Aus: WWD 2002, Ausgabe 76, S. 15-17
Sabine Hirler
"Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen" - Wer kennt sie nicht, diese einfachen Lieder und Kniereiter für die ganz Kleinen. Woher kommt diese elementare Faszination der Babys, Kleinkinder und Kinder bis weit in das Grundschulalter an Spielliedern und rhythmischen Reimen?
Sprache und Stimme haben zweierlei Funktionen. Einerseits drückt das Kind mit seiner Stimme die individuelle Befindlichkeit aus (z.B. das Schreien von Kleinkindern und Babys). Andererseits werden Personen und Gegenstände mittels der Sprache zu Begriffen, die es dem Kind ermöglichen, sich auszudrücken und sich zusätzlich zur motorischen Betätigung durch sprachliche Kommunikation die Welt zu eigen zu machen. Dieser komplexe Prozess von Handeln - Begreifen - Sprechen und Denken ist die Grundlage der Intelligenzentwicklung und stark von der interaktiven Kommunikation der sozialen Umwelt abhängig - jedoch bis zu einem gewissen Grad auch von genetischen Strukturen.
Kinder lernen durch aktive sprachliche Kommunikation mit ihrem sozialen Umfeld das Zusammenspiel sprachlicher Komponenten, die jedoch je nach Kulturkreis verschieden sind. Denn der Spracherwerb der Muttersprache ist vom jeweiligen Kulturkreis mit seinen charakteristischen Lauten abhängig, sogar im Bereich der Lautmalerei. Kinder ab ungefähr dem zwölften Monat verlieren die Fähigkeit, Laute zu unterscheiden, die von ihrer Muttersprache abweichen. Sie vollziehen sozusagen ein genetisch programmiertes "Sprachlernprogramm", bei dem sie sich in den folgenden Monaten auf die praktische Umsetzung - das Sprechen der Muttersprache - konzentrieren können.
Die Förderung der Sprachentwicklung durch Lieder
Das Singen mit Kindern ist mit emotionaler Zuwendung gleichzusetzen. Eltern, die mit ihren Kinder singen, teilen ihrem Kind mehr von ihrer Persönlichkeit und ihren authentischen Emotionen mit, als wenn sie nur mit ihm sprechen würden. Durch das gemeinsame Singen begeben sich Erwachsene auf die altersentsprechende emotionale Ebene von Kindern. Dies wirkt sich natürlich sehr fördernd auf die emotionale Bindung zwischen Eltern/ Erzieherin und Kind aus. Der Säugling, das Klein- und Kindergartenkind werden mit Liedern und entsprechenden Bewegungen von ihrem Entwicklungsstand abgeholt und schöpfen die Menge an Sinnesanregungen heraus, die sie verarbeiten können.
Aus diesem Grund ist Gesang vor allem für Säuglinge und Kleinkinder von elementarer Bedeutung. Wiegenlieder beispielsweise nehmen außer ihrer beruhigenden Wirkung durch Gesang, Berührung oder der Wiegebewegung einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern, da Singen das Zusammenspiel der beiden Gehirnhälften fördert.
Schon zweijährige Kinder können singen. Besser ausgedrückt, sie erfinden Melodien aus ihrer emotionalen und seelischen Befindlichkeit heraus. Viele Eltern beobachten bei ihrem Kleinkind, dass es "stundenlang" frei erfundene Melodien singt. Dabei erscheinen uns die Texte des Gesanges meist als "sinnlos". Jedoch entwickelt das Kind dadurch viele Eigenschaften, von denen einige vor allem in unserer heutigen Zeit immer wichtiger werden: Kreativität, Phantasie, sich selbst hören, mit der Musik in der eigenen Phantasiewelt leben, Entwicklung des Sprachsinnes, Erweiterung des Wortschatzes, eine bessere Aussprache usw. Im Laufe des zweiten Lebensjahres sind Kleinkinder in der Lage, einfache Melodien mitzusingen.
Lautmalereien und die daraus entstehende Lautsymbolik (Onomatopöie) von Kleinkindern ist der erste Versuch, die Welt in Kategorien einzuteilen (z.B. "Wau-wau" ist vielleicht zuerst jedes Tier mit vier Beinen und Fell). Der spielerische Umgang mit Lautmalereien im Kleinkindalter ist der Grund für die Affinität der Kinder, in Liedern und Reimen durch Lautmalereien phänomenologische Geräusche und Klänge zu sprechen und zu singen.
Am folgenden Lied: Die "Tsch-Tsch-Eisenbahn" steht das Geräusch einer Dampflokomotive im lautmalerischen Mittelpunkt. Obwohl in der Umwelt diese Lokomotiven nur zu besonderen Anlässen gefahren werden, sind sie in allen Generationen von Kindergartenkindern ein beliebter Spielgegenstand. Der Grund liegt in der Kombination von Bewegung, Geräusch und Dampf, die die Kinder gerne nachahmen.
Die "Tsch-Tsch-Eisenbahn"
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Aktive Musik Verlagsgesellschaft aus dem Buch "Weiche Tatze - Schmusekatze" von Sabine Hirler. Text und Musik: Sabine Hirler.
1. Wir fahren mit der Eisenbahn,
tsch-tsch, Eisenbahn.
Wir fahren mit der Eisenbahn.
Wer fährt mit?
2. Wir wollen heut nach Holland fahr'n,
tsch-tsch, Holland fahr'n.
Wir wollen heut nach Holland fahr'n.
Fährst du mit?
3. Wir halten jetzt am Bahnhof an,
tsch-tsch, Bahnhof an.
Wir halten jetzt am Bahnhof an.
Du fährst mit?
Es ist jedoch ein Trugschluss anzunehmen, dass das gute sprachliche Vorbild der Medien in Fernsehen, Radio und von Tonträgern entscheidend zum Spracherwerb der Kinder beitragen würde. Nur aus der kommunikativen Interaktion geschehen die Prozesse, die es dem Kind in seiner jeweiligen Situation ermöglichen, neue Informationen zu erhalten und mit dem bestehenden Wissen zu verknüpfen. In der sprachlichen Kommunikation mit Kindern reagiert die jeweilige Bezugsperson in der Regel intuitiv mit den richtigen Inhalten, durch Wiederholung und positives Feedback.
Lieder können sehr zum Erfassen und zur Begriffsbildung der Umwelt beitragen. Im folgenden "Lied von den Farben" können die Kinder eigene Begrifflichkeiten erkennen und eigene Ideen in die Gruppensituation einbringen.
Das Lied von den Farben
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Aktive Musik Verlagsgesellschaft aus dem Buch "Weiche Tatze - Schmusekatze" von Sabine Hirler. Text und Musik: Sabine Hirler.
1. Rot sind Tomaten, rot sind die Lippen.
Sag uns jetzt bitte, was kennst du in Rot?
Zum Beispiel: Meine Mütze, mein Feuerwehrauto, die rote Ampel, das Herz.
2. Gelb ist die Sonne, gelb ist das Feuer.
Sag uns jetzt bitte, was kennst du in Gelb?
Zum Beispiel: Der Kanarienvogel, das Postauto, die Banane, die Zitrone.
3. Grün ist der Wald und grün ist die Wiese.
Sag uns jetzt bitte, was kennst du in Grün?
Zum Beispiel: Mein Traktor, das Polizeiauto, eine Gurke.
Bis zum Schuleintritt lernen Kinder durchschnittlich 13.000 Wörter. Mit dem damit verbunden kognitiven Reifungsprozess sind nun die Kinder in der Lage, wiederum alte und neue Wörter mit ihrer entsprechenden symbolischen Zeichenumsetzung in der Schrift zu lernen.
In der Psychologie wird allgemein erkannt, dass Sprache und Denken in einer sehr engen Beziehung stehen und die Entwicklung der Intelligenz beeinflussen. Nichtsdestotrotz ist Sprache eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für den Aufbau logischer Operationen. Wichtig für Pädagogen im Vorschulbereich ist die Erkenntnis, dass sich das Denken beim Kind nur durch das Tun entwickelt (Stichwort: das forschende Kind, Ko-Konstruktion) und die Sprache sozusagen die symbolische Verdichtung dieses Tuns darstellt. Gleichzeitig hat die Sprache die Funktion der sozialen Kontrolle, zum Beispiel bei Interaktionen während eines Spieles.
Sprachförderung durch Reime in Finger- und Handgestenspielen
Durch den aufrechten Gang des Menschen entwickelte sich durch den differenzierteren Einsatz der Finger die Feinmotorik der Hände und parallel dazu die differenzierte Funktion der Stimmbänder. Das Sprachzentrum im Gehirn liegt nicht ohne Grund direkt neben dem Zentrum der Motorik der Hände.
Der Daumen allerdings nimmt im Motorikzentrum der Hand einen großen Teil ein. Das ist kein Zufall, denn durch den Daumen sind wir imstande, zu greifen und zu begreifen. Und dieses Begreifen hängt wiederum unmittelbar mit der Entwicklung der Intelligenz zusammen. Beobachten wir Säuglinge und Kleinkinder, erkennen wir staunend, mit welcher Intensität und Ausdauer sie ihre Umwelt im wahrsten Sinnes des Wortes begreifen, ertasten, erfühlen und erschmecken. Doch nicht ohne Grund gibt es für Kinder die Fingerspiele, die nur mit dem Daumen ausgeführt werden, um die Motorik des Daumens zu fördern. Viele Kinderspiele entstanden aus dem intuitiven Verständnis, was dem Kind in seiner Entwicklung hilft.
Das folgende Praxisbeispiel "Jenny und Pit" steht in der Tradition von "Himpelchen und Pimpelchen", und es ist sehr wichtig, die rhythmisierte Sprache mit den entsprechenden rhythmischen Bewegungen der Unterarme zu begleiten. Dadurch entsteht ein Miniatur-Theater, das die Kinder durch ihre Authentizität in der Umsetzung von Sprache und Bewegung fasziniert.
"Jenny und Pit"
(Die Fäuste nebeneinander in Brusthöhe halten und die Daumen senkrecht nach oben strecken.)
Das ist die Jenny
(Linker Daumen verbeugt sich.)
und das ist der Pit.
(Rechter Daumen verbeugt sich.)
Jenny rennt los
(Gegenläufige Auf- und Abbbewegungen in Brusthöhe, dabei die linke Faust (Jenny) etwas vor der rechten Faust (Pit) bewegen.)
und Pit hinterher.
"Doch wo ist die Jenny?
(Linken Daumen in die Faust stecken.)
Ich seh sie nicht mehr".
(Rechter Daumen schaut sich suchend um.)
Die Jenny hat den Pit geneckt
und hat sich schnell im Hof versteckt.
Die Jenny läuft schon wieder los.
(Gegenläufige Auf- und Abbewegungen in Brusthöhe, dabei die linke Faust etwas vor der rechten Faust bewegen.)
Der Abstand wird jetzt riesengroß.
Sie laufen auf die Wiese raus,
doch Jenny geht die Puste aus.
Sie werfen sich ins weiche Gras.
(Die Fäuste nebeneinander in Brusthöhe halten. Die Daumen waagerecht auf die Fäuste legen.)
Zusammen spielen, das macht Spaß!
(Die Daumenspitzen berühren sich.)
Durch die Faszination von Spielliedern und Reimen in Verbindung mit Grob- und Feinmotorik bietet sich dem Pädagogen ein pädagogisch wertvolles "Handwerkszeug", das in der Tradition des Kindergartens tief verwurzelt ist (Fröbel) und das die Kinder bis zum heutigen Tag uneingeschränkt gerne spielen. Es lohnt sich, dieses "Handwerkszeug" zu pflegen, denn es macht den Kindern Spaß und fördert gleichzeitig durch das Zusammenspiel von Musik, Sprache und Bewegung die Motorik, die Sprache und die Wahrnehmung.
Anmerkung
Alle Praxisbeispiele dieses Beitrages sind aus dem Liederbuch "Weiche Tatze - Schmusekatze. Rhythmisch-musikalische Lieder, Reime und fantasievolle Spiele" (Igel-Records/ Aktive Musik, Dortmund, 1999) entnommen, zu dem es einen Tonträger mit variabel einsetzbaren Kindertänzen gibt.
Literatur
Hirler, S./Penz, E.: Rhythmikspiele "Hand und Fuß, die können tanzen"; Verlag Kallmeyer, Seelze/ Velber, 1995
Hirler, S./Penz, E.: Rhythmische Spielgeschichten "Mit allen Sinnen durch die Welt"; Verlag Kallmeyer, Seelze/ Velber, 1997 - CD "Rhythmische Spielgeschichten"
Hirler, S.: Kinder brauchen Musik, Spiel und Tanz; Ökotopia Verlag, Münster, 1998 - CD "Kinder brauchen Musik, Spiel und Tanz"
Hirler, S.: Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik; Verlag Herder, Freiburg, 1999
Hirler, S.: Weiche Tatze - Schmusekatze; Igel-Records/ Aktive Musik, Dortmund, 1999 - CD und MC "Weiche Tatze - Schmusekatze", Rhythmisch-musikalische Lieder, Reime und fantasievolle Spiele
Hirler, S.: Hämmern, Tippen, Feuerlöschen - Mit-Spiel-Aktionen rund um die Berufswelt; Ökotopia Verlag, Münster, 2001 - CD "Hämmern, Tippen, Feuerlöschen"; Hör-CD mit interessanten Geschichten, Liedern und Reimen rund um die Berufswelt
Hirler, S.: Wie tanzt der Mond? - Fantastische Geschichten mit Musik und Tanz erleben; Verlag Kallmeyer, Seelze/ Velber, 2002