Hendrike Rossel
Ein bildungspolitisch relevantes Alter erreichten Kinder lange Jahre mit ihrer Einschulung, mit sechs oder sieben Jahren. Ab diesem Alter wurden - unterstützt auch von PISA- und IGLU-Studien - Bildungs- und Fördermöglichkeiten wichtig. Seit einiger Zeit richtet sich das Augenmerk jedoch verstärkt auch auf die Entwicklung der Kindergartenkinder bis hin zu den Allerjüngsten.
"Die Musikalisierung von Kindern und Jugendlichen beginnt neun Monate vor der Geburt der Mutter" - diese Aussage des großen ungarischen Musikpädagogen Zoltan Kodály hört sich zunächst wie ein populistisch überspitzter Slogan an, trifft bei näherer Betrachtung doch recht zielgenau den Kern der Fragestellung.
Hirn- und Lernforschung haben schon seit geraumer Zeit in zahlreichen Studien die Relevanz der frühesten Lebensphase für die individuellen Möglichkeiten eines Menschen im späteren Leben belegt. Gerade die ersten Lebensjahre sind dabei für die Entwicklung eines Kindes von entscheidender Bedeutung. Musik kann in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen. Dass Menschen Musik brauchen, mit Musik leben, ist eine - mittlerweile wissenschaftlich vielfach belegte - Urerfahrung. Ein weinender Säugling lässt sich (meist ...) durch das Wiegenlied seiner Mutter beruhigen; Unfallopfer und Demenzkranke erreicht die Sprache der Töne noch, wenn alle anderen Sinne bereits ihren Dienst versagen. Schon im Mutterleib erfährt das Ungeborene seine ersten musikalischen Prägungen aus der Umwelt.
Sinnliche Wahrnehmung, Spracherwerb, Motorik und Körperbewusstsein, Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeit, Sozialverhalten und psychische Widerstandskraft erhalten in der Zeit vor der Geburt bis ins Grundschulalter ihr Fundament. Diese grundlegenden Erkenntnisse finden zunehmend auch in den Bildungs- und Erziehungsplänen der Bundesländer Beachtung.
Gemeinschaftserlebnis Musizieren
Mit altersgerechten und entwicklungspsychologisch fundierten Unterrichtsangeboten begleiten öffentliche Musikschulen im Verband deutscher Musikschulen (VdM) Kinder in diesem wichtigen Lebensabschnitt und unterstützen so das aktive Singen und Musizieren in Familie, Kindergarten, Vorschule und Grundschule. Im Mittelpunkt steht dabei, Freude am gemeinschaftlichen Musikerleben und Musizieren in der Gruppe zu vermitteln und damit die Grundlage für eine lebenslange Beschäftigung mit Musik zu legen. Gerade Musizieren als Gemeinschaftserlebnis unterstützt die Entwicklung sozialer Kompetenz und entfaltet integrative Wirkung.
In Eltern-Kind-Gruppen werden die Kinder auf vielfältige Weise musikalisch angeregt. Die Eltern werden zu einem natürlichen Umgang mit Musik in Alltag und Familie angeleitet und können dadurch zu Hause ein musikalisches Umfeld schaffen.
Für Kindergartenkinder und Grundschulkinder haben sich die Musikalische Früherziehung bzw. die Musikalische Grundausbildung bewährt. Ausdrucksvolles Singen und Sprechen, erstes Instrumentalspiel, Rhythmik, Bewegung und Tanz, Improvisieren, Hören, Nachdenken und Sprechen über Musik stehen im Mittelpunkt dieser Unterrichtsangebote.
Jede öffentliche Musikschule bietet diesen Unterricht für vier- bis sechsjährige Kinder in ihren eigenen Unterrichtsräumen, in steigender Zahl aber auch in Kindergärten und -tagesstätten ihrer Region an (vgl. den Online-Handbuch-Beitrag von Manuela Widmer "Musikalische Früherziehung - Didaktische Grundlagen").
Kooperationspartner Musikschule
Als optimal erweist es sich bei einer solchen Kooperation, wenn die Musikschullehrkräfte im direkten didaktischen Zusammenwirken mit den Erzieher/innen arbeiten können und auf diesem Weg alle Kinder in der Einrichtung erreichen - so wie bei der kommunalen Musikschule im Landkreis Ebersberg, Grafing bei München. Dort wächst im Spannungsfeld zwischen Spielen und Fordern, Fantasie und Wissensdurst eine breite Basis, auf der das musikalische Potential der Kinder gestärkt wird und individuellere Interessen sich entwickeln können. Stimme und Sprache sowie Klangerzeugung mit geeigneten Instrumenten und Materialien sind bevorzugte Ausdrucksformen. In Verbindung mit Bewegung und Tanz entstehen für Kinder Tonhöhenvorstellung und Rhythmuserfahrung. Sie basteln einfache Klangerzeuger und lernen Musikinstrumente kennen. Beim Malen und im kreativen Umgang mit graphischen Elementen entsteht die erste Notenschrift. Die Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeit der Kinder und ihre musikalischen Grundkenntnisse auf dem Weg hin zum Instrumentalunterricht werden nachhaltig gefördert.
Die Altersgruppe der Drei- bis Vierjährigen hat die Kreismusikschule Gifhorn mit ihrem Unterrichtsangebot "Musikspatzen" im Blick. In ihren eigenen Räumen wie aber auch in der Vor- und Nachmittagszeit von Kindertagesstätten entdecken Kinder in entspannter und fröhlicher Atmosphäre ihre Freude an der Musik. Sing-, Sprech- und Reimspiele, neue und bekannte Lieder, erstes Musizieren auf Orff-Instrumenten, Bewegungsspiele und Tänze sind Elemente dieses Unterrichtsangebotes, dass das häufig anzutreffende "Vakuum" zwischen Eltern-Kind-Gruppen (i.d.R. bis 3 Jahre) und Musikalischer Früherziehung (4 - 6 Jahre) füllt.
Speziell für die musische und musikalische Praxis in Tageseinrichtungen für Kinder entwickelte der Landesverband der Musikschulen in NRW mit "EMU" ("Elementare Musische Erziehung in Kindertagesstätten in Kooperation mit Musikschulen") ein Rahmenkonzept, das inhaltlich auf ein Kindergartenjahr angelegt ist. Ein zweites Jahr kann angeschlossen werden. Die leitende Idee geht davon aus, dass in den vier Bildungsbereichen
- Bewegung,
- Spielen und Gestalten, Medien,
- Sprache(n),
- Natur und kulturelle Umwelt(en)
die erforderlichen Bildungsprozesse mit musischen und musikalischen Methoden in besonders effektivem Maß zu verwirklichen sind. Spielerisch erleben und erlernen die Kinder die Musik, indem sie angeleitet spielen und entdecken. Eine Spezialförderung in Musik, wie es in einer Tageseinrichtung mit dem besonderen Schwerpunkt "Musik" möglich wäre, wird nicht angestrebt. Sie bleibt dem Musikschulangebot "Musikalische Früherziehung" vorbehalten. Erzieher/innen und Musikpädagog/innen betreuen die Gruppen gemeinsam.
Den Schwerpunkt auf Bewegung und Tanz legt die Musikschule der Stadt Langenhagen bei einem ihrer Angebote für Kinder im Kindergartenalter. Der Mensch bewegt sich von klein auf; die Menschheit tanzt, so lange die Geschichte zurückverfolgt werden kann. Mit Bewegungs- und Fantasiespielen, der Entwicklung von bewusstem Körperempfinden, Feinmotorik und musikalischem Differenzierungsvermögen knüpft die Musikschule der Stadt Langenhagen an dieses vitale Bedürfnis nach Bewegung an. Entsprechend dem Alter und den Bedürfnissen der Gruppen wird der Körper "musikalisiert" und zum zentralen Instrument persönlichen Ausdrucks bis hin zur szenischen Umsetzung literarischer Vorlagen. Musik, Tanz und Theater werden zu einer ausdruckvollen Einheit.
Entdecken und ausprobieren
Übergänge zum Instrumentalunterricht gestalten die Musikschulen darüber hinaus durch zusätzliche Orientierungsangebote, in denen Kinder verschiedene Instrumente ausprobieren können und so eine Hilfestellung erhalten, ihr Instrument zu finden. Zum Teil beginnt dann schon in Kindergarten oder -tagestätte der Gruppenunterricht auf einem bestimmten Instrument.
Seit Herbst 2004 unterrichtet z.B. die Musikschule des Burgenlandkreises in Naumburg das Instrument Violine in einer Kindertagesstätte. Im Vordergrund des Gruppenunterrichtes mit je sechs Kindern steht ein spielerischer Zugang; Fortschritte werden durch gemeinschaftliches Lernen erzielt. Wortspiele, Satzgruppen und Lieder werden gesungen und bilden die Voraussetzung, auf dem Instrument das Gesungene anzuwenden. Alle Kinder haben vorausgehend Musikalische Früherziehung in der Kita erfahren. Die Erzieherinnen der Kita hospitieren im Unterricht des Musikschulleiters und erhalten Anregungen für das gemeinsame Üben mit den Kita-Kindern. Zusätzlich finden monatliche Elternstunden statt.
"Zauberflöten" entsendet die Städtische Musikschule Lahr im Schwarzwald in den Kindergarten - ein Kurs, der sich vor allem für Kinder eignet, die noch ein Jahr Zeit haben, bis sie in die Schule kommen. Der Unterricht vermittelt in spielerischer Art und Weise Grundlagen des Blockflötenspiels. Es werden einfache Melodien und bekannte Kinderlieder erlernt. Dabei wird schon früh das Zusammenspiel mit anderen Kindern in der Gruppe geübt. Auf die hier erworbenen musikalischen Grundkenntnisse kann am Ende des Kurses entweder weiter mit dem Unterricht auf der Blockflöte oder auf anderen Instrumenten aufgebaut werden. Die Kinder des Flötenkurses präsentieren sich mit einem musikalischen Beitrag beim Kindergartenabschlussfest.
Bildungspartner bundesweit
An über 4.000 Standorten sind rund 950 öffentliche Musikschulen im Verband deutscher Musikschulen (VdM) vertreten und bilden damit eine zentrale Schnittstelle im Bereich der Kultur-, Bildungs-, Jugend- und Familienpolitik. Über eine Million Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden Woche für Woche an den öffentlichen Musikschulen unterrichtet. Sie besuchen damit die Bildungsinstitution, die die weitestgehende musikalische Breiten- und Spitzenförderung in ganz Deutschland bewirkt. Als Bildungspartner versorgen die Musikschulen vielerorts Kindergärten/ -tagesstätten, Grund- und weiterführende Schulen in deren eigenen Räumen mit einer breiten Palette musikalischer Angebote.
Als Kooperationspartner unterrichten Musikschullehrkräfte nicht nur selbst in Kindergärten und -tagesstätten. Die Musikschulen engagieren sich auch in der musikalischen Fort- und Weiterbildung von Erzieher/innen und Grundschullehrkräften. Diese sollen dadurch ermutigt und befähigt werden, Musik im Rahmen ihres erzieherischen Auftrages einzusetzen, damit Musik zur ständigen Begleiterin des Alltages in Kindergarten und Grundschule werden kann. Bedarf und Interesse an musikalischer Arbeit in Kindertageseinrichtungen sind hoch - sowohl seitens der Kinder und Eltern als auch der Erzieher/innen.
Aus diesem Grund starteten der Landesverband niedersächsischer Musikschulen e.V., der Landesverband der Volkshochschulen Niedersachsens e.V. und die Bertelsmann Stiftung gemeinsam das Projekt "Kita macht Musik - Singen und Musizieren in Kindertageseinrichtungen". Grundidee ist es - ohne die Musikschulangebote selbst zu ersetzen - Erzieher/innen für Musik zu begeistern und sie im Umgang mit Musik zu stärken. In der täglichen Arbeit können sie dann den Kindern auf vielfältige Art und Weise Musik vermitteln und regen sie so zur eigenen Beschäftigung mit Musik an.
Mit all diesen Angeboten bieten die öffentlichen Musikschulen als Erfolgsmodell seit über 50 Jahren Chancengleichheit und Zugangsoffenheit für ein bundesweit gleichwertig qualitätvolles Angebot musikalisch-kultureller Bildung. Sie zeichnen sich damit auch als begehrter und verlässlicher Partner für Kindergärten und allgemeinbildende Schulen aus.
Literatur
Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag 2003 (korrigierter Nachdruck von 2002)
Spitzer, Manfred: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. Stuttgart, New York: Schattauer Verlag für Medizin und Naturwissenschaften 2003 (3. korrigierter Nachdruck der Erstauflage von 2002)
Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): Musikalische Grundausbildung. Lehrplanwerk. Kassel: Bosse Verlag 1991
Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.) : Musikalische Früherziehung. Lehrplanwerk. Kassel: Bosse Verlag 1994
Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): Empfehlungen zur Gestaltung des Früh-Instrumentalunterrichtes. Reihe: Arbeitshilfen des VdM. Bonn: VdM-Verlag 1999a
Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): Grundstufe an Musikschulen. Reihe: Arbeitshilfen des VdM. Bonn: VdM-Verlag 1999b
Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): Öffentliche Musikschulen sind Teil des deutschen Bildungssystems. Flyer. Bonn: VdM-Verlag 2002
Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): Musikalische Bildung von Anfang an. Faltblatt. Bonn: VdM-Verlag 2006
Zarius, Karl-Heinz (Hrsg.): Musikalische Früherziehung. Grundfragen und Grundlagen. Mainz: B. Schott's Söhne 1985