Verkehrserziehung im Kindergarten

Aus: Maria Limbourg, Stefan Holeweg, Claudia Köhne: Optimierung des Programms "Kind und Verkehr". Teilprojekt 6: Überprüfung einer Erweiterung der Programminhalte. Essen: Universität Gesamthochschule Essen 2001, S. 86-90

Maria Limbourg, Stefan Holeweg und Claudia Köhne

In seinen Anregungen für Erzieher und Erzieherinnen stellte Munsch (1969) fest, dass Verkehrserziehung im Vorschulalter zwei Aspekte beinhalten sollte, die Verkehrserziehung im eigentlichen Sinne und das Schützen der Kinder vor Verkehrsgefahren. Der Aspekt des Schützens bezog sich hierbei auf die Wege des Kindes zum Kindergarten und nach Hause zurück. Für diese Wege waren nach Meinung von Munsch ausschließlich die Eltern verantwortlich, Erzieher und Erzieherinnen waren jedoch zu fachlich fundierter Beratung verpflichtet.

In "Verkehrserziehung in der Großstadt" des Senators für Wirtschaft und Verkehr, Berlin (1980) wurde festgestellt, dass eine vom Kindergarten her aufbauende Verkehrserziehung sich in folgendem allgemeinen Bedingungszusammenhang befindet:

Zum einen folgt sie dem Erziehungsauftrag der Kindertagesstätten, den Kindern Angebote zu machen, um soziale Verhaltensweisen zu erfahren, zu erproben und zu erlernen. Verkehrsgerechtes Verhalten ist ein wichtiger Bestandteil von sozialer Kompetenz überhaupt und wird zuverlässiger gelernt, wenn frühzeitig und altersentsprechend darauf vorbereitet wird. Zum anderen gilt immer, in der kindergartenspezifischen Vermittlungsmethode von konkreten Situationen auszugehen, in denen Kinder leben und die sie zu bewältigen haben.

Die spezielle Zielbestimmung der Verkehrserziehung ist die Vorbereitung der Kinder auf den späteren Schulweg. Sie müssen die Fähigkeit zum selbständigen Überqueren der Straße - gerade in komplexen und unbekannten Verkehrssituationen - sicher beherrschen. Sie sollen Aufmerksamkeit und Verständnis für die Abläufe im Straßenverkehr erwerben und vorbereitet werden, eigene Lösungsstrategien in der Realität entwickeln zu können.

Verkehrserziehung sollte jedoch nicht nur als mehr oder weniger passives Überlebenstraining des Kindes in bezug auf den "Gegner" Auto verstanden werden. Zur Verkehrserziehung gehören auch noch folgende Inhalte:

  • Verhalten als Fußgänger auf dem Gehweg,
  • Verhalten als noch nicht achtjähriger Radfahrer (heute: bis zu 10 Jahren) auf dem Gehweg,
  • Verhalten als Fahrer von Spielfahrzeugen,
  • Verhalten als Rollschuhläufer,
  • Verhalten auf der Rolltreppe,
  • Verhalten in Bus und U-Bahn,
  • Verhalten als Mitfahrer im Pkw usw.

Mit der speziellen Förderung all dieser Kompetenzen sind Kindergärten und deren Erzieherinnen und Erzieher heute überfordert; es ist jedoch möglich, bei den Kindern Grundlagen zu schaffen und verkehrsgerechtes Verhalten zu fördern (Der Senator für Wirtschaft und Verkehr, Berlin, 1980).

Während die Verkehrserziehung in den 60er und 70er Jahren noch als primäre Elternaufgabe gesehen wurde, stellte Klüsche (1981) fest, dass der Kindergarten ebenfalls einen Hauptteil der kindlichen Verkehrserziehung übernehmen muss. Neben der eigentlichen Schulung der Kinder können die Erzieherinnen die Eltern bei ihrer Verkehrsanleitung unterstützen. Die speziellen Schwerpunkte der Verkehrserziehungsarbeit im Kindergarten sah er in:

  • der Bewegungserziehung: Sie eignet sich für die Kindergartenarbeit, wenn dort ein Raumangebot mit Gruppenraum, Turnraum oder Rasenfläche zur Verfügung steht, das im häuslichen Bereich fehlt. Außerdem machen Bewegungsübungen in der Gemeinschaft mehr Spaß als trockene Einzelgymnastik.
  • der Zeichen- und Regelkunde: Die Vermittlung von Verkehrszeichen sollte auf das Nötigste beschränkt bleiben und nur die Zeichen herausgreifen, die die kindliche Verkehrsteilnahme direkt berühren wie Fußgängerzeichen, Radfahrhinweise und die wichtigsten Vorfahrtsschilder.
  • der Förderung der Kommunikationsfähigkeit.

Kommunikationsfähigkeit ist ein wichtiger Schritt zur unabhängigen kindlichen Verkehrsteilnahme. Kinder sollen von Anfang an gewöhnt sein, zu übrigen Verkehrsteilnehmern Kontakt zu suchen. Kontakte zwingen zur Absprache, vermindern die Anonymität und ermöglichen durch den Zwang zur Interaktion erst Partnerschaft auf der Straße. Gerade die Förderung der Kommunikationsfähigkeit ist Teil der Sozialerziehung im Kindergarten und sollte bewusst auf die Verkehrswelt ausgedehnt werden.

Manzey und Gorges (1986) fassten diese Erziehungsziele 1986 noch einmal gebündelt zusammen. Sie verstanden unter Verkehrserziehung alle erzieherischen Einwirkungen auf Einstellungen und Verhaltensweisen der Kinder mit dem Ziel des situationsgerechten, autonomen und kompetenten Verhaltens im Straßenverkehr. Dem Kindergarten kam die Aufgabe zu, dieses Verhalten zu entwickeln und zu fördern.

Programme zur Verkehrserziehung im Elementarbereich

In der Bundesrepublik gibt es verschiedene Ansätze zur Verkehrserziehung im Kindergarten:

Das Programm "Kind und Verkehr" (http://www.dvr.de)

"Kind und Verkehr" ist ein bundesweit wirkendes Elternbildungsprogramm des Deutschen Verkehrssicherheitsrates. Es wird seit 1980 mit der finanziellen Unterstützung des Bundesministers für Verkehr umgesetzt, zentral koordiniert und wissenschaftlich begleitet. Jährlich finden ca. 15.000 Elternveranstaltungen in Kindergärten statt.

Die Ziele des Programms können als drei - sich ergänzende - Säulen zusammengefasst werden:

  1. Elternbildung im Vorschulbereich: Eltern und anderen erwachsenen Bezugspersonen von Kindern kommt die wichtigste Rolle auf dem Gebiet der Verkehrserziehung, besonders der vorschulischen Verkehrserziehung, zu. Das Programm soll dazu beitragen, dass Eltern sich stärker für die Sicherheit ihrer Kinder einsetzen. Eltern sollen dazu befähigt werden, ihre Kinder systematisch an eine möglichst sichere und selbständige Verkehrsteilnahme heranzuführen.
  2. Anpassung technischer und juristischer Aspekte des Straßenverkehrs an Kinder: In diesem Bereich soll das Programm dazu beitragen, dass die Interessen und Bedürfnisse von Kindern bei der Stadt- und Verkehrsplanung stärker berücksichtigt werden. Primäres Ziel hierbei ist die Erhöhung der Sicherheit auf den alltäglichen Wegen und in der Wohnumgebung. Der DVR leistet als Dachverband Überzeugungsarbeit bei Politikern und Städteplanern und nimmt Stellung zu juristischen Fragen wie z.B. der Sicherungspflicht von Kindern im Pkw und der Heraufsetzung der Altersgrenze radfahrender Kinder auf dem Gehweg.
  3. Aufklärung erwachsener Verkehrsteilnehmer, insbesondere Kraftfahrer über Verhaltensmöglichkeiten von Kindern im Straßenverkehr: Durch Aufklärung sollen besonders Kraftfahrer für die Probleme von Kindern im Straßenverkehr sensibilisiert werden, damit sie sich ihnen gegenüber rücksichtsvoller und vorsichtiger verhalten. Bei der Verbreitung der Information über die begrenzten Fähigkeiten von Kindern im Straßenverkehr nutzt der DVR Presse, Funk und Fernsehen.

Die Inhalte des Programms werden zumeist im Rahmen einer Elternveranstaltung in Kindergärten durch einen der ca. 1.800 Moderatoren des Programms "Kind und Verkehr" an die Eltern weitergegeben (Hammer, 1995, Berg, 1997). Mit dem Ziel, die Sicherheit von Kindern aus türkischen Familien zu erhöhen, wurden im Rahmen des Programms "Kind und Verkehr" ca. 200 türkische Moderatoren ausgebildet, die die Inhalte des Programms in Einzelgesprächen zu Hause an die türkischen Eltern weitergeben.

Inhaltlich ist das Elternbildungsprogramm in verschiedene Themenbereiche untergliedert. So sind die Themen "Kinder als Fußgänger", "Kinder als Radfahrer", "Kinder als Mitfahrer", "Kinder unterwegs" (Kinder als Schulanfänger) und "Für türkische Eltern" zu unterscheiden. Das Thema "Kinder als Mitfahrer" ist jeweils Bestandteil der in manchen Bereichen unterschiedlich strukturierten Veranstaltungen für zu Fuß gehende und radfahrende Kinder. Gemeinsame Themenbereiche der Veranstaltungen "Kinder als Fußgänger" und "Kinder als Radfahrer" sind die entwicklungsbedingten Voraussetzungen für die Teilnahme von Kindern am Straßenverkehr, die Analyse der Verkehrsbedingungen im familiären Wohnumfeld und die Aufdeckung von Gefahren für das Kind. Während für kindliche Fußgänger ein Übungsprogramm zum Erlernen von verkehrssicherem Verhalten im Verkehrsraum angeboten wird, hat der Programmteil "Kinder als Radfahrer" zum Ziel, ein frühes Radfahren im Verkehr zu verhindern. Die Eltern erhalten Informationen über die entwicklungspsychologisch bedingten Grenzen für das Radfahren im Vorschulalter, über die rechtlichen Bestimmungen und über die technischen Anforderungen an ein verkehrssicheres Fahrrad für Kinder (DVR, 1996, 1998; BERG, 1997).

Kinder-Verkehrs-Club (KVC)

Der Kinder-Verkehrs-Club wurde in Schweden durch die National Society for Road Safety ins Leben gerufen. Mitglieder dieses Clubs können Kinder im Alter zwischen 3 und 7 Jahren werden. In halbjährlichen Abständen bekommen die Mitglieder Informations- und Arbeitsmaterialien für Kinder und Eltern, Arbeitsblätter, Puzzle und Spiele per Post zugestellt. Die Inhalte der Materialien beziehen sich nur auf Kinder als Fußgänger, nicht auf radfahrende Kinder. Die Clubs verfolgen das Ziel, die Eltern über die begrenzten Fähigkeiten von Kindern im Straßenverkehr zu informieren und ein kontinuierliches Training anzuregen, damit die Kinder den Anforderungen des Verkehrs gewachsen sind (West u.a., 1993).

Der deutsche Kinder-Verkehrs-Club bestand von 1976 bis 1997 als Einrichtung der Deutschen Verkehrswacht nach dem Modell des beschriebenen schwedischen Clubs und wurde mit dem Programm "Kind und Verkehr" abgestimmt. Der Club sprach Eltern mit 3- bis 6jährigen Kindern an, um sie über die Gefahren des Aufenthaltes im Straßenraum zu informieren. Die Inhalte dieses Programms wurden über Broschüren ("Elternpost") und Brettspiel-Bausteine, die dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes angepasst waren, vermittelt (Colditz, 1993). Neben Deutschland hatten auch andere Länder, wie z.B. England, das Modell des schwedischen Kinder-Verkehrs-Clubs übernommen.

West u.a. (1993) untersuchten 1990 und 1991 bei 1.600 Kindern im Alter zwischen 3 und 4 Jahren und ihren Eltern in insgesamt 13 Grafschaften die Wirksamkeit des in England eingeführten Kinder-Verkehrs-Clubs. Das Augenmerk lag hierbei auf der möglichen Erhöhung des Wissens über sicheres Verhalten im Straßenverkehr bei Kindern und der Häufigkeit der elterlichen Unterweisung. Es zeigte sich, dass die Mitgliedschaft im Club keine Auswirkungen auf das Verhalten bei der Fahrbahnüberquerung hatte; ebenso konnte keine erhöhte Unterweisungs- und Beaufsichtigungsrate bei den Eltern dieser Kinder festgestellt werden. Das Verkehrswissen und das allgemeine Gefahrenbewusstsein war bei den Mitgliedern erhöht. Hier konnten Unterschiede zwischen den Geschlechtern und dem sozialen Status festgestellt werden. Kinder aus Arbeiterfamilien wiesen ein geringeres Verkehrswissen und eine größere Bereitschaft auf, ohne Unterweisung auf der Straße zu spielen. Das Verkehrswissen war bei Jungen höher als bei Mädchen, gleichzeitig wiesen die Jungen jedoch auch ein höheres Risikopotential in ihrem Verhalten auf.

In einer Evaluationsstudie zur Wirksamkeit im Bereich der Unfallverhinderung des schwedischen Kinder-Verkehrs-Clubs befragten Gregersen und Nolén (1994) 777 kindliche Mitglieder und ihre Eltern und 532 Nicht-Mitglieder und ihre Eltern. Die Untersuchung zeigte, dass Mitglieder des Clubs trotz häufiger betriebener theoretischer Verkehrserziehung kein geringeres Unfallrisiko aufwiesen, sondern ein höheres. Die Nutzung von technischen Schutzmaßnahmen, wie z.B. dem Fahrradhelm, trat bei Mitgliedern häufiger auf. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Inhalte des Club-Programms zu stark den Sicherheits- und Schutzaspekt betonen, statt eine sinnvolle Anleitung zur Verkehrserziehung zu geben.

Aktionen der Vorschulparlamente

Die in Deutschland etablierten Vorschulparlamente, gefördert durch die Daimler-Benz AG, werden in Arbeitskreise der Regionen Nord, West, Südwest und Süd zusammengefasst und sind den jeweiligen örtlichen Verkehrswachten angegliedert. Die Arbeitskreise oder -gruppen betreiben Situationsanalyse, Projektvorbereitung und -durchführung, planen Ausstellungen und führen Fortbildungsseminare durch. Als Beispiele können hier genannt werden:

  • Eltern-Kind-Erzieherinnen-Seminare,
  • Gesprächsrunden im häuslichen Umfeld ausländischer Familien,
  • Informationsmaterial zu Tempo 30 und Kinderrückhaltesystemen,
  • Aktionen mit Lokalzeitungen,
  • Fortbildung im Bereich Verkehrserziehung für Erzieherinnen und Eltern.

Eltern-Kinder-Erzieherinnen-Seminare (EKE-Seminare) sind vor allem praktisch ausgerichtet und beinhalten gemeinsame Spiele, Demonstrationen und verkehrspraktische Übungen. Vorteil dieses Seminarkonzeptes ist es, dass alle direkt an der Verkehrserziehung des Kindes Beteiligten teilnehmen.

Fortbildung für Erzieherinnen: In zweitägigen Fortbildungsveranstaltungen werden gemeinsam Grundlagen der Verkehrserziehung erarbeitet und Ideen für die Praxis entwickelt (Colditz, 1993).

Literatur

Berg, B. (1997): Elternarbeit im Wandel. In: Institut Sicher Leben (Hg.): Kindersicherheit: Was wirkt? Fachbuchreihe Band 8, Wien/ Essen, 122-127

Colditz, H.P. (1993): Handbuch für Verkehrssicherheitsarbeit. Schlüssel für Programme und Aktionen. 4. Aufl., DVW und DVR, Meckenheim/ Bonn

Der Senator für Wirtschaft und Verkehr, Berlin (Hg.) (1980): Verkehrserziehung in der Großstadt. Rot-Gelb-Grün Verlag, Braunschweig

DVR (Deutscher Verkehrssicherheitsrat) (Hg.) (1987-1998): Kind und Verkehr-Brief, Bonn

DVR (Hg.) (1994): Kinder sehen und verstehen. 8. Auflage, Bonn

DVR (Hg.) (1996): Radfahren ist (k)ein Kinderspiel. Elternbroschüre "Kinder als Radfahrer". 10. überarbeitete Aufl., Druckhaus Bayreuth, Bonn

DVR-Report (1997): Kein Kinderspiel - Kindgerechte Stadt und Verkehrsplanung, 1, 10-13

DVR (Hg.) (1998): Kinder als Mitfahrer. Elternbroschüre. 10. erweiterte Aufl., Dr. Cantz'sche Druckerei, Bonn

DVR (Hg.) (1998): So geht's. Elternbroschüre "Kinder als Fußgänger". 11. überarbeitete Aufl., Weinmann, Bonn

Gregersen, N.P. und Nolén, S. (1994): Children's road safety and the strategy of voluntary Traffic Safety Clubs. Accident, Analysis & Prevention, 26, 4, 463-470

Hammer, U. (1995): "Kind und Verkehr" - Ein Programm des Deutschen Verkehrssicherheitsrates und seiner Mitglieder. In: Institut Sicher Leben (Hg.): Kindersicherheit: Was wirkt? Fachbuchreihe, Band 6, Wien, 326-334

Klüsche, W. (1981): Praxis der Verkehrserziehung im Kindergarten- und Grundschulalter. Herder, Freiburg im Breisgau

Manzey, D., Gorges, R. (1986): Handbuch zur Vorschulverkehrserziehung. Rot-Gelb-Grün Lehrmittel, Braunschweig

Munsch, G. (1969): Verkehrserziehung und Maßnahmen zum Schutze gegen Verkehrsgefahren bei Kindern im vorschulischen Alter. Sonderdruck aus: Hederer, J. (1968) Handbuch für Kindergärtnerinnen und Erzieher. 3.Aufl., Don Bosco Verlag, München

West, R., Sammons, P,. West, A. (1993): Effects of a traffic club on road safety knowledge and self-reported behaviour of young children and their parents. Accid. Anal. & Prev., 25, 609-618

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