Hendrike Rossel
Unser Hörsinn - besonders schutzbedürftig
Musik ist heute in unserem Leben allgegenwärtig. Kein Kaufhaus, kein Fitnessstudio, keine Telefonwarteschleife mehr ohne "Berieselung" durch mehr oder minder angenehme Klänge. Selbst der Kuhstall bleibt nicht verschont, seit die Nachricht von der milchtreibenden Wirkung durch Mozart und Co. in den Medien Furore machte.
Fatal dabei ist, dass wir zwar unsere Augen schließen können, wenn uns die Überzahl optischer Reize überfordert. Unsere Ohren aber verfügen leider nicht über einen solchen Schutzmechanismus, sie sind immer "online", dem Dauerbeschuss durch Lärm und Geräusche gnadenlos ohne Pause ausgesetzt.
Die medizinischen Gefahren einer ständigen Attacke auf unseren Hörsinn sind allerdings schon lange bekannt und in Patientenakten offenkundig. Gehörschäden schon bei jungen Menschen durch Lärm, wie z.B. laute Musik in der Disco oder Dauertragen von Walkman und MP3-Player, sind an der Tagesordnung. Tinnitus - der Dauerton im Ohr als Hilferuf sterbender Hörzellen - ist zur Volkskrankheit geworden. Einmal geschädigte Hörzellen sind dann unwiederbringlich verloren, irreparabel und nicht ersetzbar.
Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, welch zentrale Bedeutung dem Hörsinn zukommt. So weisen neuere Erkenntnisse der wissenschaftlichen Hirnforschung ein gut funktionierendes Ohr als eine der unverzichtbaren Voraussetzungen für die intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen aus; es ist z.B. die Basis für das menschliche Charakteristikum der Sprache.
Daraus ergibt sich eigentlich von selbst, dass gerade die äußerst empfindlichen Ohren von Kindern eines besonderen Schutzes bedürfen. Der Hörsinn ist einer der am frühestens pränatal ausgebildeten Sinne. Schon in der 28. Lebenswoche nimmt das Ungeborene nicht nur Stimme und Körpergeräusche seiner Mutter, sondern auch akustische Umweltreize wahr. An Neugeborenen und Säuglingen wurde beobachtet, das Stimmen und Klänge, mit denen sie schon im Mutterleib vertraut wurden, weiter beruhigend auf sie wirken.
Was hat Musik damit zu tun?
Der Musik kommt in diesem Zusammenhang eine ganz besondere Rolle zu, wie zahlreiche Experimente bewiesen haben. Musik wirkt direkt auf die vegetativen Funktionen des ganzen Körpers, beeinflusst Blutdruck, Atemfrequenz und Muskeltonus, und das selbst bei Patienten, die im Koma liegen oder eine Vollnarkose erhalten haben. Und - Musikeinwirkung hinterlässt Spuren im Gehirn!
Unser Gehirn ist ja sozusagen Zeit unseres Lebens zum Lernen verdammt, es kann gar nicht nicht lernen. Hirnforscher nennen das "lebenslange Neuroplastizität" und verstehen unter Lernen im neurobiologischen Sinne jede Veränderung (sprich: Zunahme) der Stärke der Verbindungen (Synapsen) zwischen den einzelnen Nervenzellen.
Musik ist neuesten Forschungen zufolge in besonderer Weise geeignet, diesen Gehirnaufbau zu befördern; sie beschäftigt praktisch alle Gehirnareale und hat nachweislich positive Einflüsse auf Sprachentwicklung und Sprachvermögen, Konzentrationsfähigkeit, intellektuelle und emotionale Kompetenz und das kreative Potential eines Menschen.
In diesem Zusammenhang wird klar, welch große Verantwortung wir tragen, wenn wir Kinder mit Musik in Berührung bringen, und dass es keinesfalls gleichgültig sein kann, welcher Musik wir Kinder aussetzen.
Fest steht: Kinder hören und treiben selbst gerne Musik, Musik ist für sie ein vitales Bedürfnis. Beim Spiel summen und singen Kleinkinder selbstvergessen vor sich hin, noch bevor sie ihr erstes Wort gesprochen haben. Der erfahrene Musikpädagoge Wilfried Gruhn geht sogar so weit, die These zu formulieren, dass in jedem Kind musikalisches Talent und Kreativität schlummern. Aber genauso, wie die Muskeln des Körpers Training brauchen, um fit und einsatzfähig zu sein, braucht das Kind immer wieder Gelegenheiten und Anregungen, die Musik in sich zu entdecken.
Eltern im häuslichen Umfeld, Erzieher/innen in Spielgruppe und Kita haben in den ersten Lebensjahren eines Kindes den stärksten Einfluss und können für ein "förderliches" Ambiente sorgen, indem sie mit ihren Schützlingen singen, tanzen, musikalische Bewegungsspiele in den Alltag einbauen - und in wohldosierter Form Hörmedien zur Verfügung stellen.
Nun gibt es Musikmedien in Hülle und Fülle unter den jährlich rund 13 Millionen verkauften Tonträgern für Kinder. Verlage und Tonträgerindustrie haben Kinder und Jugendliche längst als lukrative Zielgruppe entdeckt. Neben Fachgeschäften wie Kinder-, Buch- und Plattenläden bieten Supermärkte, Kaufhäuser, Tankstellen und Kioske eine breite Palette von Produkten an, die sich nicht selten selbst als "pädagogisch wertvoll" etikettieren. Für die Käufer wird es in dieser Angebotsvielfalt immer schwieriger, sich zurechtzufinden und niveaulose Billigprodukte von echter Qualität (nicht immer am Preis erkennbar) zu unterscheiden.
Gutes für die Ohren - der Medienpreis LEOPOLD
Hier fühlte sich der Verband deutscher Musikschulen VdM in der Verantwortung, eine Orientierungshilfe zu entwickeln. Die Idee eines Preises wurde geboren, der - ähnlich dem Kinderbuchpreis - besonders empfehlenswerte Hörmedien für Kinder auszeichnen und damit in erster Linie Eltern die "richtige" Auswahl erleichtern sollte. Aber auch Großeltern, Freunden der Familie, die ein Mitbringsel für den nächsten Besuch benötigen, Lehrer/innen und Erzieher/innen, die Anregungen und Material für ihre praktische Arbeit mit Kindern suchen, Betreuungseinrichtungen für Kinder und Bibliotheken und dem Handel möchte der Medienpreis LEOPOLD - Gute Musik für Kinder als Qualitätszeichen helfen, sich im umsatzstarken Markt für Kinder zurecht zu finden.
1997 wurde erstmals die repräsentative Akrylglasfigurine des LEOPOLD an die Gewinner des Wettbewerbs vergeben. Auf der zweiten Stufe des Siegertreppchens stehen jeweils die Produktionen, die der VdM mit seiner Qualitätsmarke "Empfohlen vom Verband deutscher Musikschulen" auszeichnet. Im Handel sind beide Beurteilungsebenen gut an den regenbogenfarbenen Stickern zu erkennen, die der VdM den prämierten Verlagen für Werbezwecke zur Verfügung stellt. 2001 kam schließlich noch der "Poldi" dazu, der Sonderpreis der Kinderjury, mit dem jeweils eine Klasse des Humboldt-Gymnasiums Köln ihren Favoriten aus der Liste der für den Medienpreis Nominierten bedenkt.
Seither wird regelmäßig im Zweijahresturnus der Tonträgermarkt für Kindermusik auf Neuerscheinungen mit wirklich guter Musik für Kinder durchforstet, über 800 Produktionen bewarben sich in zehn Jahren LEOPOLD um diese "wichtigste deutsche Auszeichnung für Musiktonträger für Kinder" (Stuttgarter Institut für angewandte Kindermedienforschung). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist als Förderer von Anfang an dabei. Im Wdr3 Kulturradio hat der VdM einen wertvollen Medienpartner gefunden, der das Anliegen des Preises auf vielfältige Weise unterstützt.
Die Jury - u.a. Musikpädagogen, Journalisten für Presse und Rundfunk, ausübende Musiker und Komponisten verschiedener Stilrichtungen - verleiht den LEOPOLD für besonders hervorragende Musikproduktionen für Kinder. Was sind dabei die Entscheidungskriterien?
Kriterien für Qualität
"Gute Musik für Kinder" ist z.B. nicht ausschließlich Klassik oder tiefgründig Ernstes oder ein musikalisch erhobener pädagogischer Zeigefinger. Es sind ebenso wenig trendige Welt-Lieder für Kinder, angeblich Kindgemäßes im Soft-Pop-Gewand oder auf einfallsloser Schlagerbasis, plärrende Kinderstimmen über Disco-Sound oder im Liedermacher-Stil kindertümelnde Erwachsene. Als kindgerecht missverstanden werden auch oft lärmender Aktionismus, überdrehte Comic-Stimmung, Proteste in Halbstarkenmanier, verordnete Fröhlichkeit und alberne Texte, bemüht sozialkritischer und therapeutischer Anspruch oder durchgestylte Merchandising-Pakete mit Tonträger, Stickern, Video, sogenannten Instrumenten u.a. verkaufsträchtigen Materialien. Endgültig in die Welt des Mythos sollte auch die Meinung verbannt werden, dass Produktionen, in denen Kinder die Ausführenden sind, schon gleich gute Musik für Kinder bieten. Und schon gar nichts haben Einkaufspreis oder Verkaufszahlen mit Qualität zu tun.
Der LEOPOLD will eine Lanze brechen für Fantasie und Originalität, für künstlerische Qualität genauso wie für technische Perfektion. Auch (oder gerade) Kinder als Hörer haben Anspruch auf erstklassige Interpretationen in erstklassiger Besetzung. Alle Bereiche der vielfältigen Musikszene sind für den LEOPOLD gefragt - vom Kinderlied über Musicals, Märchen und Hörgeschichten mit Musik, Mitmachspiele und -tänze, Oper und Konzert, vom pfiffigen Rap-Song, von intelligenten Beiträgen aus dem Rock-, Pop- und Folklorebereich, vom traditionellen Liedgut bis hin zur sogenannten E-Musik.
Ein Blick auf insgesamt an die 100 Produktionen, die in den bisher sieben Wettbewerbsrunden seit dem Start 1997 ausgewählt wurden, zeigt, dass von stilistischen Scheuklappen bei der LEOPOLD-Jury wirklich nicht die Rede ein kann. Wer guten Jazz sucht - und dies für Kinder "aufzubereiten" gehört mit zum Schwierigsten -, wird in der stetig wachsenden Preisträgerbroschüre des VdM in Kurzbeschreibungen der Wettbewerbsgewinner ebenso fündig wie Liebhaber von Pop, Folk und Rock. Musik anderer Kulturen steht neben Produktionen aus der Welt des Rap und Techno, Musicals neben Chansons oder Kinderliedern, traditionell oder in gelungener Kombination mit Hip-Hop-, Salsa-, Samba- oder Reggae-Rhythmen, parodistische Klangexperimente neben Neuer Musik.
Natürlich fehlt auch die Sparte der so genannten E-Musik, im Volksmund landläufig "Klassik" genannt, nicht. Aber auch die Produktionen dieser Gattung werden nicht unbesehen durchgewinkt, sondern müssen sich ebenso kritischer Analyse stellen wie ihre Mitbewerber aus der U-Musik.
Worauf kommt es der Jury an, die seit 1997 in wechselnden Besetzungen Fachleute aus Medienwelt, Musikschule, Schulmusik und anderen repräsentativen Bereichen des Musiklebens versammelt und seit 2001 in der Kinderjury auch die Zielgruppen selbst noch einmal um ihre Meinung bittet? Qualität und Originalität sind, wie gesagt, zwei Kernkriterien, an denen sich die zum Wettbewerb eingesandten Produktionen messen lassen müssen. Der x-te uninspirierte Wiederaufguss eines "Karnevals der Tiere" hat vor diesem Hintergrund keine größere Chance als jugendkulturelles Gehabe in billiger Kopie des "großen" Showbusiness.
Die musikalische "Sprache", ganz gleich welcher stilistischen Couleur, ebenso wie die zu Grunde liegende Idee einer Produktion sollten schon neue Akzente setzen, die z.B. auch durch originelle vokale oder instrumentale Besetzung, eine besondere Art der Darbietung, eine pfiffige Handlung erreicht werden können.
Erwartet wird eine erkennbare Konzeption, die sich deutlich von bloßem Marketing absetzt und Kinder adäquat und altersgerecht anspricht. Die Forderung nach handwerklicher Qualität im Sinne einwandfreier Produktionstechnik wie sauberen, korrekten Musizierens ist selbstverständlich. Ganz besonderes Augenmerk richtet die Jury dabei auf die Behandlung der Stimme. Kinder wie Erwachsene sollten in ihrer natürlichen Tonlage, mit natürlichem, weder gepresstem noch forciertem Stimmklang singen, sauber in der Intonation und mit hoher Textverständlichkeit. Aber auch für Märchensprecher und Erzähler braucht es die "erste Riege" mit modulationsfähiger, variabler und ausdrucksstarker Stimme, die die Inhalte - weit weg von jeglicher Kindertümelei - glaubwürdig übermitteln kann.
Wert gelegt wird darüber hinaus auf einen sinnfälligen Bezug von Text und Musik, u.a. auch was die Wahl der Instrumentierung angeht. Elektronische Instrumente und Samples oder Klänge aus dem Computer gehören selbstverständlich dazu, wenn sie inhaltlich überzeugend passen und nicht allein dazu dienen, akustische Instrumente billig zu ersetzen.
Schließlich fließt auch die Beurteilung von CD-Booklets und eventuellen Begleitmaterialien wie Bilderbüchern, Notenheften oder Aufführungsmaterialien in die Wertung mit ein. Sind sie sorgfältig und informativ konzipiert, verhelfen sie zum besseren Verstehen, geben sie weitere Anregung? Dies sind nur einige der Fragen, die sich die Experten stellen, wenn sie nach dem Einsendeschluss zum Wettbewerb die Hörmedien zugesandt bekommen, die eine Vorjury grob vorsortiert hat.
Besser als viele Worte können aber sicher die von der LEOPOLD-Jury ausgewählten Produktionen selbst zeigen, worum es dem VdM mit seinem Medienpreis geht. Unter www.medienpreis-leopold.de sind alle Gewinner des Medienpreises LEOPOLD 2009/2010 ebenso wie die Preisträger der Vorjahre mit ausführlichen Texten vorgestellt. Interessenten können auch die LEOPOLD-Broschüre kostenlos bestellen (gegen Einsendung eines adressierten, mit 0,85 EUR frankierten und mit "Büchersendung" versehenen Briefumschlages an die untenstehende Adresse des VdM).
Ein Wort noch zum Schluss: Auch die beste Musik für Kinder darf nicht als Dauerdroge missbraucht werden. In unserer lauten Zeit haben vor allem Kinderohren unbedingt ein Recht auf Momente der Stille. Also: Ja zu einer musikalisch anregenden Umgebung, aber eher im Sinne einer musikalischen Diät - weniger, dafür aber umso hochwertigere Kost servieren. Möge der LEOPOLD dazu einen hilfreichen Beitrag leisten.