Martin R. Textor und Ingeborg Becker-Textor
Musik, Tanz und darstellendes Spiel sind so alt wie die Menschheitsgeschichte: Sie dürften schon immer für den Ausdruck von Emotionen, bei Riten und religiösen Zeremonien, bei Festen und Gebräuchen sowie zwecks Tradierung von Geschichten und historischen Ereignissen verwendet worden sein. Schon Höhlenmaler stellten tanzende Menschen dar; erste Musikinstrumente liegen aus der Altsteinzeit vor.
Musik und Tanz sind somit auch immer Teil des Lebens von Kleinkindern gewesen. Heute laufen in allen Familien Radio, MP3- und CD-Player, werden musikalisch untermalte Fernsehsendungen und Videofilme angeschaut, werden bei Shows und Wettbewerben wie "Deutschland sucht den Superstar" tanzende Menschen erlebt. Kleinkinder nehmen nicht nur die Musik bewusst wahr, sondern bewegen sich auch "automatisch" zu ihr. Sie tanzen gerne - auch mit Erwachsenen - und singen häufig vorgespielte Lieder mit, sobald sie die Sprache beherrschen.
Seit einigen Jahren werden in Kindertageseinrichtungen - mitbedingt durch falsch verstandene Bildungspläne - kognitive Inhalte überbetont. So kommen Musik und freier Tanz vielerorts zu kurz. Wird ihnen hingegen Bedeutung beigemessen, dann richtet sich der Fokus oft auf Aufführungen der Kinder und nicht auf die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, die sich für die Kinder auftun.
Musik und Tanz werden auch in der sozialpädagogischen Aus- und Fortbildung vernachlässigt. Fachkräfte singen mangels Übung nicht gut, kennen nur noch wenige Liedtexte auswendig, tanzen nicht (mehr). Wer kein Instrument spielen kann, stuft sich selbst als unmusikalisch ein. Perfektion wird überbewertet. Ein Teufelskreis beginnt, der die Hinführung von Kleinkindern zur Musik immer mehr behindert.
Um mit Kindern zu musizieren und zu tanzen, müssen aber Fachkräfte keine hervorragenden Instrumentalisten, Sänger oder Tänzer sein! Es genügen Interesse und einige Grundfertigkeiten - wobei es natürlich hilft, wenn man selbst entsprechende Aktivitäten liebt. Lässt man Kleinkinder an den eigenen Lieblingsliedern, -komponisten, -bands, -tänzen und -ballettstücken teilhaben, wird sie der eigene Enthusiasmus mitreißen und sie motivieren, sich damit intensiv zu befassen...
Musik in der Kindertageseinrichtung
Das (gemeinsame) Singen und Musizieren fördern nicht nur die Musikalität, sondern auch eine Vielzahl weiterer Kompetenzen - z.B. kognitive (Gedächtnis, Erkennen von Mustern und Sequenzen, Wahrnehmen von Unterschieden, Zählen, symbolisches Denken), emotionale (Empfinden, Gefühlsausdruck), motorische (Mund- und Handmotorik, rhythmische Bewegungen) und soziale (Gemeinschaftserleben, Abstimmung mit anderen, Kooperation) sowie die Sprachentwicklung (Wortschatz, phonologische Bewusstheit dank Reimen). Die musikalische Früherziehung ermöglicht Kindern das Experiment mit Tönen und Klängen. Nur wer weiß, wie z.B. Holz klingt, begreift, weshalb man dem Xylophon Töne entlocken kann. Alles in unserer Umwelt klingt. Kinder lieben es, dies zu entdecken und zu erproben, ebenso wie ihre eigenen Körperinstrumente.
Leider wird dieser Aspekt in der institutionalisierten musikalischen Früherziehung zu oft vernachlässigt. Der "Aufführungsdruck" und die Erwartung, dass Kinder Melodien fehlerfrei vorspielen können, ersticken die musikalische Entdeckerfreude der Kinder im Keim. Gleiches gilt auch für den Musikunterricht in den sozialpädagogischen Ausbildungsstätten. Die Phase vor dem Erlernen und Spielen eines Musikinstrumentes wird ausgeblendet.
Bei der frühkindlichen Musikerziehung müssen verschiedene Inhalte berücksichtigt werden: (1) Experimente mit der eigenen Stimme, den Körperinstrumenten und allen Dingen in unserer Umwelt, denen man Töne entlocken kann, (2) Singen von Wörtern, eigenen Texten und Liedern, das freie Spiel mit Musikinstrumenten bis zum Melodiespiel, (3) Kreieren von eigenen Liedern, von Hintergrundmusik und Liedbegleitung, (4) Reagieren auf Musik, Aufnahme der Rhythmen und Umsetzung in Bewegung sowie (5) Verstehen von Musik.
(1) Experimente mit der eigenen Stimme macht schon der Säugling. Häufig wird diese "Musik" von den Erwachsenen fehleingeschätzt. Sie meinen, das Kind wolle mit ihnen Kontakt aufnehmen. Dabei lauscht es nur auf seine eigene Lautproduktion und wagt erste Klangvariationen. Wenig später entdeckt das Kind, dass es über verschiedene "Instrumente" verfügt, und beginnt, diese zum Einsatz zu bringen: Klatschen, Stampfen, mit der Zunge Schnalzen, Brummen, Pfeifen usw. Hält es die hohle Hand quasi als Resonanzkörper vor den Mund, so werden Töne abgeschwächt, klingen dumpfer. Eine wachsame Mutter oder Erzieherin kann diese erste "Instrumentalmusik" aufgreifen und sie beispielsweise zur Untermalung eines Silbenspieles oder Liedes einsetzen.
(2) Singen und Musikinstrumente spielen: Kleinkinder lernen, ihre Stimme beim Sprechen und Singen expressiv zu verwenden und in einer Gruppe zu singen. Sie entwickeln vielfältige Lautmalereien bis hin zu richtigen Lautgeschichten. Mit den Fachkräften singen sie verschiedene Lieder mit unterschiedlichen Charakteristika hinsichtlich Tonlage, Rhythmus usw. Meist hören sie erst zu und beginnen dann mitzusingen.
Erste Musikinstrumente (z.B. Rassel, Trommel, Glockenbänder, Xylophon) werden den Kindern zur Verfügung gestellt und diese in deren Verwendung eingeführt. Die Kinder können dann mit ihnen frei experimentieren. Mit Spannung lauschen sie den Klängen. Versehentlich berühren sie einen Klangstab und erschrecken, dass sie den Ton mit der Hand praktisch bremsen können.
Viele Erfahrungen gilt es für die Kinder zu sammeln, bevor sie beginnen, einfache Melodien auf Musikinstrumenten zu spielen. Das Gehör ist ihnen ein guter Wegweiser, wenn sie versuchen, eins der ihnen bekannten Lieder auf dem Glockenspiel oder Xylophon zu spielen. So entwickeln sie ihre eigene Begleitmusik zu Liedern.
Kleinkinder können noch keine Noten lesen, aber einfache Formen der Notation entwickeln oder verwenden. So können sie Melodien durch verschiedene Objekte (Bauklötzchen, Legosteine), Farben oder Symbole "in eine Reihe bringen". Für Klatschen wählen sie die Kontur einer Hand, für Stampfen einen Fuß, für den Einsatz von Klanghölzern ein Kreuz usw. Die Fantasie der Kinder kennt hier kaum Grenzen. Auf der Basis solcher "Vornotationen" ist es dann nicht schwierig, langsam zur Notation hinzuführen.
(3) Musik schaffen: Kleinkinder brauchen nur wenig Anleitung, um Lieder oder Tonfolgen zu (Bilderbuch-) Geschichten und Märchen oder zur Begleitung bestimmter Aktivitäten selbständig "zu komponieren". Sie können ihre Notations-Objekte in beliebige Reihenfolgen bringen und diese dann z.B. auf einem Xylophon (oder auf einem anderen Instrument) abspielen. Bald erkennen sie, welche Klangfolgen harmonisch sind. Auch können Rhythmus und Lautstärke variiert werden. Kleinere Kinder können aufgefordert werden, Gemütszustände (z.B. Wut, Freude) mit Hilfe von Musikinstrumenten darzustellen.
(4) Auf Musik reagieren: Wenn Kinder Musik hören, beginnen sie zu agieren. Sie klatschen, machen rhythmische Bewegungen oder tanzen ganz spontan. Sie reagieren auf Musikstücke oder drücken durch diese hervorgerufene Gefühle aus. Musik kann aufwühlen, aber auch beruhigen.
Schon Babys zeigen, welche Musik sie mögen und welche nicht. Ein- bis Zweijährige lieben es, wenn ihre Arme und Beine zu Musik bewegt werden oder wenn die Erzieherin (Mutter) ihnen immer wieder selbst komponierte Lieder vorsingt: "Wer liebt die kleine Anna? Mutti und Vati. Wer liebt die kleine Anna? Ihr großer Bruder Markus. Wer liebt die kleine Anna? Alle Kinder in der Gruppe". Sie mögen es, wenn ihnen zur Begrüßung, vor dem Einschlafen oder zum Abschied ein Lied vorgesungen wird oder wenn man sie hochhebt und sich mit ihnen rhythmisch zur Musik bewegt. Dadurch wird auch die Erzieherin-Kind-Beziehung gestärkt.
(5) Musik verstehen: Kleinkinder lernen, wie verschiedene Musikinstrumente heißen und welche Töne mit ihnen erzeugt werden können (was z.B. an Sergei Prokofjews Geschichte "Peter und der Wolf" verdeutlicht werden kann). Und bald interessieren sich die Kinder auch für die Notenschrift - dass Töne durch eigene Zeichen dargestellt werden. Die Fachkräfte zeigen ihnen Notenblätter und vermitteln ihnen ein grundlegendes Fachvokabular (z.B. Begriffe wie ganze, halbe und viertel Note, Takt, Tempo, Tonstärke). Sie spielen ihnen Musikstücke aus unterschiedlichen Kulturen, aus verschiedenen Musikrichtungen (z.B. Klassik, Jazz, Chor-, Volks-, Rock- und Popmusik, Oper, Operette, Musical) sowie von verschiedenen Komponisten vor und sprechen mit ihnen über die Unterschiede. Ferner reden sie mit den Kindern über Gefühle, die durch die jeweilige Musik hervorgerufen wurden. Schließlich wird über die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten von Musik gesprochen (zur Unterhaltung, als Begleitmusik zu Filmen, zum Tanzen, in Messe bzw. Gottesdienst).
In einer Kita bieten sich viele Gelegenheiten, auch die Familien der Kinder einzubinden: Wenn Eltern ein bestimmtes Musikinstrument spielen, können sie nacheinander an verschiedenen Tagen in die Kindertageseinrichtung eingeladen werden, um den Kindern das Instrument vorzustellen und auf ihm vorzuspielen. Die Kinder werden viele Fragen zum Musikinstrument haben und möchten es möglichst selbst erproben. Vielleicht können die Eltern auch ein Lied begleiten, das von den Kindern gesungen wird. Wird mit den Kindern ein Ausschnitt von einer CD angehört, in dem mit dem jeweiligen Musikinstrument ein Solo mit Orchesterbegleitung gespielt wird, erleben die Kinder, wie sich Gesang und Instrumentalmusik zu einem Ganzen zusammenfügen können.
Familien mit Migrationshintergrund können die Vielfalt der Musik aus ihrem Herkunftsland - typische Lieder, Tänze und Musikinstrumente - den Kindern vorstellen. So machen die Kinder nicht nur interkulturelle Erfahrungen, sondern die Migranteneltern erfahren auch Wertschätzung ihrer Kultur. So kann Musik ein wichtiger Beitrag zur Integration werden.
In der Kindertageseinrichtung tanzen
Tanzen fördert Muskelaufbau, Grobmotorik, Gelenkigkeit, Körperbeherrschung, Balance und die Koordination von Bewegungen sowie das soziale Miteinander der Kinder. Die Raumwahrnehmung wird sensibilisiert, der Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und aktueller Gefühle gestärkt. Durch Tanzen können sich Kinder erst einmal "austoben", bevor ein Bildungsangebot gemacht wird, das Ruhe und Konzentration verlangt. Tanz ist auch ein gutes Bewegungsangebot, wenn wegen schlechten Wetters das Außengelände nicht genutzt werden kann. Es ist kein Mehrzweck- bzw. Turnraum nötig - der Gruppenraum reicht aus. Eventuell muss eine größere Fläche freigeräumt werden, man kann sich mit der Tanzform aber auch am vorhandenen Raum ausrichten. Ein gemeinsam zu lernender Tanz ist aber auch ein Bildungsangebot.
Es wäre schön, würde in Kindertageseinrichtungen häufig getanzt werden - mit oder ohne Musik. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten:
- Beim freien Tanzen können Kinder ihre Kreativität ausleben: Sie saugen die Musik quasi auf und lassen sie in ihren Bewegungen wieder frei. Sie tanzen einfach so, wie sie wollen oder fühlen. Auch ein Thema kann Anregungen für den tänzerischen Ausdruck geben: "Wir tanzen in den Frühling" oder "Wir tanzen wie die Regentropfen".
- Beim gelenkten Tanzen ahmen die Kinder Bewegungen nach: Entweder zeigt die Erzieherin ihnen beliebige Bewegungen bzw. benennt sie verbal oder die Bewegungsmuster sind z.B. durch einen Volkstanz vorgegeben.
Auch beim Erlernen von klassischen Tänzen und Volkstänzen bietet es sich an, Eltern oder Mitglieder von Vereinen einzubinden. Migrant/innen führen Kinder in Tänze aus fremden Ländern ein. Selbst wenn Tänze so kompliziert sind, dass sie von Kleinkindern nicht nachgetanzt werden können, ist es für sie interessant, wenn Eltern sie vorführen.
Eine Hilfe kann es für Kinder sein, wenn man ihnen zum Tanzen eine Auswahl von Chiffontüchern (oder anderer fließender Stoffe) zu Verfügung stellt. Sie halten sich regelrecht daran fest und sind voll konzentriert auf die Bewegungen ihres Tuches zur Musik.
Eine Steigerung wäre noch der Schattentanz. Tanzen Kinder vor einer beleuchteten Wand, so richtet sich ihre volle Konzentration auf den eigenen Schattenriss. Selbst die Finger werden einzeln bewegt. Und auch hier lassen sich Tücher einsetzen. Durch ihre Lichtdurchlässigkeit sind ihre bewegten Schatten wirkliche Kunstwerke. Allerdings muss man den Kindern Zeit lassen. Ruhige, tragende Musik ist als Tanzmusik besonders zu empfehlen. Die Kinder vergessen die Welt um sich herum, gelangen zu innerer Ausgeglichenheit und erreichen ein Höchstmaß an Konzentration.
Musik und Tanz paaren sich zum Wohle der Kinder - außerhalb aller formulierten Bildungsanforderungen und Ziele der Förderprogramme. Glücklicherweise ist der Erfolg mit bisher entwickelten Testinstrumenten nicht messbar.
"Tanzen ist wie Singen mit dem Körper" (unbekannter Autor).