Vortrag vom 05.10.2012 im Gemeindeamt Bludesch, Kronensaal, Hauptstraße 9, 6719 Bludesch
Elke Schlösser
Einleitung zum Vortrag
1. Um ein Kind zu erziehen braucht es ein ganzes Dorf! (Afrika)
Der Titel des Abends, zu welchem wir alle Mitbürgerinnen und Mitbürger der Gemeinde Bludesch herzlich eingeladen haben, ist – literarisch ausgedrückt – ein Aphorismus. Aphorismen sind die kürzeste Gattung der Literatur. Sie kommen mit einem Satz aus, kürzer geht es nicht.
Meine Lieblingsdefinition zu Aphorismen lautet: Aphorismen sind verdichtete Wahrheiten, auf den Punkt gebrachte Weisheiten, es sind „geschliffene Gedankensplitter.“ In ihnen komprimieren sich oft lange vorab gedachte Gedankenketten zu einer philosophisch und lebenspraktisch bedeutsamen Aussage.
Schon lange habe ich vor, einmal einen Vortrag oder eine pädagogische Fortbildung auf der Basis von Aphorismen zu halten. Als man mir einen Vortrag mit dem o.g. Titel anbot, war mein Entschluss schnell getroffen: Dieser Spruch und weitere afrikanische Sinnsprüche sollen heute Abend den Rahmen meines Vortrags bilden und Leitgedanken zu meinen fachpädagogischen Ausführungen sein.
Ein Experiment, das hoffentlich gelingt!
Der einleitende Sinnspruch also stammt bekanntlich aus dem afrikanischen Kulturkreis. Dieser Kulturkreis hat reiche und tiefsinnige Lebensweisheiten hervorgebracht, zu denen die Gewissheit gehört, dass ein Kind so wertvoll und für die mitmenschliche Gemeinschaft so wichtig ist, dass es mehr als die Eltern braucht, um es angemessen groß werden zu lassen.
Das Kind sucht ja seinen Platz in der „Welt“ und nicht nur in einem „Dorf“. Es möchte seine Eigenheiten, Talente und Interessen entfalten können, um sich mehr zu erobern als eine räumlich begrenzte Weltsicht. Letztlich wünscht sich ein Kind – zunächst nur unbewusst und später immer bewusster – Kompetenzen entwickeln zu können, gebraucht zu werden, Anerkennung zu finden und (nicht zuletzt) glücklich werden zu können.
Die allermeisten Eltern möchten ihre Kinder auf dem Weg hin zu einer solchen Lebensgestaltung und Lebenserfüllung gerne begleiten und sie unterstützen. Doch sie wissen: „Wir können und brauchen dies nicht alleine zu tun! Hilfreiche Unterstützung geben uns Verwandte, Freunde, Nachbarn, pädagogische Fachleute, Bildungspolitiker, soziale Organisationen vor Ort und in der Gemeinde, zu der wir gehören.“
Eltern, das sind heute Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, die kulturell, traditionell, religiös und sprachlich durchaus sehr unterschiedlich geprägt sind. Alle hoffen auf die Unterstützung des „Dorfes“ auf dem Weg ihrer Kinder hinaus in die „Welt“. Wie dies gelingen kann möchte ich heute Abend näher beleuchten, Anregendes dazu vortragen und gerne mit Ihnen ins Gespräch kommen.
2. Die Weisheit wohnt nicht in einem Haus. (Afrika)
Den o.g. Sinnspruch kann man, durch geänderte Betonung, auf zweierlei Art hören:
Die Weisheit wohnt nicht in einem Haus.
oder:
Die Weisheit wohnt nicht in einem Haus.
Folgen wir der ersten Betonungsvariante, so wird klar, dass unter jedem Dach eines jeden Hauses hier im Ort ein sehr spezifisches Wissen anzutreffen ist. Wobei das Wissen in jedem Haus in Köpfen, in Büchern und evtl. in der verfügbaren Technik (Stichwort: Internet) stecken kann. Müsste man dann nicht, wegen der Erreichbarkeit des weltweiten Wissens, von allumfassendem Wissen in jedem Haus ausgehen?
Potentiell ja – in Wirklichkeit jedoch nicht, denn Wissen muss verlebendigt werden, um Bedeutung zu haben. Erst dann kann es zu „Weisheit“ werden, wie der Sinnspruch es sagt. Ein Gedankenexperiment:
Was wäre, wenn wir die Möglichkeit hätten zu erkennen, welches Wissen und welche Weisheit in jedem Haus in Bludesch anzutreffen ist? Kennen wir alle Potentiale? Wie kann man es anstellen, möglichst viele der Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten in Häusern dieser Gemeinde aufzufinden und für die gemeinsame Unterstützung von Kindern zu nutzen?
Elternhäuser, Bildungshäuser wie Kindertageseinrichtungen und Schulen, Bibliotheken, Rathäuser, Vereinshäuser, Gotteshäuser – dort und evtl. in noch mehr Häusern, verbergen sich für Kinder spannende Wissensquellen.
In Elternhäusern verkörpern Eltern, Geschwister, evtl. Großeltern und andere Verwandte und manchmal Nachbarn Wissen, das für das Kind attraktiv ist. Vom Selbstbewusstsein, der Motivation, den Zielen und auch von den Sprachkompetenzen dieser das Kind nah umgebenden Menschen wird es abhängen, ob sie ihr Wissen mit den Kindern teilen können und teilen werden. Und auch von Ihrem Bild vom Kind hängt ab, ob Sie es tun werden. Darauf werden wir später noch zu sprechen kommen.
Voraussetzung wird sein, dass sie
· sich ihres speziellen Wissens bewusst sind,
· ihr Wissen für das Kind sprachlich altersgerecht formulieren können,
· Freude an der Vermittlung von Wissen an das Kind empfinden,
· und das Kind als Adressaten wertschätzen.
„Wissen“ meint in diesem Sinne nicht ausschließlich logisches Faktenwissen, sondern auch alltagspraktisches Wissen, Fertigkeiten, Anregungen zu selbst-initiativem Denken und Vermittlung von moralischen Werten und Normen. Elternhäuser sind in ihrer Art gute, wenn man sich in ihnen fragt, was das Kind zu seiner körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung braucht, um ein altersgerechtes „Wissen“ zu haben.
Hierüber hat sich bereits Johann Amos Comenius (geboren 1592) Gedanken gemacht, wie dem hervorragenden Buch von Donata Elschenbroich „Das Weltwissen der Siebenjährigen.“ Wie Kinder die Welt entdecken können - (Verlag Antje Kunstmann 2001; Goldmann Taschenbuch 2002) zu entnehmen ist. Wie bereits Comenius entwarf auch Elschenbroich einen sogenannten Kanon, welches Wissen ein siebenjähriges Kind haben sollte, und welche Erfahrungen es bereits in seinem Alter gemacht haben sollte, um in dieser Welt bestehen zu können.
Erstellen Sie doch einmal selbst in einer stillen Stunde eine ebensolche persönliche Liste und vergleichen Sie diese gegebenenfalls mit den Listen von Comenius und Elschenbroich, mit der Liste Ihrer Freundin oder Ihres Kollegen, mit der Liste des Kinderarztes, des Lehrers, des Pastors, eines Mathematikers usw. Donata Elschenbroich hat dies in ihrem Buch getan und Erstaunliches zutage gefördert.
Wenn Sie PädagogInnen sind, unterstützen Sie Menschen in „Elternhäusern“ dabei, Antworten auf diese spannende Frage zu finden, nicht nur für Siebenjährige, sondern auch für Einjährige, Dreijährige, Zwölfjährige, Siebzehnjährige … und klären Sie, welches Wissen und welche Erfahrungen bereits durch das Elternhaus zur Verfügung gestellt werden können.
So klärt sich, was „übrig“ bleibt, was das „Dorf“ noch zu tun hat, was das Elternhaus alleine nicht leisten kann.
Ich will noch auf die andere Betonung eingehen!
Wenn wir den zweiten Sinnspruch so lesen:
Die Weisheit wohnt nicht in einem Haus.
Dann könnten wir, gerade unter Berücksichtigung der afrikanischen Herkunft dieses Sinnspruchs, auf den Gedanken kommen zu sagen: Die Weisheit wohnt nicht in Häusern, sondern in der Natur. Durchaus ein kluger Gedanke. Wenn ich, was ich oft tue, bei Fortbildungen zur frühkindlichen Sprachentwicklung erfrage, warum es wohl so sehr wichtig sei, dass Kinder ab dem 2. Lebensjahr beginnen, mit Unterstützung von Erwachsenen auch einen Wortschatz zur Natur zu erwerben, bleibe ich nicht selten lange ohne Antwort und sehe nachdenkliche Gesichter.
Die simpelste Antwort, die so nahe liegt, fällt uns zivilisatorischen Menschen oft genug nicht mehr ein: „…weil wir Teil der Natur sind!“
Die Natur lehrt uns, den Rhythmus der Jahreszeiten, das Wachsen und Vergehen. Sie fasziniert uns mit Vielfalt, lässt uns staunen, wirft uns auf das Wesentliche zurück und bindet uns in Lebenskreisläufe ein.
Sie ernährt uns und heilt uns. Sie verschafft uns Vergnügen und Entspannung. Sie hält uns – wenn wir uns in ihr bewegen – geistig frisch und seelisch gesund. Gefühle, zu ihr zu gehören und ihr Teil zu sein, können glücklich machen. Wie viel Naturkontakt haben heute Kinder noch, in einer technisierten Welt? Wie viele Begrifflichkeiten sind ihnen aus der Natur vertraut?
Wie viele Sinneserfahrungen können sie noch unmittelbar in der Natur machen? (Kinder, die meist in Schuhen stecken, sich manchmal nicht schmutzig machen dürfen, in Autos gefahren werden, durch technische Medien unterhalten werden, stundenlang sitzend verbringen …)
Hier kann das „Dorf“ durch bewusste Angebote von Naturerlebnissen – sicherlich gerade im so schönen Vorarlberg – noch wichtige Erfahrungen gewährleisten, die ein Leben lang Quelle schöner Erinnerung, wertvoller Erfahrung und sinnvollen Wissens sind.
3. Wenn einer zeigen soll, was er kann, so muss man ihm auch Gelegenheit geben sich zu beweisen. (Ägypten)
Diese Aussage möchte ich so interpretieren:
Es hilft nicht, nur zu wissen, welche Kompetenzen sich unter den Dächern der Häuser in der Gemeinde Bludesch befinden oder verbergen. Vielmehr muss, sobald diese erkannt sind, darüber nachgedacht werden, wo sich diese Wissenspotentiale, Erfahrungswerte und sogar vielleicht Weisheiten sichtbar machen lassen:
· Wo können Menschen ihre Fähigkeiten und Kräfte zeigen?
· Können alle Menschen ihre Fähigkeiten zeigen?
· Haben alle, die es möchten, eine Plattform dafür?
· Ermutigen wir alle, die Anderen etwas zu geben haben, auch genügend dafür?
Da gibt es den Pensionär, der Imker ist.
Da kann ein türkischer Vater ein traditionelles Musikinstrument bauen. Eine Mutter ist Chemie-Ingenieurin und kann spannende Experimente anleiten, die naturwissenschaftliches Wissen transportieren. Da hat einer Zeit und würde den Kindern einwecken beibringen oder Apfelringe zu trocknen.
Und eine andere Person weiß, wie man Kinder sicher durch den Straßenverkehr leitet. Da gibt es Jugendliche, die gut in zwei und mehr Sprachen sprechen und Patenschaften für Kleinere übernehmen könnten. Und Menschen, die gerne ehrenamtlich bereit stehen, wenn eine Mutter mit mehreren kleinen Kindern den Haushalt nicht alleine schafft. Behördengänge können als schwierig erlebt werden, aber manche Menschen haben genügend Sicherheit und Kenntnisse, um Personen zu begleiten. Wieder andere Menschen würden einen Hausbesuchsdienst unterstützen können, um pädagogisches Wissen weiterzugeben.
Andere vermissen Enkelkinder und könnten „Ausleih“-Großeltern werden, Sprache vermitteln, Spiele lebendig werden lassen, Märchen erzählen, aus ihrem Lebens erzählen und so Kinder mit Traditionen, Werten und geschichtlichem Wissen natürlich in Verbindung bringen. Dies sind nur einige Beispiele, die mir spontan eingefallen sind, oder die ich in ihrer Umsetzung schon erlebt habe.
Kleine Aufrufe in Tages- oder Wochenzeitungen helfen, Menschen, die gar nicht ahnen, wie sehr sie für die Kinder des „Dorfes“ gebraucht werden, zu finden und zu motivieren. (Beispiel: Vorlesepaten in Leverkusen; ca. 80 Meldungen von Menschen zwischen 15 und 81 Jahren in 16 Sprachen)
Was würde wohl geschehen, wenn es einen Aufruf gäbe:
„Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen,
bitte überlegen Sie einmal, welche Fähigkeiten und Talente Sie haben und über welches Wissen und welche Erfahrungen Sie verfügen, das den Kindern unserer Gemeinde zu Gute kommen könnte.
Wir alle können sehr dazu beitragen, dass die Kinder (mit und ohne Migrationshintergrund) gut ins Leben starten, ganz gleich, ob es unsere eigenen oder die Kinder anderer Familien sind.
Geplant ist, Fähigkeiten, Wissen und Erfahrungen auf der einen Seite mit den Bedürfnissen von Kindern auf der anderen Seite zu verknüpfen und Eltern und Pädagog/innen bei ihren Erziehungsaufgaben Unterstützung zu geben.
Bitte melden Sie sich, wenn Sie einen Beitrag leisten möchten, ganz gleich wie groß der Beitrag und die Zeitspanne sein können, die Sie zur Verfügung stellen können.
Vielen Dank!“
So erhalten evtl. Menschen Gelegenheit, Kompetenzen zu zeigen und wirksam werden zu lassen, die sich selbst bisher zu gering geschätzt haben, nicht wahrgenommen oder nicht ernst genommen wurden.
4. Frage die um Rat, die mehr wissen als Du. (Ägypten)
Dieser wunderbare Hinweis setzt voraus, dass ich zulasse zu bemerken, wo mein Wissen begrenzt ist und die Erweiterung durch andere braucht. Ein durchaus nicht selbstverständlicher Vorgang, der Eigenreflexion und Mut braucht.
Außerdem brauche ich dann den aufmerksamen Blick um wahrzunehmen, wer um mich herum denn mehr weiß als ich. Auch dieser Gedanke ist manchmal nicht einfach zuzulassen, muss ich doch zugestehen, an persönliche Grenzen zu stoßen. Andererseits kann sich mein Nicht-Wissen unmittelbar ändern, sobald ich es mir gestatte, den Mehr-Wissenden zu fragen. Kooperation ist m.E. das Schlüsselwort zu dieser Betrachtungsweise.
Das „Dorf“ kann dafür sorgen, dass Personen und Organisationen, die über ein spezifisches Wissen verfügen, bekannt gemacht werden und sich vernetzen. Wäre dies auch wieder eine interessante Seite in einem Gemeindeblatt?
Wenn Menschen individuell, nah und offen dargestellt werden, die man zu ganz bestimmten Fragen aufgrund ihrer Kompetenz und Erfahrung befragen kann, so sinkt voraussichtlich die Hemmschwelle, diesen Kontakt zu nutzen.
5. Aus einem Strohhalm wird ein Nest. (Ovambo – größte Bevölkerungsgruppe Namibias)
Viele kleine Einzelteile bilden das große Ganze. So auch in der Erziehung eines Kindes.
Eine große Zahl kleinster Schritte fügt das zusammen, wodurch sich erst später zeigt, ob die Erziehung eines Kindes gelungen ist. Ein deutscher Sinnspruch besagt: „Erst wenn Du erlebst, wie Deine Enkelkinder gelungen sind, weißt Du, ob Du Deine Kinder gut erzogen hast.“ Eine Aussage, über die sich nachzudenken lohnt.
Dieser wunderschöne bildhafte Spruch weist aber auch darauf hin, dass selbst das Nest als Behausung nicht in einem Streich entsteht und es viele Hin-und-Her-Flüge des Vogels braucht, ehe das Heim für die gefiederte Familie fertig ist.
Um aus einem Gebäude, einem Haus ein „Heim“ für ein Kind zu machen, braucht es angemessenen Wohnraum, egal wie gut die finanzielle und soziale Situation der Familie ist. Fürsorglichkeit des „Dorfes“ zeigt sich meines Erachtens auch darin, dass alle Menschen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene aller Altersstufen – menschenwürdig wohnen können. Die psychische Gesundheit und ebenso die Bedingungen des Lernens hängen hiervon wiederum nicht unwesentlich ab.
Lassen wir alle gemeinsam nicht zu, dass Kinder, Jugendliche Eltern und Senioren unwürdig wohnen, sondern zeigen wir hierzu allzeit gemeinsame Verantwortung.
6. Jeder ist jedermanns Verwandter, wenn nicht durch Blut, so durch Taten oder Gedanken. (Simbabwe)
Eigentlich stimmt dieser Satz sogar im ersten Teil, ohne die nachfolgende Erklärung. Alle Menschen stammen letztendlich vom selben Ursprung ab, egal ob ich religiös oder naturwissenschaftlich denke.
Anders verstanden – und auch hier so gemeint – sind wir verbunden in dem, was wir denken, welche Werte wir teilen und was wir tun. Die Umkehrfrage lautet – unter Berücksichtigung des Themas unseres heutigen Abends:
· Wo können Menschen ihre Fähigkeiten und Kräfte zeigen?
· Mit wem ist wer in diesem „Dorf“ durch Gedanken und Taten verbunden?
· Mit welchen Gedanken und Taten sollten auch die Kinder des „Dorfes“ verbunden werden?
· An welchen Orten kann dies verlässlich gelingen?
Beispielhaft will ich die Polizei mit ihrem „Gedanken“ nennen: „Alle Kinder des Dorfes sollen lernen, sich am Straßenverkehr zu beteiligen und dabei unbeschadet zu bleiben.“
Dieser prophylaktische Grundgedanke führt zu Taten, zu konkreter Schulung des Verhaltens der Kinder als Fußgänger und Radfahrer.
Ein weiterer Aspekt wäre der Gedanke, dass das „Dorf“ Kinder so weit wie möglich davor schützen möchte, Opfer von Sucht, Gewalt oder sexuellem Missbrauch zu werden. Hier können frühe Aufklärungsangebote für die Eltern helfen, die geeignete Vorsorge zutreffen, um Kinder bestmöglich vor diesen Gefahren zu schützen. Erziehungs- und Suchtberatungsstellen, Ärzte und Pädagog/innen können ihr entsprechendes Wissen mit Eltern „teilen“, was den doppelten Erfolg für die Kinder sichert.
Sind wir bei prophylaktischen:
7. Wer Kinder hat, hat auch Sorgen. (Kamerun)
„Niederschwellige Angebote“ - so nennen wir Pädagog/innen häufig unsere Dienste in der Hoffnung, dass gerade diejenigen sie nutzen werden, für die wir sie ausdenken und bereithalten. In Jugend- und Gesundheitsämtern, Frühförderstellen, ergo- und logopädischen Praxen und offenen Beratungsstellen (Erziehungs-, Sucht-, Sexual-, Eheberatungsstellen) ist Unterstützung zu finden, das Kind gemeinsam zu erziehen, ohne den Eltern ihre Zuständigkeit zu nehmen.
Sind Kinder von Schwierigkeiten oder Handicaps betroffen, dann ist es besonders wichtig, Eltern ein Geleit zu geben – beispielsweise sachlich, finanziell, emotional.
Dies kann das „Dorf“ durch Empfehlung und Hinweis tun, auch wenn diese Beratungshilfe evtl. nicht aus der Gemeinde heraus zur Verfügung gestellt wird, sondern regional übergeordnet angeboten wird.
8. Güte kann Haare aus des Löwen Schnurrbart ziehen. (Sudan)
Dieser Sinnspruch fasziniert durch seine starke, bildhafte Aussage und durch seine grundtiefe Wahrheit. Güte, das ist Haltung und praktische Lebenskunst. Güte ist hochwirksam. Ihr wohnt Sanftheit inne, die gleichwohl eine ganz besondere Kraft bedeutet.
Welche Assoziation stellte sich bei mir im Rahmen dieses Sinnspruchs ein?
Welche Bedeutung hat er für unser Thema?
Ich sah ein noch recht kleines Kind vor mir, das mit seiner Mutter im Supermarkt zum Einkauf unterwegs ist. Es ist müde und quengelt. Es weint und die Mutter ist etwas ratlos, oder ungeduldig. Sie kann das Kind in dieser Situation nicht recht beruhigen, muss jedoch den Einkauf zu Ende erledigen und kommt gestresst an der Kasse an.
Wie wohltuend wird es sein,
· wenn sie jemand an der Kasse „gütig“ vorlässt,
· wenn jemand „gütig“ das Kind anspricht, weil es dann manchmal überrascht und abgelenkt ist und sich eine Zeitlang beruhigt, wenn die Kassiererin „gütig“ lächelt, anstatt die Augen zu verdrehen,
· wenn der Mutter jemand „gütig“ eine Beruhigung zuspricht, dass die anstrengende Zeit mit einem kleinen Kind, das noch nicht alle Erklärungen versteht und seine Bedürfnissen noch nicht bewusst verschieben kann, einmal vorbei geht!
Wo wirkt sich Güte im „Dorf“ noch positiv aus, um so manchem Löwen die Bedrohlichkeit zu nehmen? Zum Beispiel:
· wenn wir nachsichtig sind mit Menschen mit Migrationshintergrund, die noch auf dem Weg sind, die deutsche Sprache zu erwerben,
· wenn Nachbarn Einigkeit erzielen, wenn es um widerstreitende Interessen geht,
· wenn die Mitarbeiter/innen im Rathaus geduldig mit Fragen und Anliegen der Bürger umgehen.
Sie könnten mit Recht fragen: „Und was hat dies mit dem Kind zu tun?“ Nun, erinnern wir uns an den Aphorismus Nr. 6 „Jeder ist jedermanns Verwandter, wenn nicht durch Blut, so durch Taten oder Gedanken.“
Die Kinder des „Dorfes“ werden uns bei allen unseren Taten und mit allen unseren Worten wahrnehmen. Wir bieten uns ihnen als Vorbilder an und sie werden von uns lernen, wie man Streit löst, Bedürfnisse anmeldet, Fragen stellt und insgesamt miteinander sozial umgeht. Jede einzelne Wahrnehmung prägt sie und findet sich wieder in ihrem späteren Verhalten.
Wäre es nicht sinnvoll, dass dabei möglichst viele Erlebnisse von Güte abgespeichert werden könnten, um sie später wieder vergleichbar weiterzugeben?
9. Wenn Ihr Wissen bewahren und die Zeit überdauern lassen wollt, vertraut es den Kindern an. (Afrika)
Ich spreche in diesem Vortrag an vielen Stellen von Idealen, von übergeordneten Zielen und hohen Ansprüchen. Alle werden sich nicht umsetzen lassen. Ohne Ziele jedoch, weiß man nicht, wohin der Weg gehen soll. Ohne Visionen gestaltet sich keine Welt von morgen. Und ohne den Wunsch der Verbesserung der Welt würde uns Pessimismus auffressen und zerstören.
Ein weiteres Merkmal meines Vortrags sind die anregenden Fragen
· über die nachzudenken sein wird,
· von jedem von uns, an dem jeweiligen Platz, an dem man steht,
· und über diesen Tag hinaus.
Der 9. Sinnspruch weist auf die spannende Frage hin, welches Wissen überhaupt wert ist, die Zeit zu überdauern. Auch hier wird es sowohl um das Faktenwissen gehen, welches die Menschheit bisher bereits erworben hat, als auch um das moralische Wissen, was unser Zusammenleben sichert. Was soll in 10, 20 oder 30 Jahren noch Bestand haben? Einen aufmerksamen und dynamischen, anhaltenden und zielgerichteten Diskurs hierzu zu führen, steht dem „Dorf“ gut zu Gesicht.
10. Aus dem, was schlecht ist, machen wir Gutes. (TWI – eine der Akan-Sprachen der Ashanti in Ghana)
Noch ein Wort zum Pessimismus: Niemand kann umhin, auch wahrzunehmen, was es in der Welt an Schlechtem gibt. Nicht auf alles Schlechte in der Welt haben wir Einfluss. Am ehesten haben wir Einfluss auf das, was sich ganz in unserer Nähe, ganz in unserem persönlichen Lebenskreis zeigt. Würden wir alle in unserem ureigenen Lebenskreis bestrebt sein, etwas als „schlecht“ Erlebtes umzumünzen in etwas Gutes, wie der Twi-Sinnspruch besagt, dann würde die Welt insgesamt ein angenehmerer Platz.
Unsere besondere Aufmerksamkeit als „Dorf“ sollte vielleicht denen gelten, die zeigen, dass sie von unseren Haltungen, Werten und Lebenszielen abweichen, ob aus spezieller Überlegung oder aus schicksalhaftem Anderssein. Was wir für „schlecht“ halten, hat immer eine Geschichte und entstammt selten dem Böswilligen.
Gut ist die reflektierende Frage: „Was in aller Welt könnte mich dazu verleiten, mich so zu verhalten, wie jemand, dessen Verhalten ich nicht gutheiße?“ Dies allein ist schon ein „gütiger“ Gedanke und manchmal – nicht immer – ein Schlüssel zur verständnisvollen Annäherung. Verstehen heißt nicht Gut-heißen, aber Verständnis schafft den Zugang zu anderen, denen ich die Verbesserung ihrer Situation wünsche.
Erlebt ein Kind „im Dorf“ einen Umgang mit seinen Schwächen und Fehlern, der von Aufmerksamkeit, Achtung und wohlwollender Positionsbestimmung und gegebenenfalls kritischer Konfrontation getragen ist, so unterschreibt es vielleicht einmal den nächsten Sinnspruch:
11. Wenn Du nicht mehr weißt, wohin Du gehen sollst, halte inne und schau zurück, woher Du gekommen bist. (Ghana)
Dieses Zurückschauen stärkt dann, wenn das Kind in seinem „Dorf“ möglichst viel lernen und möglichst viele positive Erfahrungen sammeln konnte. Es wird dann Wurzeln haben, die in Zeiten des Erwachsen-Seins mit seinen Herausforderungen trösten und bestärken können. Im Bewusstsein, woher ich gekommen bin, spiegelt sich dann Beheimatung, egal wohin man geht.
Gefühle von Verlässlichkeit, Bindung und Identität sind die markanten Aspekte, die das Zurückschauen dann wertvoll machen. Der Blick auf die bereits zurückgelegte Wegstrecke mit all ihren bewältigten Schwierigkeiten und befriedigenden Erfolgen stärkt fürs Weitergehen.
An der zurückgelegten Wegstrecke „Kindheit“ ist das „Dorf“ nach dem Leitspruch dieses Abends in besonderem Maße beteiligt. Das „Dorf“ wird im Erinnern und Zurückschauen
mitgedacht. Welche Erinnerungen werden dies wohl sein? Zwei Sinnsprüche folgen noch. Es sind Weisheiten, die meines Erachtens außerordentlich zu Herzen gehen:
12. Tu einem Kind Ehre an, und es wird Dir Ehre antun. (Simbabwe)
Ich möchte das Wort „Ehre“ mit dem heute eher geläufigen Wort „Achtung“ verbinden.
Achtung verhindert am ehesten Frustration, Aggression, Deprivation und Depression, die klassischen Abwehrmechanismen der menschlichen Psyche. Achtung kann Fanatismus, Fundamentalismus, Extremismus eingrenzen und sogar verhindern. In meinen Fortbildungen für Erzieher/innen stelle ich einleitend häufig einen Sinnspruch von Martin Buber vor:
„Es ist eine Kunst,
jemanden in seinen reifen Möglichkeiten wahrzunehmen
und ihn in diesen Möglichkeiten zu bestätigen,
also nicht nur in dem, was er ist,
sondern sogar in dem, was er sein und werden könnte.“
Nach meinem Verständnis ist diese Philosophie die Art von Ehre, die jedem Kind, die jedem Menschen gebührt und ihn, hat er ausreichend davon erhalten, zum angenehmen, aufmerksamen Mitmenschen macht, der für sich und andere Verantwortung übernimmt.
13. Vervollkommnen kannst Du Dich nur selbst. (Ägypten)
Von hohen Zielen, Idealen und Visionen war bereits die Rede. Sie anzustreben und ihnen täglich ein Stück näher zu kommen, kann Lebensziel sein. Erreichen kann ich es nur durch mich selbst und mein inneres Wachstum. Aber das „Dorf“ kann mich jederzeit bei diesem Prozess unterstützen!
Zum Weiterlesen
Donata Elschenbroich: Das Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. Verlag Antje Kunstmann. München 2001 (Goldmann Taschenbuch 2002)
Elke Schlösser: Aphorismen … heilende Worte in einem Satz. Bernardus Verlag. Abtei Mariawald. Heimbach November 2012
Elke Schlösser: „Wir verstehen uns gut - Spielerisch Deutsch lernen“, Methoden und Bausteine zur Sprachförderung für deutsche und zugewanderte Kinder als Integrationsbeitrag in Kindergarten und Grundschule, Ökotopia Verlag, Münster, 1. aktualisierte und erweiterte Neuauflage 2007 (Ordner und gleichnamige CD)
Elke Schlösser: „Zusammenarbeit mit Eltern – interkulturell“, Informationen und Methoden zur Kooperation mit deutschen und zugewanderten Eltern in Kindergarten, Grundschule und Familienbildung, Ökotopia Verlag, Münster, 2. Auflage, 2004
Frank Ruprecht/ Elke Schlösser: Medienpaket: "Wie weit weg ist Pfefferland?", (Bilderbuch, 48-seitige Broschüre mit Anleitung zur Durchführung antirassistischer, zweisprachiger Erzählprojekte, Übersetzungen in arabisch, türkisch, russisch und französisch, 14 Dias und einer Mini-CD mit dem Pfefferland-Lied), Ökotopia Verlag, Münster, 2004 (Comenius-Siegel 2005) – nur noch antiquarisch erhältlich
Elke Schlösser: „Händeschütteln und andere Stolpersteine. Wie eine wirkungsvolle Erziehungspartnerschaft mit Migranten gelingt.“ In: D. Diskowski/ L. Pesch (Hrsg.). Familien stützen – Kinder schützen. Was Kitas beitragen können. Pestalozzi-Fröbel Verband. verlag das netz. Weimar, Berlin 2008
Elke Schlösser: „Sprachliche Entwicklung fördern von Anfang an!“ – Grundlagen und Praxisanregungen zur Sprachstärkung unter Dreijähriger in Familie, Tagespflege, Kindertageseinrichtung und Familienzentrum - Ökotopia Verlag, Münster 2010
Ralf Kiwit/ Elke Schlösser: „Singen, spielen, sprechen mit den Kleinsten“, Mediabook (CD und Liederheft), Ökotopia Verlag, Münster 2010