Naturwissenschaften und Mathematik im Kindergarten - Wohin führt der Weg?

Gabriele Dahle

Das Thema "Bildung" hat sich in den letzten Jahren in unseren Kindergärten weit in den Vordergrund geschoben. War "Bildung" bis vor einigen Jahren nur ein Aspekt im Dreiklang "Erziehung - Betreuung - Bildung", so präsentieren sich Kitas heute sehr stark als Bildungseinrichtungen.

Mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung gehört ausdrücklich zu den Bildungsbereichen, die in den Orientierungsplänen für die Bildung in der Kita angesprochen sind. Meine Wahrnehmung in den Jahren meiner Seminartätigkeit zu diesen Themen ist, dass trotz von vielen Seminarteilnehmerinnen immer wieder geäußerter Vorbehalte gegenüber Mathematik und Naturwissenschaften ("Das war für mich in der Schule schon ein rotes Tuch!") bereits ein ungeheurer Entwicklungssprung in den Einrichtungen stattgefunden hat: Sicher längst nicht in allen, aber in sehr vielen Kindergärten haben sich die Mitarbeiter/innen auf den Weg gemacht und Ideen entwickelt, wie sie mathematische und naturwissenschaftliche Erfahrungen bewusst und aktiv in die Kindergartenarbeit einbringen können.

Andererseits gibt es auch eine gewisse Skepsis bei manchen Erzieher/innen und Frühpädagog/innen, die nicht unbedingt auf eigenen Berührungsängsten beruht, sondern auf der Sorge um die Kinder. Dies ist nicht ganz unberechtigt, wenn man sich manche Entwicklungen in diesen Bereichen ansieht. Auf der Suche nach simplen Lösungen verbinden viele Naturwissenschaften oder Mathe in der Kita mit einer Art Vorverlagerung schulischen Lernens. Das allerdings käme einer pädagogischen Rolle rückwärts gleich.

Das hier offenkundige Problem liegt in der Frage, was man unter "Bildung" versteht und welche Vorstellung man davon hat, wie "Lernen" vor sich geht. Wer sich mit diesen Fragen nicht sorgfältig auseinandersetzt, ist versucht, "Bildung" und "Lernen" mit dem gleichzusetzen, was er/ sie selbst in der Schule erlebt hat. Dies prägt dann Vorstellungen und Erwartungen mancher Politiker/innen, Trägervertreter und Eltern - und damit sind die Erzieher/innen in ihrer Arbeit konfrontiert.

Beim Lernen in der Schule handelt es sich - das gilt heute nach wie vor - im Wesentlichen um einen Transfer von Wissen: Festgelegte Inhalte, so ist das Ziel, sollen von A nach B - vom Lehrerkopf ins Hirn des Schülers. Hier ist nicht der Ort, zu diskutieren, ob dies für das schulische Lernen der richtige Ansatz ist; für die frühkindliche Bildung ist er es jedenfalls nicht. Pädagogen und Entwicklungspsychologen sind sich absolut einig, dass die "Bildung", die in die Kitas gehört, aus ganzheitlichen, erfahrungsorientierten und selbstbestimmten Lernprozessen bestehen soll.

Einstein, eins der größten Genies, das die Welt kannte, hatte bekanntlich so seine Schwierigkeiten mit der Schule, und er drückt dieses aktive Verständnis auf Bildung und Lernen so aus: "Lernen ist Erfahrung. Alles andere ist einfach nur Information."

Eine gewisse Skepsis ist also durchaus angebracht, eine Warnung vor pädagogischen Rückschritten, verbunden mit der Aufforderung, Bildungsprozesse in Kitas kindgerecht zu gestalten. Betonen möchte ich aber, dass diese Einwände sich auf ein missverstandenes Bildungskonzept beziehen; nicht auf mathematische oder naturwissenschaftliche Bildung als solche. Sie sind aus meiner Sicht ein guter Grund, sich die pädagogischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen des Bildungskonzepts einer Einrichtung sorgfältig bewusst zu machen- nicht aber, das Ganze in Bausch und Bogen abzulehnen, sich zurückzulehnen und damit eine Ausrede zu haben, alles zu lassen, wie es ist...

Wenn Einstein sagt: "Lernen ist Erfahrung", dann bedeutet das für uns Erwachsene, die wir ja die Lernbegleiter unserer Kinder sind, dass wir die Pflicht haben, den Kindern Möglichkeiten für Erfahrungen zu verschaffen. Und zwar in möglichst vielen Bereichen.

Kinder wachsen heute in einer Welt auf, die ihnen einen großen Teil Erfahrungen vorenthält. Damit ist nicht gemeint, was sie im Fernsehen zu sehen bekommen, sondern echte, reale, eigene Erfahrungen. Noch für meine Generation war es beispielsweise selbstverständlich, im eigenen Umfeld zu erleben, wie Marmelade, Obst und Gemüse eingekocht wurden, Limonade hergestellt wurde, auch viele handwerkliche Tätigkeiten - all diese Erfahrungen haben viel mit Naturwissenschaften zu tun, weil man dabei chemische und physikalische Prozesse erleben kann. Früher gab es in jedem Haushalt eine Nähkiste - wer näht oder flickt denn heute noch selbst? -, und in jeder Nähkiste war ein Magnet zum Aufklauben heruntergefallener Stecknadeln. Ganze Generationen von Kindern haben mit diesen Magneten ihre Experimente gemacht, und mit den Knöpfen aus der Knopfkiste mathematische Erfahrungen. Was ich damit sagen will, ist, dass heute unglaublich viele Prozesse, die zum Leben gehören - Herstellungsprozesse beispielsweise - vor Kinderaugen (und auch vor Erwachsenenaugen) verborgen sind. Von Naturerfahrungen ganz zu schweigen. Solche vorenthaltenen Erfahrungsfelder sind auch vorenthaltene Erfahrungen mit Naturwissenschaften und Mathematik. An dieser Stelle haben wir die Pflicht, zumindest so gut wie möglich für "Ersatz" zu sorgen und den Kindern Erfahrungen aus allen Bereichen zu ermöglichen.

Was heißt das für den Bildungsbereich Naturwissenschaften in Kitas?

Wir verbinden "Naturwissenschaften" oft mit hochkomplizierten Formeln und superschlauen Menschen im weißen Laborkittel. Die Grundlage von Naturwissenschaft ist aber etwas ganz Einfaches: Naturwissenschaft heißt: die Phänomene der Natur verstehen wollen. Es ist eine Tätigkeit mit dem Ziel, den "Geheimnissen der Welt" auf die Schliche zu kommen - nichts anderes tut ein Kind von Natur aus täglich.

Naturwissenschaften sind ein Weg vom Entdecken zum Verstehen. Diesen Weg kann man auf eine einfache Formel bringen: Sehen - Staunen - Ausprobieren:

Der erste Schritt: das Sehen

Das Sehen ist die Voraussetzung für das Forschen: Ich muss von einem Phänomen Notiz nehmen, um es erforschen zu können. Dazu muss das Phänomen...

  • erstens überhaupt in meiner Nähe sein; ich muss die Gelegenheit haben, damit in Kontakt zu kommen, und
  • zweitens muss ich es, wenn es da ist, auch bemerken. Gerade wir Erwachsene, die wir so viele Dinge schon gesehen haben, nehmen die Details, das Bemerkenswerte an unserer Umgebung, oft gar nicht mehr wahr. Eine wache Wahrnehmungsfähigkeit ist aber der erste Schritt zum Forschen. Um sie zu pflegen brauchen Kinder die Gelegenheit, ihren Entdeckungen auch nachzugehen, sie in Ruhe zu betrachten und zu beobachten.

Der zweite Schritt ist das Staunen

Staunen ist eine Fähigkeit, die man leider verlernen kann. Welcher Erwachsene staunt noch über die Regenbogenfarben auf einer Seifenblase? Staunen zu können ist so wichtig, weil es ja das Staunen ist, welches das menschliche Forscherinteresse weckt. Die Menschen sind so beschaffen: Wenn wir eine Sache erstaunlich finden, dann drängt es uns, mehr darüber zu wissen. Aristoteles sagt: "Das Erstaunen ist der Beginn aller Naturwissenschaft."

Das ist so, weil das Staunen zum Fragen führt: Warum gibt es Regenbogenfarben auf der Seifenblase? Ist das immer so? Wenn mein Spiegelbild im Löffel auf dem Kopf steht, warum sehe ich mich dann außen auf dem Löffel richtig herum? Solchen Fragen gehen Kinder nach, sie sind ja die weltbesten Warum-Frager.

Der dritte Schritt ist dann das Forschen selbst: Das Ausprobieren, um Antworten auf die entstandenen Fragen zu suchen

Es gibt verschiedene Methoden, den Geheimnissen von Naturphänomenen auf die Spur zu kommen: Forscher müssen gut beobachten können, manchmal müssen sie Dinge zerlegen, um sie zu verstehen, manches kann man durch Experimente herausfinden, oft kann man durch ein Modell Dinge begreifen.

Ich denke, es ist ein wichtiges Ziel naturwissenschaftlicher Bildung in der Kita, den Kindern Gelegenheit zu geben, all diese Methoden anzuwenden. Natürlich ist es auch eine Methode, schlaue Leute zu fragen oder in Büchern nachzuschauen - diese Lösungsmöglichkeiten sollten Kinder ebenfalls kennen lernen. Doch das Selbermachen und selbst Ausprobieren ermöglicht den Kindern die unmittelbare Erfahrung und damit einen aktiven Lernprozess.

Das Ziel naturwissenschaftlicher Bildung in der Kita

Das Ziel kann aus meiner Sicht in keiner Weise eine festgeschriebene Wissensvermittlung - im Sinne eines Curriculums - sein. Ziel ist die Erfahrung des Forschens selbst: sich selbst als Forscher zu erleben, Spaß am Forschen zu haben, Erfolgserlebnisse beim Forschen zu erringen. Es ist, denke ich, egal, ob die Kinder nachher einiges über die Luft erfahren haben, über Seifenblasen oder über schwimmende Gegenstände. Das Lernziel ist, die Kinder in der Entwicklung einer Forscherpersönlichkeit zu unterstützen: Ein Forscher traut sich zu, Dinge herauszufinden, ist neugierig, selbstbewusst, hartnäckig und kreativ. Und ein Forscher weiß aus eigener Erfahrung, dass Forschen Spaß macht, weil man sich gut und stolz fühlt, wenn man etwas entdeckt, etwas erfunden oder herausgefunden hat. Für dieses gute Gefühl ist es natürlich absolut wichtig, dass die Lernschritte der Kinder nicht an vorgegebenen Leistungserwartungen oder -maßstäben gemessen werden.

Welche Erfordernisse ergeben sich für die Lernbegleitung?

Für eine gute naturwissenschaftliche Lernbegleitung brauchen Erzieherinnen keine Physik- oder Chemie-Genies zu sein; sie brauchen in erster Linie ihre pädagogische Kompetenz.

Lernbegleitung ist zunächst eine Beziehungsaufgabe. Wir wissen, dass eine sichere, verlässliche Beziehung zu einem erwachsenen Gegenüber die notwendige Grundlage für gelingende Lern- und Entwicklungswege überhaupt ist. Ein Kind muss sich sicher gebunden fühlen, um möglichst lustig und mutig - vertrauensvoll eben - "in die Welt gehen" und sie erkunden zu können. Die pädagogische Herausforderung bei der Lernbegleitung ist, da zu sein, ohne die Kinder zu gängeln, ihr Lernwege wahrzunehmen und zu wissen, was das Kind gerade braucht: einen Impuls, eine Frage, ein Lob, eine Ermutigung, eine neue Herausforderung oder einfach Ruhe für seine momentanen Forschungen.

Die größte Schwierigkeit mit Blick auf naturwissenschaftliche Fragen ist es, nicht irgendwelchen Themen aus dem Weg zu gehen, weil man selbst Berührungsängste hat. Viele Erzieher/innen trauen sich ja Themen aus der Biologie noch einigermaßen zu. Aber Elektrizität? Oder Chemie? Wenn ein Kind fragt, woher denn der Regenbogen kommt, der gerade am Himmel zu sehen ist, ist es nicht wichtig, eine physikalisch erschöpfende Antwort geben zu können - wer kann das schon? Wichtig ist, die Frage nicht zu übergehen. Wenn wir so tun, als hätten wir die Frage nicht gehört, lernt das Kind: Solche Fragen sind unbeliebt, ich stelle sie lieber nicht. Wenn die Erwachsene aber deutlich macht, dass sie das auch eine interessante Frage findet und sich mit den Kindern gemeinsam auf den Weg zur Erforschung des Regenbogens macht, kann das der Anfang einer wunderbaren Forschungsreise sein.

Die Erfahrung zeigt, dass da, wo Erzieherinnen einfach an irgendeiner Stelle angefangen haben, in solche Forschungsprozesse einzusteigen, sie selbst schnell Spaß am Experimentieren bekamen und ihre Fachkompetenz auf diesem Gebiet ständig wuchs: durch Bücher und durch Fortbildungen. Mit der Zeit entwickelt sich ein gewisses Repertoire an Wissen und an Forscherideen wie Experimenten, welches bei passender Gelegenheit parat ist - wie Ihr Repertoire an Liedern oder Kreativtechniken.

Mit Blick auf naturwissenschaftliches Experimentieren wird oft die Frage gestellt: Welche Experimente eignen sich eigentlich für den Kindergarten? Ich denke, diese Frage lässt sich pauschal gar nicht beantworten. Natürlich wird man keine hochgiftigen Stoffe verwenden oder superkomplizierte Verfahren anwenden. Aber je nachdem, wie Sie das Experimentieren konzeptionell und pädagogisch einbetten, ergeben sich manchmal unterschiedliche Anforderungen an die Experimente: Auf jeden Fall sollen die Kinder sie selbst machen können; auch im Freispiel - aber nur unter Aufsicht, oder auch ganz allein? An solchen Stellen ist es erforderlich, dass das Team für sich klärt, welche Lernszenarios dem eigenen Bildungsverständnis entsprechen. Oft ergeben sich Experimente aber auch einfach aus den momentanen Interessen der Kinder, deren Lernwege sich nicht immer daran halten, ob Erwachsene irgendein Thema für "noch zu schwierig" halten.

Was man sicher sagen kann, ist allerdings, dass es für das naturwissenschaftliche Experimentieren in der Kita absolut unnötig ist, teures Equipment anzuschaffen. Erstens kann man mit Alltagsmaterialien genauso gut experimentieren, und zweitens suggerieren solches Equipment den Kindern, dass Naturwissenschaften etwas sind, was mit ihrem Alltag nichts zu tun hat. Das Geld, was solche Dinge kosten, ist besser aufgehoben in Büchern und Fortbildungen - es ist immer die Kompetenz der Mitarbeiter/innen, die über die Qualität der Arbeit entscheidet - auch bei der naturwissenschaftlichen Bildung.

Mathematik in der Kita

Ähnliches wie für die Naturwissenschaften gilt auch für die Mathematik in der Kita. Man muss nicht selbst in der Schule ein Mathe-As gewesen sein, um Mathe in der Kita zu machen. Was hier in allererster Linie gefragt ist, ist Ihre pädagogische Kompetenz: Ihr Fachwissen, wie kindliche Entwicklungsprozesse vor sich gehen und wie Sie sie am besten begleiten können. Das Wissen darum, wie sich mathematisches Denken bei Kindern entwickelt, ist eine unerlässliche Voraussetzung, um sie sinnvoll dabei unterstützen zu können.

Ein wichtiges Missverständnis beim Thema "Mathematik im Kindergarten" entsteht nämlich aus der Unkenntnis dieser Entwicklungsprozesse. Viele Menschen (und eben auch viele Eltern, Träger, Politiker u.a.) denken beim Stichwort "Mathematik" wiederum zuerst an das, was sie aus der Schule kennen: in diesem Fall Zahlen und Rechnen. Zahlen gehören zwar zweifelsohne zur Mathematik, sind aber keineswegs ihr Hauptthema. Außerdem ist es ein Trugschluss, zu glauben, ein Kind "könne Zahlen", wenn es die Zahlenreihe aufsagt: "1 2 3 4 5 6 7 8 9 10" - das sind zunächst nur Worte.

Zahlen sind komplexe Gebilde; um sie wirklich zu verstehen, brauchen Kinder viele Schritte. Es ist wichtig, das zu wissen - dann wird man auch nicht mit Kindern Zahlen repetieren und meinen, das sei "Mathe".

Die Mathematik ist ein komplexes Denkgebäude; moderne Mathematiker sagen, sie hat viel mehr mit Mustern und Strukturen zu tun als bloß mit Zahlen. Es ist ein System mit bestimmten Regeln, in dem auch Schönheit und Phantasie stecken - das sind Attribute, die "Schulmathematik-Geschädigte" kaum mit Mathematik verbinden.

Mathematik ist abstrakt. "Die" Sechs existiert nur in meinem Kopf. In der Wirklichkeit sind es immer konkrete Dinge, um die es geht; Sechs, das können sein: 6 Hüte, 6 Kinder, 6 Büffelfelle... Die Menschheit ist irgendwann den Schritt vom Konkreten zum Abstrakten gegangen und hat die Zahlen "erfunden", die genialerweise auf alles Zählbare anzuwenden sind. Die ersten universell einsetzbaren "Stellvertreter" für eine Anzahl Büffelfelle, Mammutkoteletts o.ä. waren die Finger (in vielen Sprachen erinnern manche Zahlworte an diese Entstehungsgeschichte: im Französischen z.B. heißt 80 "quatre-vingt" - übersetzt etwa: viermal die 20; das geht zurück auf: viermal beide Hände voll Finger). Das erste "externe" Zählinstrument, das die Anthropologen gefunden haben, ist ein steinzeitlicher Wolfsknochen mit Kerben: für jedes zu zählende Ding eine Kerbe, anwendbar auf alle zählbaren Gegenstände. Diese Schritte, welche die Menschheit irgendwann gegangen ist, muss jedes Kind für sich neu gehen; die Mathematik neu erfinden: Das Abzählen an den Fingern ist dabei ein Schritt auf dem Weg.

Der Weg zur Mathematik ist ein Weg vom Konkreten zum Abstrakten. Früher dachte man - nach Piaget -, dass Kinder im Kindergartenalter zu diesem Schritt noch gar nicht fähig seien. Diese Ansicht ist widerlegt. Trotzdem muss man an Piagets grundlegender Einsicht festhalten: Die Basis ist die konkrete Erfahrung - konkrete Erlebnisse mit Dingen aus der wirklichen Welt. Wenn ich eine reale Erfahrung oft genug gemacht habe, kann ich daraus die Essenz herausfiltern: die "Idee" der 6 beispielsweise. Das ist Abstrahieren. Soll ein Kind sicher in der "Welt der Mathematik" ankommen, bedarf es dazu als Voraussetzung einen soliden Erfahrungsschatz aus der Welt der anfassbaren Dinge. Lehrer klagen heute zunehmend, dass es Schülerinnen und Schülern an diesem Fundament fehlt.

Die amerikanische Pädagogin Nancy Hoenisch hat für diesen Weg vom Konkreten zum Abstrakten das Bild der "Brücke" verwendet (N. Hoenisch: Mathe-Kings. Verlag das netz 2004). Die Kinder müssen sich eine Brücke bauen in die Welt der Mathematik; jedes seine eigene. Je solider diese Brücke ist, desto sicherer und langfristiger wird sie das Kind ins mathematische Denken hineintragen. Wir können den Kindern den Brückenbau nicht abnehmen, aber wir können ihnen genügend solides Material für ihre Brücken geben - das ist unsere Pflicht.

In der Förderdiagnostik spricht man an dieser Stelle auch von "Vorläuferfähigkeiten": Dinge, welche die Kinder üben, entdecken und "neu erfinden" müssen. Das ist viel mehr als Zahlen kennen lernen. Um im Bild der "Brücke" zu bleiben, kann man sagen, die Kinder bauen an verschiedenen Brückenpfeilern, die ihre Brücke solide stützen. Alle Pfeiler sind wichtig, und die Kinder arbeiten an ihnen allen gleichzeitig:

  1. Sortieren und Ordnen
  2. Formen, Muster, Symmetrien
  3. Körper, Räume, Lagebeziehungen
  4. Zählen, Zahlen, Messen

"Lernen ist Erfahrung"; dieser Einstein-Satz gilt natürlich auch für das Mathe-Lernen. Wirkliches Verstehen braucht den "Klick" im - eigenen! - Kopf, und dazu brauchen die Kinder Gelegenheit, bestimmte Erfahrungen so oft zu machen, bis die Erkenntnis auftaucht: Ach, so ist das! - Hier sind zwei Beispiele:

  • Die Erfahrung, dass sich Murmeln (Kekse, Bausteine...) manchmal mit dem Freund (der Freundin) glatt teilen lassen, manchmal nicht...
  • Die Erfahrung, dass ein Bauklotz-Treppenturm manchmal eine Spitze hat, manchmal nicht...

...und schon ist ein Kind den Geheimnissen der geraden und ungeraden Zahlen auf der Spur.

Was braucht die Lernbegleitung?

Um den Kindern das für ihre "Brücken" nötige "Baumaterial" geben zu können, brauchen Lernbegleiter/innen in erster Linie ihre pädagogische Fachkompetenz: um zu entscheiden, wo steht das Kind jetzt? Was braucht es momentan? In Ruhe gelassen werden, weil es gerade erfindet oder mit Wiederholen beschäftigt ist? Aufmunterung? Oder einen Impuls durch geeignetes Material, eine Nachfrage, ein Spiel? Eine Herausforderung?

Um den Mathe-Erfinder/innen "Futter" zu geben, braucht man genauso wenig teure Materialien wie für die Naturwissenschaften. Mathematik kommt im Alltag sowieso überall vor: Wie viele Kinder fehlen heute in der Gruppe? Wir decken den Tisch: für jedes Kind einen Teller, einen Löffel, einen Becher... Man muss diese Gelegenheiten nur nutzen. Außerdem kann man mit Alltagsmaterialien - Steinen, Knöpfen, Federn, Schneckenhäusern, Sockenpaaren, Centstücken... - allerlei Spiele erfinden, die das mathematische Denken fördern und nichts kosten.

"Das machen wir ja schon!"

Manchmal mache ich die Erfahrung, dass Erzieherinnen ziemlich erleichtert aufatmen, wenn ich sage: "Naturwissenschaften begegnen euch überall im Alltag", oder: "Mathematik ist überall". Manche schließen dann schlau: "Das machen wir also doch schon!" - und meinen damit: "Dann brauchen wir uns ja weiter keine Gedanken zu machen." - So einfach ist es leider nicht. Der Unterschied liegt darin, den Dingen bewusst zu begegnen und mit ihnen etwas anzufangen. Dass den Kindern täglich ein Datum begegnet, eine täglich variierende Anzahl von Kindern in der Gruppe, Bauklötze in Würfel- und Zylinderform... all das führt nicht "automatisch" zu mathematischem Denken. Dazu gehört es, die Dinge ins Bewusstsein zu holen, darüber zu sprechen. Täglich in der Gruppe den kleinen Rahmen am Kalender zur nächsten Zahl zu schieben zum Beispiel - nicht, damit die Kinder das Datum aufzusagen lernen, sondern damit sie erleben, dass es eine Verbindung zwischen der verstreichenden Zeit und der immer weiterlaufenden Zahlenreihe gibt. Mathematisches Denken hat ungeheuer viel mit Sprache und Begriffsbildung zu tun.

Wie geht es weiter?

Naturwissenschaften und Mathematik in der Kita: das ist selbst noch im Entwicklungs- und Experimentierstadium. Ich bin der Überzeugung, dass es in eine gute Richtung gehen kann, wenn diese Themen sorgfältig in die pädagogischen Konzepte von Einrichtungen eingebunden werden.

Das bedeutet aber auch, dass es nicht den einen, einzig richtigen Weg für alle geben kann. Jede Kita muss hier ihren eigenen Weg finden, der ihrer pädagogischen Überzeugung, aber auch ihren räumlichen und personellen Möglichkeiten, entspricht. Da gibt es viele gute Möglichkeiten, bei denen Mathematik und Naturwissenschaften nicht als "Fremdkörper", wie ein Schulfach, in das Kita-Leben hineingesetzt werden, sondern lebendiger Teil des Ganzen sind.

Tipps

Ich erlebe durch meine Arbeit viele Kitas, die sich irgendwo auf einem guten Weg befinden in Sachen Mathe und Naturwissenschaften. Die wichtigste Erfahrung, die ich von ihnen weitergeben kann, ist:

"Man muss einfach anfangen."

An irgendeiner Stelle, die sich gerade bietet, mit den Kindern anfangen: In einer Kita waren nach den Sommerferien plötzlich größere Mengen mitgebrachter Muscheln, Steine und Schneckenhäuser aufgetaucht, die von den Kindern mit Begeisterung immer wieder sortiert wurden. Das war der "Startschuss" für ein sich bis heute immer weiter entwickelndes Mathe-Projekt.

In einer anderen Kita hatten die Erzieherinnen es satt, mit Fragen gelöchert zu werden, die sie nicht wirklich beantworten konnten: "Wie funktioniert eine Klingel?", "Warum geht das Licht an, wenn man auf den Schalter drückt?" Es entstand ein Elektrizitäts-Forschungs-Projekt, und nun gibt es in dieser Kita ein Elektro-Labor und einiges mehr.

Die Erfahrung zeigt: Wer irgendwo anfängt, kann sich von da aus Schritt für Schritt weiterentwickeln.

Die zweite einhellige Erfahrung lautet: Selbst weiterlernen, Fortbildungen besuchen, Bücher lesen. Hierin investiertes Geld ist besser angelegt als wenn man es in teure, angeblich kindgerechte, "Fix-und-fertig-Materialien" steckt. Im schlechtesten Fall "lernen" die Kinder damit, dass Mathematik oder Naturwissenschaften zu besonderen Zeiten und mit besonderen Materialien stattfinden (und mit ihrem "richtigen" Leben nichts zu tun haben).

Die dritte Erfahrung, die man weitergeben sollte, ist: Es macht Spaß. Den Kindern sowieso; aber auch den Erwachsenen! Und dieser Spaß am Forschen, Experimentieren und Entdecken führt die Lernbegleiterinnen zusammen mit den Kindern immer weiter in die Thematik hinein. Nicht wenige Seminarteilnehmerinnen, die anfangs voller Skepsis waren, finden dann kaum ein Ende beim Experimentieren, oder sie sortieren immer noch hingebungsvoll Knöpfe, wenn die anderen längst aufräumen. - Wenn so der Funke auf die Erwachsenen übergesprungen ist, ist das natürlich die beste Voraussetzung für eine gute Lernbegleitung der Kinder. Denn wer selbst in Flammen steht, kann am besten andere für ein Thema entzünden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen, dass Sie sich entflammen lassen für die Mathematik und für die Naturwissenschaften. Damit Sie Ihre Begeisterung an die Kinder weitergeben können.

Anmerkung

Vortragstext von der didacta 2007 in Köln vom 01.03.2007 (15.45 Uhr).

Autorin

Gabriele Dahle, Biologin, Pädagogin, Sozialwissenschaftlerin und Journalistin, arbeitet mit dem Schwerpunkt Kindertagesstätten als Dozentin und Beraterin bei der pragma GmbH Bochum; u.a. führt sie seit mehreren Jahren Erzieherinnen-Fortbildungen zum Thema Naturwissenschaften und Mathematik durch.

Herausgeberin von: Mathematik & Naturwissenschaften. Kreative Ideen und Materialien für den Kindergarten (Arbeitshilfe, Heftreihe), Olzog Verlag München.

Website: www.pragma-bo.de
Email: dahle@pragma-bo.de

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