Aus:
Bildung, Erziehung, Betreuung von Kindern in Bayern 2001, 6 (2), S. 25-27
Dagmar Winterhalter-Salvatore
Warum dieser Bildungsinhalt im Kindergarten? Grundsätzliche Überlegungen
Die Struktur unserer Gesellschaft ist durch den unaufhaltsamen Prozess der Wandlung hin zu einer hochtechnisierten Wissensgesellschaft geprägt. Die Bedeutung der Naturwissenschaften und Technologien nimmt weiter zu. Ein Großteil der zukünftigen Berufsfelder wird in diesen Bereichen liegen. Schon heute sucht die Industrie händeringend nach qualifizierten Fachkräften auf diesen Gebieten. Aber auch der Alltag ist immer mehr von Technik und unserem Verständnis davon geprägt. Schon die Inbetriebnahme einfachster Haushaltsgeräte, die Bedienung von Video- und Fernsehgeräten bis hin zum selbstverständlichen Einsatz von Computern charakterisieren den Einzug der Technik in unseren Alltag. Dabei gehen die Kinder oft viel selbstverständlicher mit neuen Technologien um als die Erwachsenen.
Betrachtet man aber die naturwissenschaftliche und technische Wissensvermittlung in den deutschen Bildungseinrichtungen, sieht die Situation weniger erfreulich aus. Eine Studie des Instituts für Didaktik der Chemie der Universität Kiel belegt eindeutig, wie es um die Vermittlung naturwissenschaftlicher Fächer im Sachunterricht bestellt ist. Die Vermittlung von physikalischen oder chemischen Prozessen im Sachunterricht (HSK) nimmt nur einen sehr geringen Raum ein. Unsere Kinder müssen lange warten, bis so interessante Sachverhalte wie die aus der Sendung mit der Maus Schulstoff werden.
Im Elementarbereich zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. In der aktuellen Bildungsdiskussion ist der Bereich Mathematik, Naturwissenschaft und Technik im Kindergarten nicht oder kaum thematisiert. Neben Umwelterziehung und interkultureller Erziehung dominieren die klassischen Inhalte Sozialerziehung, motorische Erziehung etc. die pädagogischen Konzeptionen der Einrichtungen. Durchforstet man das Materialangebot in den Kindertageseinrichtungen, so findet man wenig Brauchbares zum Experimentieren und Konstruieren. Hat die Werkbank in viele Kindergärten schon Einzug gehalten, so mangelt es an Experimentierecken mit Lupen, Mikroskopen, Batterien, Geräten zum Auseinandernehmen usw.
Meist bietet das Elternhaus ebenfalls wenig Freiraum zum Erfinden und Erforschen. Obwohl viele Eltern in ihrem Berufsalltag im weitesten Sinn mit Technik zu tun haben und der häusliche Bereich mit komplexen Geräten ausgestattet ist, hat das Kind kaum Gelegenheit, einen Wecker auseinander zu nehmen, einen Schaltkreis zu bauen, um eine Klingel anzuschließen, oder am Auto herumzubasteln. Viele Kinder leben nur als Zuschauer in dieser Welt, ohne durch aktive Teilnahme wirklich hineinwachsen zu können. Allzu oft ist unser Alltag im naturwissenschaftlich-technischen Bereich erfahrungsfeindlich.
Die Bedeutung dieser Bildungsinhalte für Kinder von 3 bis 6 Jahren
Kindliches Experimentierverhalten: Kinder fragen unentwegt, sie wollen sich mit ihrer Umwelt und deren mannigfachen Erscheinungen auseinandersetzen. Ihre Neugierde und Wissbegierde ist in dieser Altersstufe fast grenzenlos. Täglich entdecken Kinder Neues, das zum Ausprobieren und Erforschen anregt. Die Kinder stellen uns Fragen über Zusammenhänge, Wirkungsbereiche und sichtbare Veränderungen in ihrem Erfahrungskreis. Diese Wissbegierde wird nicht selten dadurch gehemmt, dass die Erwachsenen scheinbare Selbstverständlichkeiten in der Natur nicht präzise erklären oder dem Kind nicht altersgemäß verständlich machen können.
Kinder rezipieren und verinnerlichen den Bildungsinhalt: Der Blick des Kindes ist nach außen gerichtet, sie sehen, hören, fühlen, tasten und explorieren dadurch ihre Umgebung. Dieser Prozess wird durch die Umwelt des Kindes ausgelöst und in Gang gehalten.
Kinder bringen eigene Erfahrungen mit ein und verarbeiten dadurch den Lerninhalt: Durch Fragen, Vergleichen, Assoziieren entwickeln sie ihre eigenen Ideen und Anschauungen, schmieden Pläne und erstellen eigene Hypothesen.
Kinder schaffen ihr eigenes Produkt und erleben sich als Schöpfer: Sie gestalten ihre Spiele nach eigenen Ideen und Erfahrungen, sie entwickeln ihre Ideen weiter und erfinden Neues. Sie produzieren eigene Werke und übertragen ihre Erfahrungen auf neue Situationen und Materialien.
Kinder erforschen unablässig ihre Umwelt: Diese Neugierde hilft ihnen sich Begriffe von der Welt zu machen.
Kinder brauchen für die Auseinandersetzung mit der Technik, Naturwissenschaft und Mathematik die Begleitung und Unterstützung von uns Erwachsenen,
- um Wissen über die materielle Welt zu gewinnen,
- um Eigenschaften der Gegenstände und ihre grundlegenden Gesetze kennen zu lernen und
- um grundlegende Prinzipien, auf denen Wissenschaft beruht, zu erproben und zu verstehen.
Naturgesetze prägen unser Leben
Vom Wahrnehmen, Staunen und Experimentieren
Kinder nehmen den Rhythmus der Naturgesetze tagtäglich wahr. Sie erleben den Wechsel der Jahreszeiten, von Tag und Nacht, von Sonne und Regen, Wind und Wetter, von den schillernden Farben des Regenbogens bis hin zur Gravitation der Erde, wenn ihr Spielzeug zu Boden fällt. Sie hantieren mit Lichtschalter und Fernbedienung bis hin zur Bedienung eines Computers. Sie schätzen und messen ihre Umgebung mit den Begriffen "groß" und "klein", "viel" und "wenig" oder "voll" und "leer" und sie zählen die Tage bis zu einem Fest.
Bei der Auseinandersetzung mit Mathematik, Naturwissenschaften und Technik ist es nicht das Ziel, spezifische Fertigkeiten zu erlernen, sondern es soll die Erfahrung gemacht werden, dass durch Beobachten, Vergleichen und Messen Aufgaben gelöst und gesetzte Ziele erreicht werden können.
Förderung aller Sinne
Durch das Entdecken, Erkunden und Wahrnehmen werden die Neugier und das Interesse der Kinder für die unbelebte Natur geweckt. Mit allen Sinnen werden die Experimente wahrgenommen: Man hört den Schall, sieht das Licht, ertastet den Aggregatzustand des Wassers, schmeckt die Übersäuerung, riecht den Rauch von Verbranntem.
Aktive Gestaltung
Das Kind setzt sich mit dem Experiment aktiv auseinander. Es hantiert mit unterschiedlichen Materialien, konzipiert Arbeitsvorgänge, probiert, erforscht, wiederholt Versuche und verfeinert Arbeitsgänge. Durch die Wiederholbarkeit der Versuche gewinnt es Selbstvertrauen und erlebt sich als Schöpfer der dinglichen Umwelt. Es gewinnt Sicherheit im Handlungsablauf und macht die Erfahrung, durch eigenständiges Tun Veränderungen mit teilweise beträchtlicher Wirkung hervorzurufen (Selbstwirksamkeit).
Entwicklung von Arbeitsverhalten
Mit Freude und Neugier lernt das Kind, sich auf Experimentierverläufe zu konzentrieren. Es verknüpft unterschiedliche Arbeitsfolgen, kombiniert logische Abfolgen, erkennt Zusammenhänge, stellt Bezüge her und gewinnt Übersicht. Diese komplexe Denkweise fördert sein logisches Verständnis, hilft bei der Verknüpfung von Denkstrategien und ordnet sein Handeln.
Übertragung der Erfahrungen
Durch sein eigenes Tun und Handeln kann das Kind seine Erfahrungen und Erkenntnisse auf andere Situationen übertragen. Es hat sein eigenes Vorstellungsvermögen entwickelt, zieht Rückschlüsse und reflektiert das Erfahrene, dadurch erweitert es nicht nur sein Wissen bzw. Detailwissen, sondern erweitert seinen Handlungsspielraum maßgeblich. Es erlangt eine selbst erworbene Sachkompetenz, die es in seiner weiteren Entwicklung bestärkt, sich mit der sichtbaren und unsichtbaren Welt und deren Gesetzmäßigkeiten aktiv auseinander zu setzen.
Erkenntnisse mitteilen
Im Verlauf der Experimente hat das Kind gelernt, Materialien, Phänomene, Stoffe etc. zu benennen, und hat dadurch seine Ausdrucksfähigkeit enorm erweitert. Seine Sprache ist detaillierter und konkreter. Es kann seine Erfahrungen den anderen Kindern oder Erwachsenen mitteilen und Erfahrenes austauschen. Es gewinnt Sicherheit im verbalen Ausdruck und in der Vermittlung von selbsterworbenem Wissen.
Kinder und Naturwissenschaft
Bei der Etablierung mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Bildung im Kindergarten sollten besonders drei Teilbereiche eine spezifische Fokussierung erfahren:
- die Durchführung von Experimenten mit jüngeren Kindern und Vorschulkindern,
- die Betrachtung der geschlechtsspezifischen Förderung mit dem Schwerpunkt geschlechtsdifferenzierter Mädchenförderung,
- die spezifische Förderung und Unterstützung von Kindern mit Entwicklungsdefiziten und Verhaltensproblemen.
Durch gezielte Beobachtung und Dokumentation der durchgeführten Projekte und Beschäftigungen mit
- klarer Situationsanalyse,
- Zielformulierung,
- Grobzielvereinbarung,
- Beurteilungskriterien der durchgeführten Projekte und
- einer kritischen Reflexion
sollen die Experimente aus den verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaft, Mathematik und Technik auf ihre Durchführbarkeit und ihre pädagogische Relevanz hin überprüft werden. Es stellen sich z.B. folgende Fragen:
- Inwieweit sind jüngere Kinder für diesen Bereich zu interessieren?
- Bewährt sich die Altersmischung in der Projektarbeit?
- Inwieweit zeigen Mädchen gleichermaßen Interesse für diesen Bereich?
- Müssen Mädchen für die Auseinandersetzung z.B. mit Technik besonders motiviert werden?
- Oder arbeiten nicht gerade Mädchen konzentrierter und mit mehr Durchhaltevermögen an einem Thema?
- Inwieweit gewinnen gerade Kinder mit Entwicklungsdefiziten durch überschaubare, wiederholbare und damit verlässliche Versuchsanordnungen an Sicherheit und Selbstvertrauen dazu?
- Können Kinder, die oft im komplexen System der Sozialbeziehungen Probleme haben, in der Auseinandersetzung mit der unbelebten Natur sich als Schöpfer erleben, Verläufe und deren Resultat selbst bestimmen und dadurch mehr Selbstvertrauen in sich und ihr Tun entwickeln?
Schaffung einer kindgerechten Lernumgebung
Im Vordergrund steht das aktive Tun der Kinder, ihre Beobachtung einfacher chemischer oder physikalischer Vorgänge und die Auseinandersetzung mit den Erscheinungen. Die Kinder werden von den Pädagoginnen angeregt, aus ihren Feststellungen Schlüsse zu ziehen und naturgesetzliche Vorgänge rational, sachbezogen und richtig zu benennen. Einige wichtige Grundsätze sind:
- Den Kindern sollte genügend Zeit und Gelegenheit zum Forschen und Experimentieren gegeben werden;
- Materialien und Erklärungen, wie diese zu handhaben sind, sollen das Interesse wecken;
- gemeinsam sollten Hypothesen aufgestellt werden, um sie dann zu überprüfen;
- Fragen, die zum Nachdenken anregen, sollten gestellt werden, ohne dass gleich eine Erklärung mitgeliefert wird.
Wichtig ist die Überschaubarkeit der Versuchsanordnungen, ihre exakte, logisch aufeinander aufgebaute Folge und deren Wiederholbarkeit. Sicher wird es zu Beginn wichtig sein, dass sich die Pädagoginnen gut auf ihre Experimente vorbereiten und sich grundlegende Gedanken über die Durchführung, den zeitlichen Rahmen, die notwendigen Materialien und die Auswahl der Kinder machen.
In erster Linie richtet sich die pädagogische Arbeit mit mathematisch-naturwissenschaftlichen und technischen Inhalten nach der pädagogischen Konzeption des Kindergartens. Diese bestimmt ihren Rahmen und Umfang und führt zu folgenden Überlegungen:
- Werden Projekte zu mathematisch-naturwissenschaftlichen und technischen Themen durchgeführt?
- Ist die pädagogische Arbeit hierzu eingebettet in ein Jahresthema?
- Wird eine Angebotszone geschaffen, in der die Kinder in ihrer Freispielzeit experimentieren können?
- Werden einzelne Angebote in Zusammenarbeit mit Eltern durchgeführt?
- Werden in Exkursionen naturwissenschaftliche Museen, Handwerksbetriebe, Labore etc. besucht?
- Wird eine themenbezogene Zusammenarbeit mit Fachleuten und Experten in den verschiedenen Bereichen angestrebt?
- Oder wird dieser Bereich als fester Bestandteil der angeleiteten Beschäftigung im Kindergarten durchgeführt?
- Und wie wird dieser Bildungsbereich mit den anderen Bildungsbereichen in der Kindertageseinrichtung verknüpft?
All diese Fragen werden im Team besprochen und entschieden. Die Kompetenz jeder einzelnen Pädagogin ist dabei gefragt.