Margarete Blank-Mathieu
Mit der Großelterngeneration verbinden uns in der Regel positivere Gefühle, Gedanken und Eindrücke, als dies bei der Elterngeneration der Fall ist. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen verzeiht man den Großeltern ihre Fehler und Unzulänglichkeiten eher, weil sie eben "schon" alt sind, zum anderen muss man mit ihnen die täglichen Alltagskonflikte nicht austragen. So ist das Verhältnis Enkel-Großeltern relativ unbelastet und wird daher von beiden Seiten fast durchweg als angenehm empfunden.
Leider können viele Kinder heute solche Erfahrungen nur noch selten machen - die Großeltern wohnen zu weit weg oder sind noch berufstätig. Außerdem hat jede Generation ihr eigenes Lebensumfeld. Kinder sind in Schulen und Jugendcliquen integriert, haben eigene Interessen, einen eigenen Musikgeschmack und können sich in die Lebenswelt der Großelterngeneration nur schwer hineinversetzen. Umgekehrt ist es ebenso. Die Wünsche und Interessen der Enkel weichen von den Vorstellungen der Großeltern stark ab, so dass sie oft kein Verständnis für deren Bedürfnisse haben.
Unsere Gesellschaft bietet im Alltag wenig Berührungspunkte zwischen den Generationen, wenn diese nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen aufrechterhalten werden.
Negative Einstellungen bestimmen den Umgang miteinander
Das Erfahrungswissen der älteren Generation spielt im Alltag und Berufsleben von jungen Menschen kaum mehr eine Rolle. Der Computer hat die Arbeitswelt so grundlegend verändert, dass handwerkliche Fähigkeiten und Fertigkeiten heute größtenteils von Maschinen aller Art übernommen und präziser ausgeführt werden können, als dies vormals auch mit großem handwerklichen Geschick der Fall war. Für Kinder und Jugendliche haben somit diese Erwachsenen keine Vorbildfunktion mehr, ja, sie sind mit ihren technischen Kenntnissen und Fähigkeiten - vom Gebrauch des Mobiltelefons über das Versenden von SMS-Nachrichten bis hin zur Datenübernahme aus dem Internet - diesen weit voraus.
Durch die Bevölkerungsentwicklung werden junge Menschen für die Versorgung der Älteren immer stärker "zur Kasse gebeten". Vielfach überwiegen bei jungen Menschen die Ängste, dass ihnen trotz angestrengter Arbeit und einem guten Verdienst eines Tages nicht mehr viel zum Leben übrigbleibt. Dies verursacht eine weitere Abgrenzung. Junge Menschen leben ihr eigenes Leben, konsumieren, was sich ihnen bietet, leben in ihrer eigenen Jugendkultur.
Zu keiner Zeit waren die Interessen bei Fernsehsendungen so unterschiedlich wie heute. Selbst allgemein interessierende Unterhaltungssendungen werden durch die Musikeinlagen einmal für die junge, dann wieder für die ältere Generation "unbrauchbar". Unterschiedliche Wertvorstellungen scheinen ebenfalls problematisch zu sein. Kaum einer der heutigen Jugendlichen ist noch bereit, seinen Platz im Bus für einen älteren Menschen zu räumen. Benimmregeln, die noch vor 30 Jahren Gültigkeit besaßen, sind überholt. Es scheint, als ob die Barrieren zwischen den Generationen ständig zunähmen.
Weshalb sind Begegnungen zwischen den Generationen so wichtig?
Die Frage bleibt, weshalb aber in konkreten Begegnungen zwischen Enkeln und Großeltern so viele positive Gefühle entstehen? Was ist es, was die Großelterngeneration so interessant macht, weshalb Kinder von dem Wissen und den Erfahrungen der Großeltern so fasziniert sein können?
Senioren vermitteln lebendige Geschichte
Geschichtsunterricht ist für Kinder und Jugendliche uninteressant. Handelt es sich hier doch um reine Zahlen- oder Ereignisaufzählungen. Ganz anders die Erzählungen der Senioren. Sie berichten als lebende Zeitzeugen vom Alltag im Krieg- und Nachkriegsdeutschland. Wie war das mit der Inflation? Warum gehen die Senioren mit den Dingen des täglichen Gebrauchs noch immer so sorgfältig um, weshalb sammeln sie Dinge, die man jederzeit kaufen kann?
Das Leben der 1940er und 1950er Jahre unterscheidet sich grundlegend von unserem heutigen. Vom ersten Schwarz-weiß Fernsehapparat bis zur DVD-Technik sind nur 50 Jahre vergangen. Einen Telefonanschluss konnten sich lange Zeit nur wenige Menschen leisten. Die Mobilität hat ständig zugenommen. War es in den 1960er Jahren noch der Italienurlaub, so sind es heute längst die Fernreisen, die Menschen anlocken.
Diese Art von Geschichtswissen ist für Kinder und Jugendliche viel interessanter, als es der Geschichtsunterricht in der Schule jemals sein könnte. Sie können stundenlang zuhören, wenn die Großeltern von ihrer Jugendzeit berichten.
Senioren sind ein Stück unserer Kultur
Mit den Erzählungen vermitteln Senioren auch ein Stück unserer Kultur. Wie entwickelte sich das Schulsystem, wie entstanden nach und nach unsere kulturellen Einrichtungen, wie z.B. die Bibliotheken?
Aber auch die Entwicklungen in der Arbeitswelt werden durch das Leben der Senioren repräsentiert. Von rein handwerklichem Können selbst in den Fabrikhallen ging es zu immer mehr Maschineneinsatz. Immer weniger Menschen wurden gebraucht, um immer mehr Produkte herstellen zu können.
Es veränderte sich mit dem Lebensumfeld das Lebensgefühl. Die Urlaubsreise wurde nach dem Krieg zu einem festen Bestandteil im Jahreslauf. Die Campingkultur entstand, zunächst mit der Einrichtung vieler Zeltplätze, später durch Campinganhänger und Wohnwagen. Die Musik der damaligen Zeit erzählt von Wünschen und Bedürfnissen, z.B. der Gastarbeiter, die in Deutschland mit am Aufbau des Wirtschaftswachstums beteiligt waren.
Kino, Theater, Tanz, Kleidung, Wohnung - dies alles gehört zu einem bestimmten Lebensgefühl. An solchen Dingen kann man ablesen, was Menschen in den jeweiligen Epochen gefühlt, gedacht und wertgeschätzt haben.
Senioren wissen und können Dinge, die inzwischen verloren gegangen sind
"Es ist schade, dass ich alles, was ich kann und weiß, nicht an meine Enkel weitergeben kann", so der Ausspruch eines Großvaters. Viele Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Senioren besitzen, werden den Kindern und Jugendlichen heute nicht mehr vermittelt. Die Sprache hat sich gewandelt; viele Ausdrücke sind den Menschen von heute nicht mehr geläufig. Die Umgebung hat sich verändert. Ganze Straßenzüge wurden umgestaltet. Wo einmal Häuser standen, sind heute Straßenkreuzungen, wo die Großeltern einst Fußball spielten, steht heute ein Einkaufszentrum.
Aber auch Fertigkeiten, die Senioren beherrscht haben, sind verloren gegangen. Konnte der Großvater noch einen Drachen bauen, so ist das heute schon nicht mehr selbstverständlich. In Wald und Feld kannten sich die Großeltern noch besser aus als die Eltern. Pflanzen und Bäume wussten sie zu bestimmen, Pilze wurden gesammelt, aus Kräutern und Früchten entstand Tee für den Winter. Wie kocht man Marmelade? Welche Arbeitsgänge sind nötig, um selbst Wein herzustellen? Dieses Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Wo dies nicht der Fall ist, gehen solche Fähigkeiten verloren.
Senioren bringen Zeit, Geduld, Gelassenheit und Interesse für junge Leute auf
Und das Wichtigste, was die Großelterngeneration für junge Menschen von heute zur Verfügung hat, ist das ungeteilte Interesse an den Enkeln. Während Eltern vom Erziehungs- und Schulstress häufig überfordert sind und ständig Ansprüche an Kinder und Jugendliche stellen, können sich die Großeltern über das Aufwachsen einer neuen Generation freuen. Sie sehen nicht in erster Linie die Schwierigkeiten, sondern haben gelernt, dass Zeit vieles verändert, dass eine Sechs in Latein noch kein Zeichen dafür sein muss, dass das Kind im Leben nicht zurechtkommen wird, dass grüne Haare und ausgefranste Hosen eine vorübergehende Erscheinung sein werden.
Geduld und Gelassenheit zeichnen den Umgang miteinander aus. Viel Zeit kann für intensive Gespräche erübrigt werden. Wenn Kinder und Jugendliche erzählen, so werden sie nicht stets unterbrochen, können Sorgen und Fragen loswerden und erfahren, dass ihnen ernsthaft zugehört wird.
Viele Träume und Wünsche, die ältere Menschen einstmals hatten, können die jungen Menschen von heute verwirklichen. Anderes wird nicht mehr möglich sein. Der Austausch von unterschiedlichen Gedanken und Gefühlen wird für beide Seiten zu einem großen Gewinn.
Wie kann eine Begegnung zwischen Senioren und Kindern/ Jugendlichen im Alltag umgesetzt werden?
Wer Großeltern hat, wird in der Regel auch Kontakte zu diesen haben. Nicht immer sind sie so positiv, wie hier geschildert. Es gibt auch unüberwindliche Schwierigkeiten zwischen den Generationen. Um positive Begegnungen zu ermöglichen, können einige strukturelle Mittel eingesetzt werden
in Kindertageseinrichtungen:
- Großelterntage, an denen Senioren Koch- und Bastelanleitungen bereitstellen, z.B. Drachen basteln, Marmelade kochen, Pfeifen schnitzen etc.
- Kontakte zu einem Altenheim: Spielnachmittage, gemeinsame Mahlzeiten etc.
in Schulen:
- Spielnachmittage mit Großeltern
- Hausaufgabenbetreuung
- Projektangebote
in Vereinen und Jugendhäusern:
- Besuchsdienste in Altenheimen
- Hilfe von alten Menschen bei der Renovierung eines Hauses/ Raumes
- Anleitung bei Moped- oder Motorradreparaturen
- Gemeinsame Umweltprojekte
Die überwiegend positiven Erfahrungen mit der Großelterngeneration können für Kinder und Jugendliche, aber auch für die Senioren wichtige Beziehungserlebnisse werden. Senioren fühlen sich gebraucht, Kinder und Jugendliche merken, dass sie ernst genommen und nicht nur an ihren Leistungen gemessen werden. Die "natürlichen" Kontakte zu Verwandten können durch neue Formen des Zusammenseins erweitert werden, um möglichst vielen Menschen diese positiven Erfahrungen erleben zu lassen.
Es lohnt sich in jedem Fall darüber nachzudenken, ob es in unserer pädagogischen Arbeit nicht wichtig ist, die Generationendifferenz zu überwinden und für das Wohl der Kinder und Jugendlichen brauchbar zu machen.
Weiterführende Literatur
Henning, Gudrun: Kindern Geborgenheit geben. Freiburg 2001, S. 99 ff
Miedaner, Lore: Alt und Jung entdeckt sich neu. Freiburg 2001
Winterhager-Schmid, Luise (Hrsg.): Erfahrung mit Generationendifferenz, Weinheim 2000