Religionssensible Offenheit in der Kita. Interreligiöse Bildung

Helgard Jamal

 

Die Kindertagesstätte als erste und grundlegende öffentliche Bildungseinrichtung hat den Auftrag zur interreligiösen Bildung. Heute wird ein Kind religiös unterschiedlich geprägt – schon in der Ursprungsfamilie des Kindes kann es verschiedene Religionszugehörigkeiten und/oder konfessionsfreie Familienmitglieder geben und das Kind wird entsprechend verwurzelt. Die Familienwurzeln eines Kindes müssen feinfühlig erfragt und geachtet werden, denn das Interesse an der Familienkultur eines Kindes ist ein notwendiger Schritt, damit es keinen Nährboden für Missverständnisse, Vorurteile und Ausgrenzungen gibt. Präventiv sollen deshalb religiöse Themen nicht ignoriert oder tabuisiert werden, sondern vor Ort können Erzieher/-innen Wissen vermitteln und die Identitätsbildung unter Rücksichtnahme der individuellen Wurzeln des Kindes erweitern.

Kinder können sich die Welt ko-konstruktiv aneignen, denn das Gehirn eines Kindes ist eine gemeinsame Konstruktion aus dem wechselseitigen Zusammenspiel von Erbanlage und kultureller Wirklichkeit. Die Hirnforschung spricht in diesem Zusammenhang von einem >sozialen Organ<, da sich eine veränderte Umwelt immer auf das Gehirn auswirkt, das nicht genetisch festgelegt ist. Lernsituationen prägen also die fachliche und emotionale Intelligenz. Deshalb können Erfahrungsmöglichkeiten in der Kindertagesstätte nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der natürliche Forscherdrang, der Wissensdurst, die Aktivität des Kindes wird in einer anregenden Lernumgebung grundlegend unterstützt und vervollständigt das Weltwissen des Kindes (Elschenbroich 2001).

Diese Möglichkeit wird hinsichtlich des interreligiösen Lernens unterschiedlich genutzt, es muss aber der Grundsatz gelten: Lieber gemeinsam lernen als getrennt (Knauth 2016), das heißt ein Thema (eine Geschichte) aus verschiedenen Blickwinkeln wahrzunehmen und darin eine je eigene Perspektive einzunehmen. Deshalb ist die interreligiöse Bildung Teil der Bildungspläne für Kitas geworden (Edelbrock u.a. 2012; Harz 2014; Textor 2008).

Jahresplan

Meine Konzeption zur interreligiösen Bildung, die in der 12bändigen Buchreihe >Biblische Geschichten in Begegnung mit Judentum und Islam / Mit Kindern Gott entdecken | Mit Natur gestalten | Mit Figuren erzählen< mit dem >Biblische Bodenbild interreligiös< konkret praktiziert wird, zielt auf ein ko-konstruktives, erfahrungsorientiertes und ganzheitliches Lernen. Dies führt zum Entdecken und Kennenlernen von Religionen, Weltanschauungen und Werten.

Das >Biblische Bodenbild interreligiös< bezieht sich auf drei Theorien: Auf der „Sinnorientierten ganzheitlichen Pädagogik“ von Franz Kett, der die Harmonie eines Bodenbildes verdeutlicht (Kett 2009). Ruth Cohn betont in der „Themenzentrierten Interaktion“ das Ausbalancieren der Ebenen >Thema<, >Ich< und >Wir<, das auf ein Miteinander während der Bodenbildgestaltung zielt (Cohn 1995). Johannes Lähnemann pointiert eine „Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive“ und unterstreicht die Lebensweisheit: „Stell an den Anfang das Staunen, das Wahrnehmen, richte deine Sinne auf das, was dir begegnet“ (Lähnemann 1998 / 2017).

Interkulturelles Lernen darf sich nicht nur auf Speisevorschriften beziehen, sondern es geht um tiefgründige religiöse Geschichten, die auf kreative Weise erarbeitet und für die interreligiöse Verständigung fruchtbar gemacht werden. Mit einem Jahresplan können interreligiöse Themen gezielt vorbereitet werden, hier ein Beispiel für das nächste Jahr 2020/2021:

Biblische Geschichten in Begegnung mit Judentum und Islam

2020/2021

Monat

Themen (Beispiele)

Feste (Auswahl)

Band 10 >Jesus betet

Mai 2020

Gebet;

Qualitätsfragen

24.04.-23.05. Fastenzeit der Muslime; Ramadanfest: 24.-26.05.2020

Band 12 >Das Pfingstwunder

Juni 2020

Gemeinschaft; Mut

Pfingsten der Christen: 31.05.-01.06.2020

Band 9 >Gott hilft

Juli 2020

Willkommenskultur

(das Buch erscheint 2020)

Band 3 >Abraham

August 2020

Stammvater der Juden, Christen und Muslime; Familie

Opferfest der Muslime: 01.-03.08.2020

Band 2 >Noah

September 2020

Versöhnung (Gedenken an Halle 09.10.2019)

Jom Kippur der Juden: 27.-28.09.2020

Band 1 >Schöpfung

Oktober 2020

Klimawandel; Grundlagen der Religionen

Erntedankfest der Christen: 04.10.2020

Band 6 >David

November 2020

Krieg und Frieden; Frieden und Religion

Band 7 >Weihnachten

Dezember 2020

Alles kommt in Bewegung

Weihnachtszeit der Christen: 29.11.-06.01.2021

Band 8 >Jesus erzählt

Januar 2021

Goldene Regel: Behandle den anderen so, wie du behandelt werden willst.

Band 4 >Josef

Februar 2021

Eifersucht unter Geschwistern, Neuanfang

Band 5 >Mose

März 2021

Werte-Bildung; Synagoge, Kirche, Moschee

Pessachfest der Juden:

27.03-04.04.2021

Band 11 >Ostern

April 2021

Was tröstet?

Ostern der Christen:

02.-05.04.2021

In jedem Buch meiner Buchreihe finden Sie:

  • Grundlagen zur interreligiösen Bildung (zum Beispiel die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Religionen Judentum, Christentum und Islam)
  • Ein Bilderbuch mit jeweils zwölf Szenen der biblischen Geschichte mit farbigen Bodenbildern (in einfacher Sprache)
  • Die Beschreibung eines erprobten Praxisprojektes mit farbiger Bilddokumentation (in Kita und/oder Grundschule) u.a. mit dem >Biblischen Bodenbild interreligiös<
  • Autoren – ein Jude/eine Jüdin, ein Christ/eine Christin, ein Muslim/eine Muslima – die das Thema des Buches aus eigener Sicht erläutern (zum Beispiel Jesu Geburt im Judentum, Christentum und Islam)

>Biblisches Bodenbild interreligiös<

Die Goldene Regel ist ein Leitsatz im interreligiösen Anfangsritual. Dieser Satz regt zu Mitgefühl an, unabhängig von einer bestimmten Religionszugehörigkeit:

Goldene Regel: Behandle den anderen so, wie du behandelt werden willst!

Fernöstliche Religionen

Abraham-Religionen

Ethik

Hinduismus

Buddhismus

Judentum

Christentum

Islam

Kategorischer Imperativ

Seit ca. 4000 Jahren

Seit ca. 2000 Jahren

Seit ca. 4000 Jahren

Seit ca. 2000 Jahren

Seit ca. 1400 Jahren

Seit ca. 200 Jahren

Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen selbst unangenehm ist.

Ein Zustand der nicht erfreulich für mich ist, wie kann ich so einen Zustand einem anderen zumuten?

Tue nicht anderen, was du nicht willst, das sie dir tun.

Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.

Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Mitmenschen wünscht,

was er sich selber wünscht.

Handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Mahabharata

XIII. 114.8

Samyutta Nikaya V, 353.35-354.2

Rabbi Hillel Sabbat 31a

Matthäus 7,12; Lukas 6,31

Hadithe von an-Nawawi 13; Sure 2,279

Immanuel Kant (1724-1804)

Im Anfangsritual wird deshalb sinngemäß erzählt:

Juden, Christen und Muslime glauben, dass Gott die Welt erschaffen hat und sagt: Behandle den anderen Menschen so, wie du selbst behandelt werden willst! Das ist die Goldene Regel, die in allen Religionen – in den Abraham-Religionen Judentum, Christentum und Islam und in den Religionen Hinduismus und Buddhismus – und in der Philosophie erzählt und beachtet wird. Gott hat den Menschen den Himmel mit Sonne, Mond und den Sternen geschenkt und die Erde mit Acker, Wiesen, Flüssen, der Wüste, den Bergen und das Meer – so glauben es Juden, Christen und Muslime. Wir gestalten jetzt den Himmel und bebauen die Erde. Zunächst legen wir auf diesen blauen Stoff Sonne, Mond und Sterne. (Die/der Erzählende verteilt reihum Strohhalme und legt Sonne und Mond. Jedes Kind legt einen Stern auf einen blauen Stoff.) Gott schenkt den Menschen Kräuter, Pflanzen, Bäume und Früchte. Auf der Erde leben Tiere und Menschen. (Die Kinder bekommen Tiere angereicht, jedes Kind wählt ein Tier. Die Kinder stellen die Tiere auf die Erde – brauner Stoff, in die Wüste – gelber Stoff, auf das Weideland – grüner Stoff oder ins Wasser – blauer Stoff und können die Tiere benennen.) Geschichten von Gott werden in der Synagoge der Juden, in der Kirche der Christen und in der Moschee der Muslime erzählt. (Die/der Erzählende stellt die Holzmodelle Synagoge, Kirche und Moschee auf.)

Mit diesem interreligiösen Anfangsritual werden die Kinder vor jeder biblischen Erzählung für den Religionsfrieden sensibilisiert. Dann wird die biblische Geschichte erzählt, die Kinder gestalten während der Erzählung das Bodenbild und interreligiöse Themen werden situativ besprochen.

Literatur

Ruth C. Cohn, Christina Terfurth, Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule, Stuttgart 1995

Edelbrock, Anke, Biesinger, Albert, Schweitzer, Friedrich (Hrsg.), Religiöse Vielfalt in der Kita, Berlin 2012.

Elschenbroich, Donata, Weltwissen der Siebenjährigen, München 2001.

Harz, Frieder, Interreligiöse Erziehung und Bildung in Kitas, Göttingen 2014.

Jamal, Helgard, 12bändige Buchreihe: Biblische Geschichten in Begegnung mit Judentum und Islam. Mit Kindern Gott entdecken | Mit Natur gestalten | Mit Figuren erzählen, Berlin 2006-2020.

Kett, Franz, Korczy, Robert, Die Religionspädagogische Praxis: Ein Weg der Menschenbildung, Landshut 2009.

Knauth, Thorsten, Interreligiöse Religionspädagogik im Elementar- und Primarbereich, in: Helgard Jamal (Hrsg.), Jesus erzählt – Interreligiöse Bildung, Biblische Geschichten in Begegnung mit Judentum und Islam, Berlin 2016, S. 49-59.

Lähnemann, Johannes, Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive, Göttingen 1998.

Lähnemann, Johannes, Lernen in der Begegnung. Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität, Göttingen 2017.

Textor, Martin R., Erziehungs- und Bildungspläne, 2008.

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