"Seine Vorhänge wollte er sehen..." - Wie Kinder biblische Texte deuten

Aus: Diakonia - Internationale Zeitschrift für die Praxis der Kirche 2007, Heft 5

Vreni Merz

Aus Kindermund

Wenn ein Kind sagt, Gott sei allmächtig oder ewig, können wir davon ausgehen, dass es diese Worte irgendwo einmal gehört hat. So hat die Religionslehrerin in der Schule gesprochen, oder das Kind war in der Kirche bei einem Gottesdienst dabei. Das kleine Mädchen oder der Knabe übernimmt die Aussagen der Erwachsenen und ahnt mehr oder weniger, was damit gemeint ist. Darüber sind wir nicht erstaunt; in unterschiedlichen Lebensbereichen imitieren die Kleinen die Welt der Grossen. Sie ahmen ihr Verhalten nach und nehmen ihre Worte in den Mund. Wie aber kommt eine Achtjährige dazu, beispielsweise zu sagen: "Gott ist wie ein Skianzug"?

Kein Theologe, keine Theologin, kein Priester und keine Gemeindereferentin hat ihm diesen Satz "vorgesprochen". Im Gegenteil: Das Kind hat ihn eigenständig hervorgebracht und redet, "wie ihm der Schnabel gewachsen ist". Eine Deutung hat es kreiert, die in seinem eigenen Inneren geworden ist, genährt aus Erfahrungen, die es in seinem kurzen Leben gemacht hat, die aber völlig ausreichen, um sie auf eine übergeordnete, nicht erklärbare Wirklichkeit zu übertragen. Wir haben es hier mit einer durchaus beachtenswerten Leistung zu tun, die das Kind erbringt: Es hat die Fähigkeit, selbst zu denken und zu deuten, was religiöse Vorstellungen betrifft. Es ist also nicht etwa so, dass Kinder dann, wenn es um "Gott und die Welt" geht, nur wiedergeben, was sie von den Erwachsenen wissen.

Aufhorchen und nachfragen

Wie reagieren wir als Erwachsene, wenn Kinder uns mit ihren eigenwilligen Interpretationen konfrontieren? Wir spüren, dass es verfehlt wäre, darüber zu lächeln, sie als unreif abzustempeln und das Kind mit unserer Besserwisserei zu belehren. In jedem Fall lohnt es sich, solchen Kinderaussagen Gehör zu schenken, wenn sie aus stolzer Überzeugung geäußert werden. Zunächst ist unser Respekt gefragt, der solche Vorstellungen ernst nimmt. Man darf sich durchaus beeindrucken lassen und solchen Worten ein bisschen nachgehen. Dazu ist das Nachfragen eine wunderbare Methode. Sie zeigt dem Kind, dass sein Denken und Deuten wahrgenommen wird, was allein schon zu weiteren diesbezüglichen Anstrengungen motiviert.

Beim zitierten Satz "Gott ist wie ein Skianzug" ist das Nachfragen besonders interessant. "Wie meinst du das?" könnten wir das Kind fragen oder: "Wie kommst du darauf?". Ein ertragreiches philosophisches Gespräch mit ihm könnte sich daraus ergeben, wenn wir es auf seinen eigenen Skianzug hin ansprechen. Dann wird es uns wohl von seinem warmen Overall erzählen - ein Bild für das umfassende "Overall" göttlicher Gegenwart. Es wird erklären, dass es von diesem Anzug geschützt wird am ganzen Körper und dass er es vor Schürfungen bewahrt, wenn es stürzen sollte. Mit seinem Skianzug fühlt es sich auf der Piste sicherer, als wenn es in Badehosen dort stehen würde - das wäre ja geradezu grotesk! Der Skianzug hingegen ist eigentlich genau das, was der Psalmist mit treffenden Worten sagt: "Du hältst mich hinten und vorn umschlossen, hast deine Hand auf mich gelegt" (Ps 139, 5). Wir werden als Erwachsene selber nachdenklich und fühlen uns angeregt, wenn wir zusammen mit dem Kind solche Gespräche führen, die seine Vorstellungen in den Blickpunkt nehmen, sie ausloten und fortführen.

Warum ging Jesus zu Zachäus?

Dasselbe gilt, wenn wir den Kindern biblische Geschichten erzählen und sie anregen, darüber nachzudenken und sich dazu zu äußern: Dann müssen - oder dürfen! - wir mit Überraschungen rechnen. Manchmal wird es sogar so sein, dass wir erst einmal leer schlucken, weil wir das, was Kinder zu einem Text sagen, nicht auf Anhieb verstehen. Es kann auch sein, dass wir vorschnell dazu neigen, ihre Interpretationen zu wenig tiefgreifend einzuschätzen und zum Schluss kommen, die Bibel sei für sie doch noch zu schwierig. Dazu folgendes Beispiel:

In einer Religionsstunde im ersten Schuljahr erzählt die Lehrerin die Geschichte von Zachäus. Sie schildert, wie er am Zoll sitzt und von den Passanten mehr verlangt als er dürfte. So wird er reich - und macht sich entsprechend unbeliebt. Verständlich! Alle wissen um seine Machenschaften. Er tut, was man nicht tun darf, da sind sich alle einig. Nein, man mag ihn nicht. - Jetzt kommt Jesus in die Stadt, und wie üblich versammeln sich die Menschen in Scharen. Zachäus, von nichts als seiner Neugier getrieben, will ihn unbedingt sehen. Alle reden ja von ihm. Aber man versperrt ihm, dem Kleingewachsenen, die Sicht. Er hat es nicht verdient, in der vordersten Reihe zu stehen.

Wie gut können Kinder diese Haltung nachvollziehen: Diesen Betrüger drängt man nach hinten. Es geschieht ihm Recht, dass er nicht zum Zug kommt. Dann aber - so erzählt es die Geschichte - fällt ihm ein, auf jenen hohen Baum zu klettern. Unten drängen sich die Massen, und er hat den Überblick. Bleibt die Hoffnung - die Kinder empfinden lebhaft mit - dass Jesus ihn trotzdem nicht beachtet, dass er sich den "Guten" zuwendet und den "Bösen" oben sitzen lässt. Aber es kommt anders. Die Lehrerin erzählt die Geschichte zu Ende, von der eindrücklichen Einkehr unter seinem Dach, vom Unverständnis der Leute, vom Murren der Pharisäer. Dann fragt sie die Kinder, weshalb Jesus wohl ausgerechnet bei Zachäus einkehrte. "Er wollte sein Geschirr anschauen", sagt ein Mädchen spontan, "und seinen Tisch in der Küche. Seine Vorhänge wollte er sehen, und seine ganze Wohnung..." - Die Lehrerin hört zu - und ist enttäuscht. Hat sie vielleicht die Frage falsch gestellt? Oder hat das Mädchen die Geschichte nicht richtig begriffen? Ziemlich oberflächlich kommt ihr diese Antwort vor; sie hat eine andere erwartet.

Doch das Mädchen hört nicht auf zu schildern, was Jesus bei seinem Besuch alles zu Gesicht bekommen möchte. Die andern Kinder pflichten ihm bei, und es wird klar, was sie meinen: Jesus interessiert sich für Zachäus, für sein Zuhause, sein persönlichstes Umfeld. Jedes Detail ist ihm wichtig. Sein Haus ist er selbst, und bei ihm einzukehren heißt, ihn ganz und gar wahrzunehmen, ihm zu begegnen, bei ihm zu sein. Es geht hier nicht um einen Höflichkeitsbesuch, für den man nur kurz Zeit hat und nicht einmal die Jacke auszieht. Nein, hier ist man "ganz zu Hause", was exegetisch mit der Tischgemeinschaft auch wirklich gemeint ist.

Wie gut, wenn sich Erwachsene die Mühe nehmen, kindlichen Interpretationen auf den Grund zu gehen. Für das Kind sind Worte wie "Einkehr" und "Gemeinschaft" abstrakte Begriffe, die es zwar vielleicht schon gehört hat. Aber von selbst kommen sie ihm noch kaum über die Lippen. Was sie bedeuten, kennt es aber wohl - und zwar ganz konkret und alltäglich: Wer jemanden gern hat, geht zu ihm heim, schaut sich um, setzt sich an seinen Tisch und isst mit ihm. Wer solchen Deutungen von Kindern lauscht und sie mit ihnen bespricht, kann geläufige Wendungen, an die wir uns längst gewöhnt haben, mit neuem Leben zu füllen.

Jedenfalls können uns die Kleinen mit ihren Interpretationen ganz schön herausfordern, manchmal sogar auf Neues hinweisen. Warum eigentlich nicht? Manchmal machen sie uns Aspekte deutlich, über die wir selber noch nie richtig nachgedacht haben.

Mitreden können

Trotz aller Eindrücklichkeit ist zu bedenken, dass die Deutungen von Kindern sich im Verlauf der Jahre ändern. Das Mädchen, das vehement vertritt, das Interesse am Geschirr und an den Vorhängen von Zachäus sei in dieser Perikope im Mittelpunkt gestanden, wird - wenn es fünf Jahre älter ist - anders sprechen. Vielleicht wird es in den Wirren der Pubertät die ganze Geschichte oder die Bibel überhaupt ablehnen, die damaligen Vorstellungen von sich werfen und nichts mehr damit zu tun haben wollen. Solche Entwicklungsschritte sind schmerzhaft, aber nötig. Erwachsene sind gefragt, die diesen Prozess begleiten. Dazu gehört nicht nur einfühlendes Verstehen, sondern auch der Mut, den Jugendlichen die Stirn zu bieten, sich mit ihnen über "das Buch der Bücher" auseinanderzusetzen und manchmal sogar darüber zu streiten. Dafür sind im Religionsunterricht Lernformen angesagt, die den Jugendlichen Gelegenheit geben, ihre alten Sichtweisen aufzubrechen und Schritt für Schritt eine eigene neu aufzubauen.

Schon vor zwanzig Jahren ist der bahnbrechende Schweizer Religionspsychologe und -pädagoge Fritz Oser (1987) dafür eingestanden, "dass sich der Schüler in selbsttätiger, Probleme lösender, Widersprüche aufarbeitender, fragender und suchender Weise in Texte, in Kultur begibt. Nicht andere oktroyieren ihm Fragen auf. Er selber stellt sich Fragen, sucht Antworten, überprüft Hypothesen. Der Lehrer aber unterstützt nur dieses Tun, stimuliert neue Koordinationen, schafft ein Klima, in dem dieses Handeln angstfrei möglich ist" (S. 215).

Dafür ist in den frühen Jahren gleichsam der Grundstein zu legen: Je öfter Kinder erfahren dürfen, dass ihre eigenständigen Auslegungen auf Interesse stoßen, umso eher werden sie ein Bewusstsein entwickeln, bei dem sie sich sagen: Es lohnt sich, über biblische Texte nachzudenken. Für mich selbst ist es anregend - und für andere auch. Diskussionen darüber sind spannend; ich will am Ball bleiben und mitreden können.

"Aber das stimmt gar nicht..."

Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass Kinder biblische Texte nicht primär verstehen lernen, wenn Erwachsene ihnen vorsagen, was sie bedeuten. Zu lange glaubte man, mit dem "richtigen Sagen" habe sich die "richtige" Interpretation auch schon in die Köpfe der Kinder eingenistet. Bis heute ist diese Meinung nicht ganz ausgestorben. Viel zu oft wird in den Schulzimmern noch von vorne nach hinten gepredigt - mit geringem Erfolg. Die entwicklungsbedingten Verständnisstufen bei Kindern, die von Fachleuten mehrfach untersucht wurden, holen Lehrpersonen und auch Eltern immer wieder in die Realität zurück: Kinder nehmen nur auf, was sie verstehen und zwar so, wie sie es verstehen. Ihre Vorstellungen bilden sie selbst aus, aber auch dies nur dann, wenn Erwachsene ihnen den Schatz biblischer Inhalte zugänglich machen - immer wieder. Dann können sie nämlich ihre erstmals gewonnenen Ansichten im Verlauf der Zeit differenzieren, indem sie einen Text neu lesen und interpretieren lernen. Auch dazu ein anschauliches Beispiel:

Im Religionsunterricht mit Zehnjährigen geht es lebhaft hin und her. In gut organisierter Freiarbeit sind die Schülerinnen und Schüler daran, zum Gleichnis vom Verlorenen Sohn eine Art Klassenbuch herzustellen. Es soll ein großformatiges Werk werden, von den Knaben und Mädchen selbst geschrieben und gezeichnet. Jeder und jede hat sich für eine Passage des Textes entschieden. Mit Papier und Farben ausgerüstet sind die Kinder engagiert an der Arbeit. Die Lehrperson hat bei der Planung wohl bedacht, dass die Schülerinnen und Schüler dem bekannten Gleichnis nicht zum ersten Mal begegnen. Nun stellt sie aber fest, dass sie während der Arbeit immer wieder fragen, worum es bei dieser und jener Stelle genau gehe. Konsequent verweist sie die nicht mehr kleinen Kinder an die Einheitsübersetzung: Sie sollen selbst darin nachlesen, wie der Text genau lautet.

Plötzlich erblickt die Lehrerin Michael, der hinten in der Ecke sitzt und auf einem großen Blatt mit kräftigen Strichen eine öde Landschaft malt. Sie stutzt. "Was machst du denn da?" fragt sie unsicher. Denn sie kennt ihren Schützling, der nicht immer konzentriert bei der Sache ist. Diesmal aber verblüfft er sie: "Ich male das fremde Land", sagt er mit Nachdruck. "Das sind abgestorbene Bäume und hier verwelkte Blumen..." Die Lehrerin schaut ihn an. Und er beginnt, eine exegetische Auslegung zu machen, die sie nicht mehr vergessen wird. Sie unterbricht ihn kurz und ruft die ganze Klasse zusammen. "Michael hat etwas Wichtiges zu sagen; das müsst ihr alle hören", ruft sie den Kindern zu. Und Michael erklärt: "Im Kindergarten haben wir doch gehört, dass der Sohn fortritt, ja auf dem Ross! Und er kam in ein schönes Land und lebte in Saus und Braus. Aber das stimmt gar nicht; da steht etwas anderes..." Er deutet auf die dicke Bibel, die offen neben seiner Zeichnung liegt. "Die Kindergärtnerin hat es falsch erzählt", sagt er, "aber jetzt zeichne ich es richtig." Er blickt auf sein Zeichnungsblatt und erklärt, wie schlecht es dem Sohn ging im fernen Land. Damit schildert er gleichsam eine "Seelenlandschaft", welche die innere Befindlichkeit des Sohnes besser nicht hätte ausdrücken können.

Die Kinder kehren an ihre Arbeitsplätze zurück, und die Lehrerin bleibt nachdenklich stehen. Nie zuvor hatte sie eine so urtümliche Auslegung dieser Textstelle gehört; in keinem Bibelkommentar fand sie eine derart überzeugende Interpretation.

Wie gut, dass der Knabe Gelegenheit bekam, sich im Unterricht so eigenständig mit dieser Textstelle zu befassen! So ist es ihm möglich geworden, alte Vorstellungen über Bord zu werfen, neue zu entwickeln, sie gestalterisch umzusetzen und sie erst noch vor versammelter Klasse zu erläutern.

"Hilf mir, es selbst zu tun"

Dieser bedeutende Satz, den die bekannte italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori Kindern in den Mund legt, müsste auch für das Deuten von biblischen Texten wegleitend sein. Die diesbezüglichen Fähigkeiten von Kindern sind nicht zu unterschätzen. Es ist gut, sich zuweilen bewusst zu werden, dass wir eigentlich keine Lehrerinnen und Lehrer sein sollten, sondern "Handlangerinnen" und "Handlanger" für die jungen Menschen, die mit unserer Hilfe ihre Ressourcen gebrauchen lernen. Oder wir verstehen uns als eine Art "Hebammen", die gute Bedingungen schaffen, damit Interpretationen aus Kindermund "zur Welt kommen". Um noch einmal Fritz Oser zu zitieren: "Statt also das Gewicht in den Kommentaren auf die biblische Interpretation und meistens sogar auf eine einzige Interpretation zu legen, müsste das Gewicht auf der Genese einer solchen Interpretation im Klassenzimmer liegen, die durch Schüler entstanden ist und auf alle Fälle anders aussieht als diejenige des Lehrers bzw. des Kommentators" (a.a.O., S. 214).

Allerdings ist hier nicht nur die Schule gefragt. Eltern und andere Bezugspersonen können viel dazu beitragen, dass Kinder Lust bekommen, die Bibel zu entdecken und autonom zu interpretieren.

Die Bibel an der Bettkante

Wenn man an Elternbildungsanlässen junge Mütter und Väter fragt, ob sie ihren Kindern biblische Geschichten erzählen und mit ihnen darüber diskutieren, schauen sie oft ratlos in die Runde. Sie erinnern sich zwar an den barmherzigen Samariter, an den verlorenen Sohn oder an den blinden Bartimäus. Meistens haben sie selbst diese biblischen Geschichten als Kind gehört oder gelesen, aber so genau sind ihnen diese Erzählungen nicht mehr in Erinnerung. Es kann auch sein, dass ihnen die Bibel vorkommt wie ein Buch mit sieben Siegeln - geheimnisvoll und unverständlich. Trotzdem würden viele Eltern den Kindern gerne hie und da etwas daraus erzählen, wenn sie nur wüssten, wie sie es am besten machen könnten. Denn so viel ahnen sie meistens: In den biblischen Geschichten stecken Lebensweisheiten, die bis heute aktuell sind und die sowohl ihnen selbst als auch den Kindern Kraft und Orientierung geben können.

Oft gilt es zunächst, die Eltern zu ermuntern, biblische Texte nicht bloß wörtlich zu verstehen. Dann nämlich gehen ihnen Welten auf. Der See Gennesaret, auf dem es in der Perikope vom Seesturm ungemütlich und gefährlich wird, kommt ihnen auf einmal bekannt vor, wenn sie an die "Stürme" denken, denen sie hie und da ausgesetzt sind. Wie gut kennen sie die Hektik im Alltag, die uns zusetzen kann, bis es uns richtig "sturm" wird. "Mir steht das Wasser bis zum Hals", sagen wir dann, wenn wir es kaum schaffen, uns aus einer schwierigen Situation zu retten. Und wenn wir weder ein noch aus wissen und beinahe "untergehen", kann es plötzlich geschehen, dass die Wolken sich lichten und der Sturm sich legt: Alles ist wieder gut. Oft können wir nicht erklären, wie es dazu kam. Es kann uns durchaus wie ein Wunder vorkommen. Vielleicht hat ein Mitmensch dazu beigetragen, oder die Umstände haben sich wider Erwarten völlig verändert. Irgendwie kam eine Lösung in Sicht - und wir atmen auf.

So betrachtet bekommen viele biblische Geschichten ein neues Gesicht. Sobald sie übertragen werden auf Situationen, die wir im eigenen Leben kennen, gewinnen sie an Aktualität. Heilungsgeschichten von Gelähmten und Blinden lassen uns an Erfahrungen denken, die wir gut kennen: Wie oft fühlen wir uns "blind" oder "lahm", auch wenn wir körperlich gesund sind. Aber die ständige Reizüberflutung macht uns blind für das Wesentliche, und chronische Überlastung kann uns regelrecht lähmen. Wie vertraut kommt uns vor, was die Bibel in einfachen Szenen erzählt!

Pastoralverantwortliche tun gut daran, junge Eltern zu ermutigen, biblische Geschichten den Kindern so zu vermitteln, wie sie überliefert sind. Sie ihnen zu "erklären" ist kaum angebracht, genauso wenig, wie man nach einer Märchenerzählung den Kinder beibringt, was eine Fee oder eine Hexe ist. Das ahnen sie selbst. Ähnlich wirken die biblischen Geschichten in ihrer Urkraft. Sie hinterlassen Spuren, die uns helfen, das Leben in seinen vielen Facetten wahrzunehmen. Dabei bleiben auch Fragen offen, über die Eltern mit ihren Kindern gemeinsam nachdenken und sprechen können, ohne ihnen abschließende Antworten zu geben. Denn das Unerklärliche ist ein Teil des Lebens, den uns gerade biblische Geschichten lebendig vor Augen führen. Der Verstand reicht sowieso nicht aus, um allem auf den Grund zu kommen. Ihn allzu einseitig zu bemühen haben die Kinder übrigens kaum nötig - und auch die biblischen Texte nicht. Ihre übergreifende Bedeutung erfassen sie intuitiv, wenn Erwachsene sie ihnen spannend erzählen - beispielsweise am Abend vor dem Einschlafen. Entscheidend ist ihr Interesse, zusammen mit den Kindern die Bibel zu entdecken - selbst wenn sie auf dem Weg des Suchens und Findens kaum einen Vorsprung haben.

Literatur

Fritz Oser: Grundformen biblischen Lernens. In: Eugen Paul, Alex Stock: Glauben ermöglichen. Mainz 1987

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