglichkeit, sich mit dem Thema „Sterben und Tod“ auf anschauliche und spielerische Weise auseinanderzusetzen. Da das Buch in der Tierwelt spielt, ermöglicht es eine emotionale Distanz zum eigenen Erleben und zu Vergänglichkeitserfahrungen in der realen Welt. Das Buch sollte wie andere Kinderbücher auch „ganz normal“ in einer Vorlesestunde besprochen werden, sodass es für die Kinder selbstverständlich ist, über Sterben und Tod wie über andere Alltagsthemen auch miteinander nachzudenken.

Literatur

Arendt, H.: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 2001, 12. Auflage.

Brüning, B.: Lebenslicht – Wie Jugendliche über das Sterben denken. Bad Münder: Leibniz-Bücherwarte 2017.

Capelle, W. (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Stuttgart: Kröner 1968.

Gopnik, A.: Kleine Philosophen. Was wir von unseren Kindern über Liebe, Wahrheit und den Sinn des Lebens lernen können. Berlin: Ullstein 2011, 2. Auflage.

Piaget, J.: Urteil und Denkprozess des Kindes. Düsseldorf: Schwann 1973.

Piaget, J.: Das Weltbild des Kindes. München: Piper 1997.

Piaget, J.: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 13-24.

Velthujs, M.: Was ist das? fragt der Frosch. Weinheim: Beltz 2015.

Film: „Was ist das? Fragt der Frosch?“ https://www.youtube.com/watch?v=mOwET_LmQK4 (20.2.2016).

Artikel: Keine Angst vor dem Tod. In: Hamburger Abendblatt 2019:https://www.abendblatt.de/hamburg/von-mensch-zu-mensch/article217151577/Keine-Angst-vor-dem-Thema-Tod.html

Weitere Literatur zum Thema

Didaktische Literatur

Brüning, B.: Kinder sind die besten Philosophen. Leipzig: Buchverlag für die Frau 2016, 3. Auflage (darin bes. Von Weltall, Gott und Zeit).

Brüning, B.: Theorie und Praxis des Philosophierens mit Kindern. Münster: LIT 2015 (darin besonders vier Module für den Kindergarten S. 147-184).

Brüning, B: Lebenslicht. Wie Jugendliche über das Sterben denken. Bad Münder: Leibniz-Bücherwarte 2017 (kann über die Autorin für 10 Euro bestellt werden).

Duhr, K. B.: Tod und Sterben in der modernen Kinder- und Jugendliteratur. Herzogenrath: Murken und Altrogge 2010 (Analyse von 30 ausgewählten Kinder und Jugendbüchern zum Thema Tod – als medizinische Dissertation veröffentlicht).

Zoller, E.: Philosophieren heißt sterben lernen. In: Dies., Selber denken macht schlau. Philosophieren mit Kindern. Zürich: Zytglogge 2010, S. 121-137.

Ausgewählte Kinderbücher zum Thema Tod

Erlbruch, W.: Ente, Tod und Tulpe. München: Kunstmann 2010, 7. Auflage.

Fried, A.: Hat Opa einen Anzug an? München: Hanser Verlag 1997, 16. Auflage.

Lindgren, A.: Die Brüder Löwenherz. Hamburg: Oetinger Verlag 1974, 37. Auflage.

Saalfrank, H.: Abschied von der kleinen Raupe. Würzburg: Echter Verlag 1999.

Stafelt, P: Und was kommt dann? Ein Kinderbuch vom Tod. Frankfurt am Main: Moritz Verlag 2009, 9. Auflage.

Varley, S.: Leb wohl, lieber Dachs. München: Annette Betz, 2002.

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